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Der verstorbene General Dragomirow schrieb einmal in einem Privatbriefe über den Minister des Innern Sipjagin: „Was er für eine innere Politik hat? Er ist einfach ein General und ein Narr“ Diese Charakteristik ist eine so treffende, dass man ihr diemanierierte, soldateske Grobheit nachsehen kann. Nach Sipjagin sahen wir an demselben Platz Plehwe, dann Fürst Swjatopolsk-Mirski, dann Bulygin, dann Witte-Durnowo. Die einen unterschieden sich von Sipjagin nur dadurch dass sie keine Generale, die anderen dadurch, dass sie in ihrer Art und in gewissem Sinne kluge Leute waren. Sie alle aber verließen den Schauplatz ihrer Tätigkeit, indem sie Verwirrung oben, Hass und Verachtung unten zurückließen. Ein General von zweifelhaftem Verstande oder ein Spitzel von Beruf, ein wohlwollend-stumpfsinniger Grandseigneur oder ein des Gewissens und der Ehre beraubter Börsenspekulant, sie alle traten mit der festen Absicht auf, der Revolution den Garaus zumachen, das verloren gegangene Prestige der Regierungsgewalt aufzurichten, die Grundlagen des bestehenden Regimes zu wahren und alle – jeder in seiner Art – öffneten die Schleusen der Revolution und wurden von ihrem Strome selber fortgerissen. Die Revolution entwickelte sich mit machtvoller Planmäßigkeit, sie erweiterte unausgesetzt ihren Schauplatz, befestigte die eroberten Punkte und riss ein Hindernis nach dem anderen fort. Auf dem Hintergründe dieses großangelegten Schauspiels mit seinem inneren Rhythmus, seiner unbewussten Genialität erscheinen nun die kleinen, spielenden Menschlein, machen Gesetze und neue Schulden, lassen auf die Arbeiter schießen,plündern die Bauern und bringen schließlich die von ihnen in Schutz genommene Regierungsgewalt in eine immer ohnmächtigere Raserei.
In der Atmosphäre von Kanzlei-Verschwörungen und Departements-Intrigen aufgewachsen, wo freche Unwissenheit mit gewissenloser Hinterlist rivalisiert, ohne eine Vorstellung von dem Gange und dem Sinne der zeitgenössischen Geschichte, von der Massenbewegung, von der Gesetzmäßigkeit der Revolution, mit zwei oder drei winzigen, leitenden Gedanken zur Instruktion der Pariser Börsenmakler, bemühen sich diese Leute mit zunehmender Heftigkeit, die ihnen eigene Handlungsweise der Favoriten des achtzehnten Jahrhunderts mit den Allüren von „Staatsmännern“ des parlamentarischen Westens zu vereinigen. In niedriger Kriecherei beruhigen sie die Zeitungskorrespondenten des an der Börse interessierten Europa. Sie entwickeln diesen ihre „Pläne“ und „Absichten“, ihr „Programm“, und jeder von ihnen gibt der Hoffnung Ausdruck dass es ihm schließlich gelingen werde, die Aufgaben zu lösen, an denen die Bemühungen seiner Vorgänger machtlos zerschellten. Wenn es nur gelänge, vor allem die „Unruhe“ zu beschwichtigen! Sie fangen auf verschiedene Weise an, aber alle enden mit dem Befehle, der Revolution geradeaus in die Brut zu schießen. Zum Entsetzen dieser Leute ist sie unsterblich! ... Sie aber beschließen mit einem schmählichen Krach ihre Laufbahn, und wenn nicht der wohl gezielte Schlag eines Terroristen sie von ihrer elenden Existenz befreit, sind sie dazu verurteilt, ihren Fall zu überleben und zusehen, wie die Revolution in ihrer elementaren Genialität gerade die Pläne und Absichten der „Staatsmänner“ für ihre Siege ausnutzt.
Sipjagin wurde durch eine Revolverkugel getötet, Plehwe wurde durch eine Bombe in Stücke gerissen. Swjatopolk-Mirski war am 22. Januar eine Leiche. Bulygin hat der Oktoberstreik wie einen alten Plunder beiseite geschleudert. Graf Witte fiel ruhmlos, durch die Arbeiter- und Militäraufstände völlig erschöpft, von der von ihm selbst geschaffenen Duma niedergestoßen ...
In gewissen oppositionellen Kreisen, insbesondere unter den liberalen Semstwovertretern und der demokratisch gesinnten Intelligenz wurden jedes Mal, wenn die Ministergestalten einander ablösten, unbestimmte Hoffnungen, Erwartungen und Pläne wach. Für die Agitation der liberalen Presse, für die Politik der konstitutionellen Grundbesitzer war es wirklich nicht einerlei, ob der alte Polizeiwolf Plehwe oder der Minister des „Vertrauens“ Swjatopolk-Mirski am Ruder stand, freilich war Plehwe gegenüber der Revolution im Volke ebenso ohnmächtig wie sein Nachfolger. Für die Herrschaft der liberalen Zeitungsmänner und der Semstwoverschwörer aber war er eine Geißel. Er hasste die Revolution mit dem wahnsinnigen Hasse eines alt gewordenen Spitzels, dem von jedem Winkel aus eine Bombe droht. Mit blutunterlaufenen Augen verfolgte er die Revolution. Vergebens! ... Da übertrug er seinen ungestillten Hass auf die Professoren, die Semstwomänner, die Journalisten, in denen er offen zu Werke gehende „Inspiratoren“ der Revolution sah. Er brachte die liberale Presse auf die letzte Stufe der Erniedrigung, er behandelte die Journalisten en canaille, ließ sie kommen um sie einzusperren. Mit den gemäßigten Mitgliedern der landwirtschaftlichen Komitees, die sich auf Wittes Anregung hin organisiert hatten, ging er so vor, als ob sie lärmende Studenten wären und nicht „achtbare“ Semstwomänner. Und er erreichte sein Ziel: die liberale Gesellschaft zitterte vor ihm und hasste ihn mit dem versteckten Hasse der Ohnmacht. Viele liberale Pharisäer, die nicht müde wurden, „die Gewalt von links“ ebenso zu tadeln, wie „die Gewalt von rechts“, begrüßten die Bombe des 28. Juni als eine Abgesandte des Himmels.
Plehwe war den Liberalen verhasst und furchtbar, für die
Revolution aber war er weder schlechter, noch besser, als irgend ein
anderer. Die Bewegung der Massen ignorierte naturgemäß die
Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Konnte es ihr nun nicht
gleichgültig sein, ob diese Grenze ein wenig enger oder ein
wenig weiter gezogen war?
Die offiziellen Lobredner der Reaktion bemühten sich, das Regiment Plehwe wenn nicht als eine Zeit allgemeinen Glückes, so doch als eine Zeit der allgemeinen Ruhe darzustellen. In Wirklichkeit aber war der Zeitregent nicht imstande, auch nur polizeiliche Stille zu schaffen. Kaum auf seinen Posten gelangt, hatte Plehwe mit dem rechtgläubigen Eifer eines doppelt Umgetauften gerade die Absicht, die Heiligtümer der Lawra [A] zu besuchen, als er gezwungen wurde, sich eiligst nach dem Süden zu begeben, wo in den Gouvernements Charkow und Poltawa weit um sich greifende Agrarunruhen ausgebrochen waren. Die partiellen Bauernaufstände hörten in der Folge gar nicht mehr auf. Der berühmte Streik in Rostow im November 1902 und die Junitage des Jahres 1903 in allen südlichen Industriebezirken waren die Vorläufer aller späteren proletarischen Massenaufstände. Die Straßendemonstrationen dauerten ununterbrochen fort und die Diskussionen und Beschlüsse der Komitees in Betreff des Notstandes der Landwirtschaft waren die Ouvertüre für die darauffolgende Semstwo-Kampagne. Die Hochschulen waren schon vor Plehwe zu Stätten stürmisch auflodernder, politischer Unruhe geworden und blieben es auch lange Zeit hindurch. Zwei Petersburger Kongresse im Jahre 1905, der Techniker- und der Pirogowkongress, waren Schauplätze für das Vorpostengefecht seitens der demokratischen Intelligenz. So war das Vorspiel des sozialen „Frühlings“ schon zur Zeit Plehwes aufgeführt worden. Tolle Unterdrückungsmaßregeln, Einkerkerungen, Verhöre, Haussuchungen, Verbannungen, die den Terror provozierten, konnten dennoch letzten Endes nicht einmal die Mobilmachung der liberalen Gesellschaft verhindern. Das letzte Halbjahr der Regierung Plehwe fiel mit dem Beginn des Krieges zusammen. Die Revolution war still geworden, richtiger gesagt, sie zog sich zurück.
Von der Stimmung in den Kreisen der Bürokratie und in der besten Petersburger Gesellschaft während der ersten Monate des Krieges mit Japan gibt das Buch des Wiener Journalisten Hugo Ganz, „Vor der Katastrophe“, eine gewisse Vorstellung. Die herrschende Stimmung war Verwirrung, die hart an Verzweiflung grenzte. „So kann es nicht weiter gehen!“ Wo ist ein Ausweg? Niemand weiß es: weder die abgesetzten Würdenträger, noch die berühmten liberalen Advokaten, noch die ebenso berühmten liberalen Journalisten. „Die Gesellschaft ist völlig machtlos. An eine revolutionäre Bewegung des Volkes ist gar nicht zu denken. Wenn sich dieses auch erheben würde, es würde sich nicht gegen die herrschende Macht wenden. Sondern gegen die Herren überhaupt.“ Wo ist Hoffnung auf Rettung? Hugo Ganz, der während der ersten drei Monate des Krieges in Petersburg lebte, berichtet, dass das allgemeine Stoßgebet nicht nur der gemäßigten Liberalen, sondern auch vieler Konservativer lautete: „Gott, hilf uns, dass wir geschlagen werden.“ Dies hinderte natürlich die liberale Gesellschaft nicht, den offiziellen Patriotismus mitzumachen. In zahllosen Adressen beteuerten die Semstwos sowie die Gemeindevertretungen, alle ohne Ausnahme, dem Throne ihre treue Ergebenheit und verpflichteten sich, Gut und Blut zu opfern – sie wussten, dass es nicht dazu kommen werde! – für die Ehre und die Macht des zarischen Russland. Und den tapferen und charaktervollen Beteuerungen der Semstwos und Gemeindevertretungen schlossen sich die Professorenkollegien würdig an.
Das ist nicht politische Ungeschicklichkeit, nicht politischer Unverstand, – das ist eine Taktik, der ein einziges Prinzip zugrunde liegt: Annäherung an die Regierung um jeden Preis! Ein Bestreben, dem Absolutismus die Seelenqualen der Aussöhnung mit dem unvermeidlichen Liberalismus zu erleichtern. Er will die Regierung nicht besiegen, er will Sie nur ködern, ihre Anerkennung, ihr Vertrauen verdienen, sich unentbehrlich machen. Eine Taktik, die so alt ist wie der russische Liberalismus und die durch die Jahre weder besser noch würdiger geworden ist!
So hat die liberale Opposition vom Beginne des Krieges an alles
getan, um die Situation zu verderben. Die revolutionäre Logik
der Ereignisse kannte keinen Stillstand. Die Flotte von Port Arthur
wurde geschlagen, Admiral Makarow ging zugrunde, der Krieg wurde auf
das Land getragen, – Falu, Kingtschau, Wifongo, Loajan, Schache
– alles Namen für eine und dieselbe selbstherrliche
Schmach. Die Lage der Regierung wurde schwierig wie nie vorher, und
die Demoralisation in den Reihen der Regierungsmänner machte
eine konsequente und zielbewusste innere Politik unmöglich.
Schwankungen, Vergleichs- und Friedensversuche waren unvermeidlich.
Der Tod Plehwes gab einen willkommenen Anlass zur Änderung des
Kurses.
Den „Frühling“ [B] der Regierung erblühen zu lassen, war der frühere Chef des Gendarmeriekorps, Fürst Swjatopolk-Mirski, berufen worden. Warum? Er selbst wäre der letzte gewesen, seine Ernennung erklären zu können.
Die politische Physiognomie dieses Staatsmannes hebt sich am besten ab in seinen programmatischen Interviews mit ausländischen Korrespondenten.
Was die Ansicht des Fürsten in Bezug auf die öffentliche Meinung sei, fragt ein Mitarbeiter des „Echo de Paris“, Russland brauche jetzt verantwortliche Minister.
Der Fürst lächelt:
„Jede Verantwortung würde eine künstliche und nur eine dem Namen nach bestehende sein.“
„Wie stellen Sie sich, Fürst, zu den konstitutionellen Fragen?“
„Ich bin ein Feind von religiösen Verfolgungen, jedoch mit einigem Vorbehalt ...“
„Ist es wahr, dass Sie geneigt sind, den Juden mehr Freiheiten einzuräumen?“
„Mit Güte kann man gute Resultate erzielen.“
„Im Allgemeinen, Herr Minister, erklären Sie sich als einen Anhänger des Fortschritts?“
Antwort: „Der Minister hat die Absicht, seine Tätigkeit dem Geiste des wahren und weiten Fortschritts“ anzupassen, wenigstens soweit dieser mit der bestehenden Ordnung der Dinge nicht in Widerspruch steht.“ Buchstäblich so war die Antwort!
Der Fürst selbst nahm übrigens sein Programm nicht ernst. Gewiss, die „nächstliegende Aufgabe ist das Wohl der Bevölkerung, das unserer Fürsorge anvertraut ist“, – er gestand jedoch dem amerikanischen Korrespondenten Tomson, dass er es eigentlich noch nicht wisse, welchen Gebrauch er von seiner Macht machen werde.
„Es wäre falsch“, sagte der Minister, „wenn ich sagen wollte, dass ich schon jetzt ein bestimmtes Programm habe. Die Agrarfrage? Ja, ja, es existiert ein ungeheures Material über diese Frage, aber ich kenne es nur aus den Zeitungen.“
Der Fürst beruhigte Peterhof, tröstete die Liberalen und gab den ausländischen Korrespondenten Versicherungen, die seinem guten Herzen alle Ehre machten, sein staatsmännisches Genie aber hoffnungslos diskreditierten.
Und diese hilflose, adelige Figur mit den Generalsbändern des
Gendarmeriestabes erschien nicht nur in dem Gehirne Nikolaus&rsquo:,
sondern auch in der Vorstellung der Liberalen berufen, die
Jahrhunderte alten Fesseln zu lösen, die sich in den Körper
des großen, unglücklichen Landes tief eingegraben
hatten!
Es hatte den Anschein, als ob alle den Taten des Fürsten Swjatopolk-Mirski mit Entzücken entgegensahen; an Vorschusslorbeeren war kein Mangel. Fürst Meschtscherski, Redakteur des reaktionären Graschdanin, schrieb, es sei ein Fest angebrochen für die „ungeheure Familie der ordentlichen Menschen in Russland“, denn ein „ideal ordentlicher Mensch“ sei endlich auf den Ministerposten berufen worden. „Unabhängigkeit ist dem Edelmute nahe verwandt“. So schrieb der alte Suworin, „Edelmut aber brauchen wir dringend“. Fürst Uchtomski machte in den Petersburgskija Wjedomosti darauf aufmerksam, dass der neue Minister „einem uralten Fürstengeschlechte entstamme, das über Monomach bis auf Rurik zurückreiche“.
Die Wiener Neue Freie Presse konstatiert an dem Fürsten mit Vergnügen die Haupteigenschaften. „Humanität, Gerechtigkeit, Objektivität, Sympathie für die Aufklärung“. Die Birschewija Wjedomosti erinnern daran, dass der Fürst erst 47 Jahre alt sei, folglich noch nicht Zeit gehabt habe, von der bürokratischen Routine durchseucht zu werden.
In Versen und in Prosa hallte es im ganzen heiligen Russland wieder, wie fest „wir geschlafen hatten“ und wie uns der ehemalige Kommandeur des Gendarmeriekorps durch eine liberale Geste aufgeweckt und wie er uns die Wege gezeigt hat zu einer „Annäherung zwischen Volk und Regierung“. Wenn man alle diese Ergüsse liest, so wird man die Empfindung nicht los, dass man Dummheit von zwanzig Atmosphären Druck atme!
Nur die äußerste Rechte blieb kalt inmitten dieses „Bacchanals liberalen Entzückens“. Die Moskowskija Wjedomosti mahnten den Fürsten schonungslos daran, dass er zugleich mit dem Portefeuille Plehwes auch seine Aufgaben übernommen habe. „Wenn unsere inneren Feinde in den Geheimdruckereien, in den verschiedenen sozialen Organisationen, in der Schule, in der Presse, auf der Straße mit der Bombe in der Hand, frech das Haupt erheben und daran sind, unser inneres Port Arthur zu stürmen, so ist dies nur darum möglich, weil sie auch die Gesellschaft und einen gewissen Teil der herrschenden Kreise unsicher machen mit den völlig falschen Theorien von der Notwendigkeit, die sichersten Stützen des Russischen Reiches, die Selbstherrschaft seines Zaren, die Orthodoxie seiner Kirche und das nationale Bewusstsein seines Volkes zu beseitigen.
Fürst Swjatopolk-Mirski versuchte den Mittelweg einzuschlagen: ein durch Gesetzlichkeit gemilderter Absolutismus, eine Bürokratie auf gesellschaftliche Kräfte gestützt. Die Nowoje Wremja, die den Fürsten unterstützte, weil er am Ruder war, übernahm in offiziöser Weise die Aufgabe der politischen Kuppelei: es gab ja gerade eine günstliche Gelegenheit.
Der Minister, dessen Wohlwollen bei der Kamarilla, die Nikolaus gängelte, keinen entsprechenden Anklang fand, machte einen schüchternen Versuch, sich auf die Semstwomänner zu stützen. Es war für diesen Zweck in Aussicht genommen worden, den geplanten Zusammentritt der Semstwovertreter zu benutzen. Die Nowoje Wremja forderte die Semstwomänner auf, von links her einen vorsichtigen Druck auszuüben.
Aber die Erregung, die sich der Gesellschaft bemächtigt
hatte, und die gehobene Stimmung der Presse riefen immer größere
Befürchtungen hinsichtlich des Ausganges der Semstwoberatung
wach. Am 13. November bläst die Nowoje Wremja schon
entschieden zum Rückzuge. „So interessant und belehrend
auch die Beschlüsse sein werden, zu denen die Mitglieder der
Semstwoberatung gelangen, so darf doch nicht vergessen werden, dass
diese infolge ihrer Zusammensetzung und ihres Einladungsmodus ganz
mit Recht offiziell als eine private angesehen wird, dass ihre
Beschlüsse eine nur akademische Bedeutung haben und eine nur
moralische Verpflichtung in sich tragen.“ Zu guter Letzt wurde
die Semstwoberatung, die von dem „fortschrittlichen“ Minister
zu seinem Stützpunkt auserkoren war, von ihm selbst verboten,
und sie versammelte sich auf halb legitime Weise in einer
Privatwohnung.
Hundert bekanntere Semstwomänner formulierten in der Zeit zwischen dem 19. und 21. Oktober 1904 mit einer Stimmenmehrheit von siebzig gegen dreißig die Forderungen der öffentlichen Freiheit, der Unantastbarkeit der Person und der Volksvertretung zwecks Anteilnahme an der gesetzgebenden Gewalt, – ohne jedoch das schauerlich-heilige Wort Konstitution auszusprechen.
Die europäische Presse blieb vor dieser taktvollen Zurückhaltung der Semstwoerklärung voller Hochachtung stehen: die Liberalen hatten es verstanden, auszusprechen, was sie wollten, ohne jedoch Worte zu gebrauchen, die es dem Fürsten Swjatopolk-Mirski unmöglich machen könnten, die Beschlüsse der Semstwomänner zu den seinigen zu machen.
Dies ist eine völlig zutreffende Erklärung der Verschweigungstaktik der Semstwomänner. Während sie ihre Forderungen formulierten, hatten sie ausschließlich die Regierung im Auge, mit der sie zu einer Vereinbarung gelangen wollten und nicht die Masse des Volkes, an die sie etwa hätten appellieren können.
Sie hatten die Punkte eines politischen Handelskompromisses ausgearbeitet, nicht aber Losungsworte für eine freiheitliche Propaganda. Sie blieben dabei nur sich selbst treu. „Die Gesellschaft hat das ihrige getan, nun ist die Reihe an der Regierung!“ so rief die Presse herausfordernd und kriecherisch zugleich. Die Regierung des Fürsten Swjatopolk-Mirski nahm diese „Herausforderung“ an und gab dem liberalen Prawo wegen eben dieser schmeichelnden Herausforderung eine Verwarnung. Es wurde den Zeitungen verboten, die Resolutionen der Semstwoberatung zu drucken und zur Diskussion zu bringen. Die bescheidene und demutvolle Petition der Semstmo Tschernigow wurde für „frech und taktlos“ erklärt. Der Regierungsfrühling ging seinem Ende entgegen, der Frühling des Liberalismus begann.
Die Semstwoberatung hatte der oppositionellen Stimmung der „gebildeten Gesellschaft“ ein Ventil geöffnet. Der Kongress bestand zwar nicht aus offiziellen Vertretern aller Semstwos, aber es waren Vorsitzende der Ämter dabei und viele „autoritäre“ Männer, denen schon ihre träge Lauheit Gewicht und Bedeutung verlieh. Der Kongress war auch nicht von der Bürokratie legalisiert worden, aber diese wusste ja, dass er stattfand – was Wunder, wenn die Intelligenz, durch die Repressalien bis aufs Äußerste eingeschüchtert, nun glaubte, dass ihre geheimsten konstitutionellen Wünsche, die verborgensten Gedanken ihrer schlaflosen Nächte jetzt, dank den Resolutionen dieses halb offiziellen Kongresses, eine halb legitime Sanktion erhalten hatten. Nichts aber war imstande, der in der Klemme befindlichen liberalen Gesellschaft solchen Mut zu verleihen, als das wenn auch schattenhafte Bewusstsein, dass sie mit ihren Wünschen auf dem Boden des Rechtes stehe. Es begann nun die Ära der Bankette, Resolutionen, Deklarationen, Proteste, Episteln und Petitionen. Alle möglichen Korporationen und Versammlungen gingen von ihren fachlichen Bedürfnissen aus, von den lokalen Ereignissen, von Jubiläumsfeierlichkeiten, um zu der Formulierung konstitutioneller Forderungen zu gelangen, wie sie in den nunmehr berühmten „Punkten“ der Resolution der Semstwoberatung vorlagen. Die Demokratie eilte um die Semstwokoryphäen einen Chorus zu bilden, um die Wichtigkeit der Semstwobeschlüsse zu unterstreichen und ihre Einwirkung auf die Bürokratie zu verstärken! Die ganze politische Aufgabe dieses Zeitmomentes lief für die liberale Gesellschaft darauf hinaus, gedeckt durch den Rücken der Semstwomänner, einen Druck auf die Regierung auszuüben. In der ersten Zeit gewann es den Anschein, als ob die Resolutionen als solche imstande wären, die Bürokratie in die Luft zu sprengen wie eine Mine Whiteheads. Aber das traf nicht zu. Es begannen sich sowohl diejenigen an die Resolutionen zu gewöhnen, die sie verfasst hatten, als auch diejenigen, gegen die sie verfasst wurden. Die Presse, die von dem „Ministerium des inneren Vertrauens“ immer ärger gewürgt wurde, äußerte sich ohne jeweiligen Grund in einem immer gereizteren Tone ... Zu gleicher Zeit beginnt eine Gliederung der Opposition. Auf den Banketten treten immer häufiger unruhige, radikale Gestalten mit eckigen, intoleranten Manieren auf, einmal sind es Intelligente, ein andermal Arbeiter. Sie greifen die Semstwomänner scharf an und fordern von der Intelligenz Klarheit der Losungsworte und Bestimmtheit der Taktik. Man winkt ihnen zu, ruhig zu sein, man sucht sie friedlich zu stimmen, man schmeichelt ihnen, man schilt sie, man stopft ihnen mit Redensarten den Mund, man sucht sie einzulullen, abzukühlen, – endlich jagt man sie hinaus. Aber die aus dem Tempel Hinausgeworfenen erfüllen ihre Aufgabe, indem sie die linksstehenden Elemente der Intelligenz auf den revolutionären Weg bringen. Während nun der rechte Finger der „Gesellschaft“, materiell oder ideologisch an den Zensusliberalismus gebunden, sich der Aufgabe hingab, die Mäßigkeit und Loyalität des Semstwokongresses zu beweisen und an die staatsmännische Vernunft des Fürsten Swjatopolk zu appellieren, schloss sich die radikal gesinnte Intelligenz, hauptsächlich die studierende Jugend, der Novemberkampagne an, um sie aus ihrem flachen Strombette hinauszuführen, um ihr einen kampfesfreudigeren Charakter zu verleihen, um sie mit der revolutionären Bewegung der städtischen Arbeiter zu vereinigen. Auf diese Weise entstanden zwei Straßendemonstrationen: die Petersburger vom 10. Dezember und die Moskauer vom 18. und 19. Dezember Diese Demonstrationen der radikalen „Kinder“ war die unvermeidliche Folgerung aus der Parole, die die liberalen „Väter“ in den Vordergrund gestellt hatten: hatte man einmal den Mut gefunden, eine konstitutionelle Verfassung zu fordern, so sollte man sich auch für den Kampf entschließen. Aber die Väter zeigten keineswegs Neigung zu solcher Konsequenz ihres politischen Denkens. Im Gegenteil, sie fürchteten vor allem, das zarte Spinngewebe des Vertrauens könnte durch allzu große Hast und Energie reißen. Die „Väter“ unterstützten die „Kinder“ nicht, sie lieferten sie auf Tod und Leben den Kosaken und Gendarmen des liberalen Fürsten aus.
Die Studentenschaft fand aber in ihrem Vorgehen auch in der Masse der Arbeiter keine Unterstützung. Hier trat es zutage, welch einen beschränkten Charakter die Kampagne der Bankette vom November und Dezember 1903 [sic!] im Grunde genommen hatte. Das Proletariat schloss sich ihr nurals eine ganz dünne Schicht seiner Aristokratie an, und die „wirklichen Arbeiter“, deren Erscheinen gemischte Gefühle von feindseliger Furcht und Neugierde hervorrief, waren während dieser Periode auf den Banketts nur vereinzelte Erscheinungen jenes tiefen, inneren Prozesses, der zu dieser Zeit in dem Bewusstsein der Volksmassen selbst stattfand, und der sich natürlich dem rasch erklärten Angriffe der revolutionären Studentenschaft nicht anpassen konnte. So war die studierende Jugend zu guter Letzt fast ausschließlich auf sich selbst gestellt.
Nichtsdestoweniger machten diese Demonstrationen, nach der langen
politischen Stille, die der Krieg verursacht hatte, bei der
kritischen inneren Lage, bedingt durch die zerschmetternden
Kriegsniederlagen, – weil ausgesprochen politischer
Natur und weil sie in den Hauptstädten stattfanden und mittels
des Telegraphen in der ganzen Weit widerhallten, eine weit größeren
Eindruck auf die Regierung als alle die weisen Ratschläge der
liberalen Presse ... Die Regierung wurde wachgerüttelt und
beeilte sich nun, zielbewusst zu handeln.
Auf den konstitutionellen Feldzug, der damit begonnen hatte, dass ein paar Dutzend Semstwomänner in der herrschaftlichen Wohnung Korsakows zusammengekommen waren, und der damit endete, dass man einige Dutzend Studenten in den Polizeigefängnissen von Petersburg und Moskau internierte, antwortete die Regierung auf zweierlei Weise: mit einem „Ukas“ für Reformen und mit einer polizeilichen „Mitteilung“. Der allerhöchste Ukas vom 25. Dezember 1904, der die beste Frucht der Frühlingspolitik des „Vertrauens“ bleiben sollte, sieht als die unabänderliche Bedingung für ein weitere reformatorische Tätigkeit – die Wahrung der Unerschütterlichkeit der Reichsgrundgesetze. Im Großen und Ganzen formulierte der Ukas die von Wohlwollen und Verschwommenheit strotzenden Unterredungen des Fürsten Swjatopolk mit den ausländischen Korrespondenten. Von ungleich größerer politischer Bestimmtheit ist die zwei Tage später erschienene Mitteilung der Regierung. Sie bezeichnet den Semstwokongress vom Monat November als den Urquell der Bewegung, die kurz nach dem Kongress einsetzte und die dem russischen Volke fremd sei, und führt den Gemeinde- und Semstwovertretern vor Augen, dass sie, insofern sie die Beschlüsse des Novemberkongresses zur Diskussion bringen, wider das Gesetz handeln. Ferner erinnert die Regierung daran, dass es ihre gesetzliche Pflicht sei, die Staatsordnung und die öffentliche Ruhe zu schützen. Sie werde deshalb jedwede Versammlung staatsfeindlichen Charakters durch alle der Regierungsgewalt zu Gebote stehenden gesetzlichen Mittel auflösen lassen. Wenn diese Erlasse des Fürsten auch von wenig Erfolg gekrönt waren, so hatte er doch mit großem Geschick die allgemeinere Aufgabe gelöst, derentwegen ihn die Geschichte für eine Zeitlang an die Spitze der Regierung stellte: die Aufgabe, die politischen Illusionen und Vorurteile der mittleren Gesellschaftsschichten, der Spießbürger, gründlich zu zerstören.
Die Periode des Swjatopolk-Mirski, die unter den sanften Klängen der Friedenstrompeten begann und unter dem Pfeifen der Nagaika zu Ende ging, entfachte als Endresultat den Hass gegen den Absolutismus bei allen nur einigermaßen denkenden Elementen der Bevölkerung bis zum Äußersten. Die politischen Interessen wurden bestimmter, die Unzufriedenheit eine tiefere und prinzipiellere. Das noch gestern ungeschulte Denken wirft sich heute gierig auf die politische Analyse. Alle Erscheinungen der Bosheit und Willkür werden rasch auf ihre Grundursache zurückgeführt. Die revolutionären Schlagworte schrecken niemanden mehr, im Gegenteil, sie finden ein tausendfaches Echo, sie werden zu Losungsworten im Volke. Das öffentliche Bewusstsein saugt wie ein Schwamm jedes Wort der Verneinung, der Verdammung oder des Fluches gegen den Absolutismus auf. Der Absolutismus tut nun nichts mehr ungestraft und jede Ungeschicklichkeit wird ihm schonungslos verrechnet. Seine Annäherungsversuche stoßen auf Gelächter, seine Drohungen erzeugen Hass.
Gewiss, das Ministerium des Fürsten Swjatopolk hat der Presse bedeutende Freiheiten eingeräumt; aber der Umfang ihrer Interessen wuchs viel rascher als die Gewogenheit der „Hauptverwaltung für Angelegenheiten der Presse“. Dasselbe geschah auf allen anderen Gebieten: die halbe Freiheit aus Gnade reizte nicht weniger als völlige Knechtschaft. Das ist immer das Schicksal der Zugeständnisse in einer revolutionären Epoche; sie befriedigen nicht, sondern erregen nur neue Ansprüche. Diese erhöhten Ansprüche zeigten sich in der Presse, in den Versammlungen, auf den Kongressen und reizten ihrerseits die Regierung, die nun sehr bald das „Vertrauen“ verlor und in Repressalien Hilfe suchte. Versammlungen und Kongresse wurden aufgelöst, ein Hagelwetter von Hieben regnete auf die Presse herab, Demonstrationen wurden mit tierischer Grausamkeit auseinandergejagt. Endlich – gleichsam, um den den Spießbürger über den spezifischen Wert des Ukasses vom 25. Dezember endgültig aufzuklären – erließ Fürst Swjatopolk am 13. Januar (25. Dezember) ein Zirkular, in dem er erklärte, dass die in dem liberalen Ukas angekündigte Revision des Bauernstatuts auf Grund des Plehweschen Projektes vor sich gehen werde.
Das war die letzte Tat der Regierung im Jahre 1904. Das Jahr 1905 begann mit Ereignissen, die eine Schicksalswende bedeuten zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Sie machten einen blutig roten Strich unter diesen Frühling, dem Kindesalter des politischen Bewusstseins. Fürst Swjatopolk, seine Güte, seine Pläne, sein Vertrauen, seine Zirkulare, alles war mit einem Schlage beiseite geschleudert und vergessen.
A. Altes historisches Kloster bei Kiew.
B. Mit diesem Namen, der große Popularität erlangt hat. nannte der Herausgeber der Nowoje Wremja, Suworin, die Epoche der „Annäherung der Regierung an das Volk“.
Zuletzt aktualiziert am 31. Dezember 2024