Leo Trotzki

 

Wohin es geht

(1./14. Juni 1909)


Aus Prawda, Nr, 4, 1./14. Juni 1909.
Übersetzung von Sozialistischen Klassiker 2.0 nach dem russischen Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


ie Dritte Duma wackelt. Ob sie bestehen bleibt oder nicht, ist unbekannt. Aber bereits singen die Schakale und Hyänen der extremen Rechten der Duma das Sterbegebet, bereits hält sich Stolypins Kabinett nur mit Müh’ und Not auf den Beinen, bereits werden die Oktobristen nicht als Regierungspartei gezählt, sondern als Opposition, bereits wird im reaktionärer Untergrund ein neuer Staatsstreich geplant. Die liberale und vor allem die Oktobristenpresse klappern vor Angst mit den Zähnen: Die Dritte Duma scheidet dahin, das letzte Bollwerk der russischen Selbstherrschafts-Verfassung.
 

I. Was ist passiert?

Also, was ist passiert? Warum diese Duma, die alle Maßnahmen der konterrevolutionären Regierung gebilligt hat, die Romanow großzügig eine halbe Million neue Rekruten und Milliarden Rubel für die Armee, die Polizei, die großen und kleinen Fürsten, die Veruntreuer aller Ränge, die Gefängnisse, die Henker, für die Pfosten, Querbalken und Stricke [für Galgen] gegeben hat? Die Duma, die sich mit Zähneknirschen zusammenschloss, sobald Vertreter von Arbeiter- und Bauerninteressen auf dem Podium erschienen; Warum sah diese volksfeindliche, diese Herren-, diese Kapitalisten-Gutsbesitzer-, diese durch und durch reaktionäre Duma plötzlich über ihrem Kopf das Messer des bürokratischen Absolutismus, der drohte, ihr einen tödlichen Schlag zu versetzen?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich erinnern: Woher kam die dritte Duma? Welche Klassen stehen hinter ihr? Wem ist sie nützlich und wem ist sie schädlich?
 

II. Schaut zurück!

Im Oktober 1905 trat das russische Proletariat mit seinem Stiefel auf die heiligste selbstherrschaftliche Zarenkrone. Das Verfassungsmanifest vom 17. Oktober ist der Abdruck der proletarischen Fußsohle auf dem Gold der Mütze des Monomach. Egal wie viel die reaktionären Historiker und liberalen Politiker auch lügen, es wird ihnen weder gelingen, dieses Faktum weg zu lügen noch es aus den Seiten der Geschichte zu streichen! Es gab einen solchen Tag und eine solche Stunde, als Nikolaus II., unter dem schweren proletarischen Stiefelabsatz zusammengekauert, mit zitternder Hand ein feierliches Papier über die Rechte und Freiheiten des Volkes unterschrieb.

Man muss jedoch hinzufügen, dass vor dem Oktober und während des Oktoberstreiks die Arbeiterklasse in ihrem Kampf nicht ganz allein war. Sie stand in der ersten Reihe, unter dem brutalsten Feuer, aber hinter ihr befand sich die ungeordnete Menge ihrer Verbündeten und Halbverbündeten.

Schwerfällig wie ein Bär, der aus dem Winterschlaf erwacht, rührte sich die Millionenmasse der Bauernschaft. „Mehr Land, weniger Steuern!“ ertönte das Stöhnen aus dem russischen Dorf. Und die schreckliche Gefahr des Bauernaufstandes erfüllte die Seelen der Zarenbürokratie und verzehnfachte die Kraft des Proletariats.

In den Städten standen den Arbeitern am nächsten die breiten Kreise der Intelligenz. Die Schule, die Universität, die Literatur, die Wissenschaft, die Presse – alles, worin die Intelligenz lebt, sich ernährt und atmet – wird von der Selbstherrschaft zertreten, entstellt, ausgeplündert. Der Tod des Zarismus, eine demokratische Ordnung, die Entwicklung von Technik und Kultur, das ist es, was der Intelligenz allein Freiheit, Wohlstand und volle Blüte geben könnte. Und sie sympathisierte feurig mit den Arbeitern, nahm deren demokratischen Losungen auf, unterstützte mit allem, was sie konnte, deren Streiks und Demonstrationen.

Aber selbst die Kapitalisten traten in dieser ersten Periode nicht offen gegen das Proletariat auf und unterstützten es in einigen Fällen direkt. Die Selbstherrlichkeit der Satrapen-Gouverneure, Habgier, staatliche Misswirtschaft und Durcheinander, Unwissenheit und Armut des Volkes, all dies hing den Kapitalisten zum Halse heraus. Sie wollten sehr den Hochmut der Beamtenschaft überwinden und das Aufräumen der Staatswirtschaft in die eigenen Hände nehmen. „Mit ihrem revolutionären Handeln werden die Arbeiter die Zarenregierung erschrecken, sie wird sich an uns um Unterstützung wenden, und wir werden mit ihr einen Verfassungsvertrag abschließen, der für uns von Vorteil ist“, überlegten die Vertreter des Kapitals. Und einstweilen verhielten sie sich nachsichtig zu den politischen Aktionen des Proletariats und bezahlten die Arbeiter oft sogar für die Streiktage.

Noch erstaunlicher ist es jedoch, dass selbst viele Gutsbesitzer in dieser jüngsten Zeit sich nicht ohne Sympathie zu Streiks und Demonstrationen der städtischen Arbeiter verhielten. Aber hierin lagen ihre Gründe. Die Herren des Adels hatten längst ihren eigenen Groll gegen die Regierung: Erstens beschützte sie – ihrer Meinung nach – zu großzügig die Industriellen und war zu wenig auf die Gutsbesitzer bedacht. Zweitens erhob sich die Zarenbürokratie zu sehr und trat oft ganz unzeremoniell sogar Adligen auf die Hühneraugen. Drittens ... drittens fügten die Streiks der städtischen Arbeiter den Gutsbesitzern keinen Schaden zu: wenn nur die Landarbeiter leiser als Wasser, niedriger als Gras blieben.
 

III. Scheinbare Eintracht

Mit einem Wort, es schien, als seien alle gegen die Zarenregierung, alle für die Freiheit. Aber nicht lange hielt diese scheinbare Eintracht an: weniger als Jahr und Tag.

Als erster fletschte der Gutsbesitzer die Zähne. Allzu bedrohlich geriet an seiner Seite der Muschik in Bewegung. Es roch nach Verbranntem im Dorf: Das waren die aus ihren Nestern ausgeräucherten Adligen. „Kosaken! Schtykow!“ schrie der gestrige Semstwo-Liberale: „Wo ist die Macht? Was schläft sie? Gebt uns eine starke Macht! Wenn politische Freiheit für uns die Wegnahme des Landes bedeutet, dann zum Teufel mit der Freiheit! Ein Hoch auf die Knute der Selbstherrschaft!“

Im Gefolge des Gutsbesitzers geriet der Kapitalist in Erbitterung. Das Verfassungsmanifest ist erreicht, aber die Arbeiter beruhigen sich nicht. Sie vereinigen sich, bewegen sich, schaffen ihre eigenen Deputiertenräte, verkürzen eigenmächtig den Arbeitstag, fordern die Fortsetzung des Kampfes, stören die Produktion, schaden dem Profit. „Genug! Ordnung ist notwendig! Eine starke Macht ist unerlässlich!“

Zu dieser Zeit, d. h. zwischen dem Oktoberstreik und dem Dezemberaufstand 1905, wurden zwei bürgerliche Parteien gegründet: die Kadetten, die sich hauptsächlich auf die „solide“ Intelligenz stützen, und die Oktobristen, der aus Großkapitalisten und teilweise Gutsbesitzern bestehen.

Die Kadetten sagten:

„Bauern! Greift nicht zu revolutionäre Maßnahmen. Wir haben bereits eine Verfassung. Wir werden Land für euch auf friedlichem Wege durch die zukünftige Staatsduma bekommen. Und ihr, meine Herren Gutsbesitzer, geratet nicht in Verzweiflung: Wir werden euch für euer Land vollwertig aus der Tasche des Volkes bezahlen!“

Die Oktobristen sagten:

„Kapitalisten und Gutsbesitzer, vereinigt euch! Gegen die Arbeiter und Bauern! Zur Verteidigung von Profit und Pacht! Wir sind für die Regierung, die Regierung ist für uns!“

Die Sozialdemokraten sagten:

„Es ist eine Lüge, dass wir eine Verfassung haben. Die Polizei, die Bürokratie, die Armee und damit alle Macht liegt immer noch in den Händen des Zaren. Es ist eine Lüge, dass die Gutsbesitzer ihren Besitz friedlich aufgeben werden. Nur revolutionäre Kraft kann dem Zaren die Macht wegnehmen und dem Gutsbesitzer das Land.“
 

IV. Wer hatte Recht?

Die Sozialdemokraten! Mit der Veröffentlichung des Verfassungsmanifests wartete die Regierung nicht auf die Einberufung der Duma, sondern ließ ihre Polizei und Armee auf das Volk los. Die Sozialdemokratie rief zu Widerstand, Aufruhr, Kampf um die Macht auf. Nur das Proletariat antwortete. Die liberale Intelligenz drückte sich ängstlich auf die Seite, die Kadettenpartei wusch sich die Hände [in Unschuld]. Die Oktobristen bildeten einen sympathisierenden Chor für die zarischen Baschi-Bosuks. Die Bauernschaft war sich in ihrer Masse noch nicht bewusst, dass der Weg zum Land über den Leichnam der Zaren-Selbstherrschaft führt. Das Proletariat erwies sich auf diese Weise im Dezember als isoliert und gab viel von seinem Blut unter den Kugeln der unaufgeklärten Dorfburschen in Soldatenuniformen ...
 

V. Was haben die ersten beiden Dumas gezeigt?

„Sehen Sie“, sagten die Kadetten: „Der Aufstand ist unterdrückt. Nicht auf dem Weg des Kampfes, sondern auf dem Weg der Vereinbarung mit der Monarchie werden wir Freiheit und Land für das Volk erlangen.“

In den ersten beiden Dumas herrschten die Kadetten. Sie riefen unermüdlich das Volk zu Geduld und Ruhe auf, und boten der Regierung gütliche Abkommen an. Und was war? Die Regierung lauschte nicht nur nicht ihren Ermahnungen, sondern löste auch zwei Kadetten-Dumas auf, eine nach der anderen, und änderte das Wahlrecht. Warum? Das ist völlig klar. Die Regierung sagte sozusagen den Kadetten: „Meine Herren Liberalen! Wenn wir mit Ihnen ein Abkommen abschließen, werden wir das Volk beschwichtigen? Haften denn Sie für die Arbeitermassen? Steht das Volk hinter Ihnen? Glaubt es Ihnen? Sehen Sie: Die Arbeiter haben ihre eigene Partei; die Bauernvertreter gehen in ihren Forderungen auch weiter als Sie. Das bedeutet: auch nach einer Vereinbarung mit Ihnen müssen wir auf das Volk mit Kartätschen schießen. Was nützt es uns, ein Abkommen mit Juristen und Professoren zu schließen? Nein, meine Herren, gehen Sie nach Hause!“

Die ersten beiden Dumas zeigten all die klägliche Grundlosigkeit der liberalen Taktik der Vereinbarung. Gutwillig werden weder der Zarismus noch der Adel um einen Faden nachgeben. Zärtliche Worte werden sie nicht packen. Der Kampf hier braucht Entschlossenheit und Erbarmungslosigkeit ...
 

VI. Die Dritte Duma

Die dritte Duma stellte Stolypin aus Gutsbesitzern und Großkapitalisten zusammen. Mit einem Fuß stand sie auf der Schulter des Bankiers Gutschkow, und mit dem anderen auf der Schulter des Gutsbesitzers Markow. Es schien, dass die Lage völlig fest sei. Aber dann im letzten Monat wankte Stolypin und mit ihm die ganze Duma.

Was ist passiert? Gutschkow und Markow eilten einfach allzu schnell zu den staatlichen Futtertrögen – jeder auf seiner Seite. Dadurch ist das Gleichgewicht zerbrochen. Und das ist kein Zufall, denn bei Gutschkow und Markow sind die Interessen unterschiedlich, vielfach widersprüchlich.

Vor der Revolution gab es zwischen den Vertretern des Kapitals und des Landbesitzes einen ewigen Antagonismus. Die Revolution brachte sie einander näher, verband sie durch eine gemeinsamen Angst vor dem Proletariat und der Bauernschaft, eine gemeinsamen Sehnsucht nach einer „starken Macht“. Aber die Revolution flaute ab, die Angst begann sich allmählich zu verflüchtigen, und gleichzeitig damit trat der Widerspruch der Interessen hervor.

„Wir haben die Revolution besiegt“, sagen die Gutsbesitzer, und fordern als Belohnung, dass ihnen das ganze Land mit all seinen Posten, Einkommen und Reichtum zum Aussaugen und Plündern gegeben werde.

„Die Revolution ist besiegt worden“, sagen die Kapitalisten, „aber unsere Profite sind immer noch nicht gesichert: im Lande gibt es keine Ordnung, die Verwaltung raubt, das Volk hungert, die Armee ist machtlos. Wir fordern eine Verfassung!“

Aber das ist leicht gesagt. Wo ist bei den Kapitalisten die Kraft, eine echte Verfassung zu erringen? Sie haben keine solche Kraft. Hier braucht man die Volksmasse, benötigt man einen revolutionären Ansturms. Aber die Revolution und die Massen fürchten die Kapitalisten mehr als die Selbstherrschafts-Anarchie. Es brauchen nur die Arbeiter und Bauern die Bühne betreten, und Gutschkow wird sich von neuem beeilen, Markow seine Hand zu reichen.
 

VII. Was weiter?

Wie sich die Ereignisse in den kommenden Monaten entwickeln werden, ist nicht vorhersehbar. Vielleicht bleibt alles vorübergehend auf die alte Weise. Oder vielleicht erreicht der wilde Gutsbesitzer sein Ziel: Er wird die Duma auflösen, Stolypin wegjagen und die unverhüllte Selbstherrschaft wiederherstellen.

Aber egal wie sich die kommenden Ereignisse gestalten werden, das Proletariat muss sich nicht verlaufen, denn es hat nichts zu verlieren.

Wenn die dritte Duma für eine Weile bestehen bleibt, werden wir sagen:

„Na und? Möge die Geschichte ihren Anschauungsunterricht fortsetzen. Mögen Stolypin, Gutschkow, Bobrinski und Purischkjewitsch noch daran arbeiten, das Klassenbewusstsein der Massen zu entwickeln. Wir schwören, dass ihre Arbeit nicht verschwendet sein wird!“

Wenn die dritte Duma entfernt wird, sagen wir einfach ruhig: „Ihr schüchtert nicht ein! Nehmt die erbärmliche Maske ab, entfernt sie. Zeigt dem Volk das Selbstherrschafts-Gesicht in seiner vorrevolutionären Nacktheit. Ihr wollt uns die Duma-Tribüne wegnehmen, ihr wollt uns völlig in den Untergrund treiben? Wir waren bereits bis zum Kopf im Untergrund – und kamen aus ihm heraus. Glaubt es: wir werden von neuem herauskommen! Nicht mit Dynamit-Bomben werden wir antworten: Die Bombe explodiert und verschwindet. Durch die Vereinigung der proletarischen Massen, durch die Stärkung unserer Partei werden wir euch antworten, mit der Entwicklung von sozialistischem Bewusstsein, das nicht im Wasser versinkt und nicht im Feuer verbrennt. Und auch dort wird der Lauf der Ereignisse dem Proletariat zeigen, wann es den Stiefelabsatz auf den Kopf des Selbstherrschafts-Reptils setzen soll für den letzten tödlichen Stoß.


Zuletzt aktualiziert am 18. Dezember 2024