Leo Trotzky

 

Neujahrsgespräch über die Kunst

(30. Dezember 1908)


Nach Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 239–247, s. auch den russischen Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wien. Herrengasse. Café Central. Silvesterabend. Alle Säle sind überfüllt. Lichter, Lärm, Damenhüte, abgehetzte Kellner, Punsch und Grog. Prosit Neujahr!

Einige Abgeordnete spielen an einem langen Tisch Tarock. Niemand, der diese Leute sieht, würde glauben, dass auf ihren Schultern die Bürde des Staatsgebäudes lastet. Sie spielen jeden Abend Karten und sehen im Herannahen eines neuen Jahres keinen Anlass, die eingeführte Ordnung zu stören ... Daneben befindet sich eine Gruppe von Journalisten der Boulevardpresse mit nur halb bekleideten Damen. Halb geleerte Weingläser, Witze reihum und in regelmäßigen Salven das dankbare Gelächter der Frauen. Ein Durcheinander. Man kommt und geht. Prosit Neujahr! Alle wollen die Tatsache, dass die Erde um 365 Tage älter geworden ist, irgendwie feiern ...

In der Ecke an dem nicht funktionierenden Springbrunnen saßen: ein deutscher Arzt, ein russischer Journalist, ein siebzigjähriger russischer Emigrant, eine ungarische Malerin und eine russische Musikerin. Saßen schon eine volle Stunde. Das Gespräch war bald allgemein, bald löste es sich in Einzelgespräche auf, es berührte flüchtig das türkische Parlament, verweilte vorübergehend bei den Ruinen von Messina und landete, nach einigem hin und her, schließlich bei der Malerei. Man befragte einander nach der Ausstellung russischer Maler.

„Mein Gott!“ rief der Arzt aus, sich an die russischen Gesprächspartner wendend, „was haben sie uns denn gegeben, meine Herrschaften? Sie haben in den letzten Jahren in ihrem aufsehenerregenden Land so viel erlebt, wer denn, wenn nicht sie, sollte die Kunst erneuern? Ich gebe zu, dass ich mit großen Erwartungen in dieses ungefüge Gebäude am Karlsplatz gegangen bin. Und was war? Sie haben uns dasselbe gebracht, was wir alljährlich bei uns in der Secession sehen – nur in geringerer Menge und, verzeihen sie, in geringerer Qualität. In ihrer ganzen Ausstellung gibt es nichts Eigenes, es sei denn einige nicht allzu bedeutende Zeichnungen von Bilibin. Ist es nicht so?“

„Ich schließe mich ihnen vollkommen an“, pflichtete der Emigrant dem Arzt bei. – „Nach den Zeitungen zu urteilen referiert man bei uns über das ,national Prinzip‘ nicht nur in den liberalen Versammlungen, sondern zwitschert darüber auch recht aufdringlich in allen dekadenten Kneipen. Und das Endergebnis – vollkommen internationale Erzeugnisse von unterdurchschnittlicher Qualität ... Selbstzweck-Koloristik, innerlich leerer Impressionismus kindlicher Prägung, zu alledem noch ohne Überzeugungskraft, da alles entlehnt ist. Merkwürdig! Die Heimat des Impressionismus und der Stilisierung ist Paris: nicht nur wir Russen haben uns von den französischen Einflüsterungen genährt und nähren uns noch davon, sondern auch ihr Deutschen. Dabei nimmt der Impressionismus nirgendwo einen so bescheidenen Platz in der Kunst ein wie in Frankreich. Dort hat er fast gar nicht Fuß fassen können. Aber in irgendeinem Charlottenburg bei Berlin sind sie jetzt gezwungen, die letzte Bierkneipe durch eine stilisierte Tür zu betreten. Wie kommt das? Weil die Deutschen unvergleichlich viel ärmer an ästhetischer Kultur, an künstlerischer Traditionen und konservativen Formen sind als die Franzosen. Auch ist ihre Widerstandskraft geringer. Aus uns Russen aber könnte man in dieser Beziehung glatt Stricke drehen. ‚Ich bin in Deutschland – Deutscher‘, schrieb einst Dostojewski über den russischen Intelligenzler, ‚in Frankreich – Franzose und mit den antiken Griechen – Grieche, und eben dadurch bin ich ein echter Russe und diene Russland damit am besten.‘ Oder so ähnlich ... Aber Dostojewski hat sich verhängnisvoll geirrt, wie alle unsere urtümlicher. Jene universale Persönlichkeit, wie sie ihm vorschwebte, war nur eine historische Entpersönlichung. Und das hat sich ganz klar gezeigt, als die alte einheitliche Lebensordnung erschüttert wurde und in ihre Bestandteile zu zerfallen begann ... Für den Intelligenzler wurde es Zeit, endlich seine nationale Physiognomie zu offenbaren, aber ach! – sie offenbarte sich gleichsam als eine kreuz und quer mit fertigen fremdländischen Schriftzeichen bedeckte Schiefertafel ... Ich lebe, wie sie wissen, dreißig Jahre im Ausland und beobachte ständig die russischen Intelligenzler von außen. Und Folgendes ist meine absolut unumstößliche Schlussfolgerung: zu spät gekommen bist du, Mütterchen! Eine nationale Physiognomie kannst du nicht mehr schaffen – auf keinem Gebiet.“

(Bei den letzten Worten ging der alte Emigrant von der deutschen Sprache zur russischen über.)

„Struwe bläst jetzt zum Beispiel in das Horn der Slawophilen“, wandte er sich an den Journalisten, „wenn man aber genauer hinsieht, dann kopiert er sklavisch die deutschen Nationalliberalen; der einzige Unterschied liegt darin, dass er das gotische Alphabet durch das kyrillische ersetzt hat ... Benois verlangt, dass das Petersburger Cabaret nicht mehr Cabaret und nicht Überbrettl heißen sollte, sondern mit dem alten guten russischen Wort balagan bezeichnet werden müsse, und er schwört, dass man nur diese nationale Reform durchzuführen brauchte, und – schon käme ganz andere Musik heraus.“

Der Journalist nickte bestätigend. Die Musikerin machte eine Bewegung, als wollte sie etwas sagen, hielt aber an sich. Der Doktor sog an seiner Virginia und legte die Stirn in Falten: man konnte sehen, dass er den Gedanken nicht erfasst hatte.

„Genauso ist es auch auf dieser Ausstellung. Selbst bei Rerich mit seinen slawischen Primitiven wirkt die Nationalität wie eine Pappmaske, unter der man den dekadenten Kosmopoliten spürt. Von den anderen schon gar nicht zu reden!“

„Und doch“, begann der Doktor, „tritt in der Ausstellung ein, wenn sie so wollen, nationaler Zug ihrer Intelligenzler scharf hervor: die extreme Zerrüttung ihrer Nerven. Das ist für mich als Psychiater meiner Spezialität nach ein unerschöpfliches Material. Ich bin mit aufmerksamem Staunen vor vielen Bildern stehen geblieben. Was ist allein Anisfeld mit seiner blauen Staute wert! Dann die Herren Jakulow, Milioti, der Philister wird vielleicht die Achseln zucken und sagen: ,dieser Mensch hat einen großen Eimer Waschblau angerührt und eine gewaltige Staute ohne Kopf damit beschmiert. Was ist sein Ziel? Offensichtlich: épater le bourgeois, mich umwerfen!‘ Das ist jedoch Unsinn Ich bin kein Verehrer der Schöpfungen ihres Anisfeld, aber ich sage: die Ursache für den Missbrauch von Waschblau sollte man ihm nicht als Böswilligkeit auslegen, sondern in seinem unnormalen Sehnerv suchen. Er sieht es eben so, und das ist alles. Und wenn er Verehrer hat, dann bedeute dies eben, dass seine Krankheit typisch ist. Wer weiß, vielleicht liegt in dieser Abnormität der Ursprung neuer ästhetischer Offenbarungen? Es ist ein Vorurteil zu glauben, dass unser Auge unveränderlich sei; es entwickelt sich durch die Auslese zweckmäßiger Abnormitäten Es ist nur die Frage, ob die vorliegende Abnormität des Sehnervs sich auf der Hauptstraße unserer psychophysischen Evolution bewegt oder abseits von ihr?“

„Gestatten sie, Doktor“, protestierte die Ungarin, „bei ihnen läuft die Kunstkritik einfach auf Neuropathologie hinaus!“

„Ich möchte meinen – zum Nutzen beider“, erwiderte der Arzt „Betrachten sie die Impressionisten: verblüffende, mitunter unerträgliche Farbkombinationen bei den einen; ebenso verblüffende koloristische Kargheit bei den anderen. Wissen sie, was sich dahinter verbirgt? Der Daltonismus, die Farbblindheit. Schütteln sie nicht ironisch den Kopf... Es stimmt, dieses Problem ist relativ wenig behandelt, aber in allen jenen Fällen, in denen ich persönlich Gelegenheit zur Forschung hatte, habe ich stets eine organische oder funktionelle Abnormität des Auges oder des Ohres als Ursprung neuer Kunstformen oder eines neuen ästhetischen Erlebens entdeckt. Im Grunde genommen geht die Entwicklung jeglicher Kunst – merken sie wohl – auf der Bahn der Festigung und Verallgemeinerung glücklicher individueller Abnormitäten vor sich.“

„Dann sind also auch unsere und ihre Augen, Doktor, vom Daltonismus befallen?“

„Insofern die entsprechenden koloristischen Verfahren unsere Anerkennung finden – ohne Zweifel. Bis zu einem gewissen Grad oder einer gewissen Form. Man braucht nicht vor Worten zu erschrecken: die Abnormität wird zur Norm, wenn sie vom Strom der Entwicklung erfasst und zum Allgemeinheit wird.“

„Das mag vielleicht alles richtig sein“, äußerte sich erstmals der Journalist, „nur erklärt ihre Theorie die Evolution der Malerei ebenso wenig wie die Chemie, die für dekadente Farben die entsprechenden Formeln liefert. Sie lassen die Hauptfrage unbeantwortet: warum gerade in der heutigen Zeit das ,impressionistische‘ Verfahren, farbige Flächen wahrzunehmen, triumphiert? Oder mit ihren eigenen Worten: warum haben sich gerade diese und nicht andere Abnormitäten etabliert? Die Antwort wird man in den sozialen Umständen, unter der Voraussetzung einer historischen Entwicklung suchen müssen, nicht in der Struktur des Auges, sondern in der Struktur der Gesellschaft. Und hier sage ich ihnen, ohne zu schwanken: der Impressionismus wäre, ob in seinen Farbkontrasten, ob in seiner koloristischen Anämie, nicht denkbar ohne die Kultur der Großstädte. Diese Malerei braucht Cafés, Cabarets, Zigarrenqualm und schließlich die Verwandlung der Nacht zum Tage durch das elektrische Licht, das alle Farben abtötet. Ein Bauer wird diese Kunst nie verstehen! ... Sie werden sagen, dass er überhaupt keine verstehen wird? Mag sein. Nehmen wir aber mal einen gebildeten, nehmen wir mal einen genialen Bauern – unseren Tolstoi. Ich kenne den Bau seines Auges nicht, aber ich kenne den Bau seiner Seele – und ich behaupte: von dieser Kunst wird er sich abwenden ... Selbst wenn sie mir unwiderleglich beweisen würden, dass es in den Nervenzentren der russischen Intelligenzler irgendwelche großen Mängel gibt oder dass sie nicht normale Augen und Ohren besitzen, würde mich das in keiner Weise in solchen Fragen weiterbringen, wie zum Beispiel der des plötzlichen Auftauchens des erotischen Ästhetizismus, etwa im Schaffen Andrejews oder bei den erwähnten Anisfeld und Jakulow. Die Intelligenzler sollte man nicht an den Ohren packen – obwohl es vielleicht nicht schaden würde, ihnen gelegentlich die Ohren lang zu ziehen! – sondern an der Seele. Sie haben doch eine gesellschaftliche, durch das geschichtliche Schicksal bedingte Seele ... Selbst unsere Träume schöpfen ihren Inhalt aus dem sozialen Milieu: der Schuster sieht im Traum den Leisten, der Henker den Strick. Um so mehr tun es die ,träume' der Poesie und der Malerei!“

Zwei Standpunkte waren aufeinandergeprallt: der psycho-biologische und der sozial-historische, und jeder beanspruchte für sich die Vorherrschaft, ohne eine Koordinierung zu dulden. Der weitere Streit wurde zwangsläufig unfruchtbar und führte daher zur Gereiztheit Und wie immer waren es die Frauen, die mit ihrem inneren Verstand dies als erste erkannten, obwohl sie sich am Streitgespräch fast gar nicht beteiligt hatten – auch fast wie immer.

„Ja, waren sie denn in der Kunstausstellung?“ fragte die Musikerin den Journalisten.

„Nein! Und ohne äußerste berufliche Notwendigkeit gehe ich auch nicht hin“

„Wieso das?“

„Ja, der Besuch von Kunstausstellungen ist, wie sie es auch betrachten möge, eine entsetzliche Vergewaltigung meiner selbst. In dieser Art des ästhetischen Genusses äußert sich die furchtbare kapitalistische Kasernenbarbarei. Schon jedes einzelne Gemälde, fuhr der Journalist halb scherzend, halb ernst fort, vereinigt in sich eine ganze Reihe innerer ästhetischer Widersprüche, um wie viel mehr eine Ausstellung ... Sie sind damit nicht einverstanden? So betrachten sie doch einmal eine Landschaft Was ist das? Ein willkürlich ausgeschnittenes, in einen Rahmen gezwängtes und an die Wand gehängtes Stück Natur. Zwischen diesen Elementen: Natur, Leinwand, Rahmen und Wand besteht ein ausschließlich mechanischer Zusammenhang: das Bild kann nicht unendlich groß sein. Aus Tradition und praktischen Erwägungen hat sich die viereckige Form ergeben; damit es nicht gedrückt wird und sich nicht wirft, steckt man es in einen Rahmen; damit es nicht auf dem Fußboden herumliegt, schlägt man einen Nagel in die Wand, bindet eine Schnur daran und hängt das Gemälde an dieser Schnur auf; später, wenn alle Wände voll gehängt sind – manchmal in zwei und drei Reihen – nennt man das eine Gemäldegalerie oder eine Kunstausstellung. Uns aber wird zugemutet, alles das – Landschaften, Genrebilder, Rahmen, Schnüre und Nägel in einem Zuge in uns aufzunehmen.“

„Nun, das ähnelt schon Tolstois Kritik an der Oper.“

„Was wollen sie denn nun eigentlich?“ fragte die Malerin. „Die Abschaffung der Malerei? Oder nur der Ausstellungen? Oder der Nägel und Schnüre?“

„Sowohl mehr wie auch weniger als dies ... Von Tolstois Rationalismus bin ich sehr weit entfernt ... Aber ich möchte, dass die Malerei ihren Absolutismus ablegt und ihre organische Verbindung mit der Architektur und Plastik wiederherstellt, von denen sie sich irgendwann einmal abgesondert hat. Sie hat sich nicht aus Versehen abgesondert, o nein! Seit jener Zeit hat sie eine gewaltige und lehrreiche Exkursion hinter sich gebracht, hat die Landschaft erobert, ist innerlich beweglich, ist intim geworden und hat eine erstaunliche Technik entwickelt. Jetzt muss sie, durch alle diese Gaben bereichert, in den Schoß ihrer Mutter, der Architektur, wieder zurückkehren ... Ich möchte, dass ein Gemälde nicht durch eine Schnur, sondern durch seinen künstlerischen Sinn mit den Wänden, mit der Kuppel – mit dem Bestimmungszweck des Gebäudes – mit dem Charakter des Zimmers eine Einheit bildet... und nicht wie ein Hut am Haken herumhängt. Die Gemäldegalerien, diese Konzentrationslager für Farben und für Schönheit, dienen lediglich einem verzerrten Ausgleich für die alltägliche Farblosigkeit und Hässlichkeit. Entschuldigen sie den auf den ersten Blick äußerst groben Vergleich – aber ich wende mich ihm in meinen Gedanken unwillkürlich zu: unsere Kultur kennt noch eine andere Art von Konzentrationslager: Gebäude, in denen Zärtlichkeiten konzentriert sind. Dorthin laufen von Zeit zu Zeit Menschen, die von der Liebe bedrängt werden, und bezahlen Eintrittsgeld – wie wir, wenn uns das Bedürfnis nach Farben und Formen bedrängt, in die Ausstellungen laufen. Eine Stunde konzentrierter Liebe, eine Stunde konzentrierter Schönheit. Diese abstoßende Anhäufung von Gemälden, Statuen – Epochen, Stilen, Farben, Ideen und Stimmungen – konnte nur unsere verfluchte Zeit der grauen würfelförmigen Häuser, des Fabrikrauchs und der schwarzen Zylinder hervorbringen. Wenn auf dem Asphalt unserer Straßen Blumen wüchsen, wenn sich auf den eisernen Balkons unserer Häuser tropische Vögel niederließen, wenn smaragdene Wellen vor unseren Fenstern plätscherten und wenn die Sonne abends im Meer versänke und sich nicht hinter dem Ladenschild von Gernegroß versteckte – dann wären Gemäldegalerien unmöglich ... Ich rufe sie nicht nach rückwärts, o nein! Es gibt weder Blumen noch Vögel auf dem Asphalt – es gibt nichts dergleichen und wird es auch nicht geben. Und auf den Asphalt der Zivilisation werden wir auch nicht verzichten, wie Tolstoi es vergeblich verlangt. Aber uns bleibt noch eine andere Möglichkeit: für die große synthetische Schönheit der Zukunft zu kämpfen ... Wir haben den ursprünglichen Reichtum an Farben und Formen deswegen aus der Welt geschafft, damit wir sie durch neue, ‚künstliche&ksquo; – meiner tiefen Überzeugung nach unvergleichlich vollkommenere – ersetzen können. Doch diese neue Schönheit gibt es heute noch nicht; noch ist sie in Fragmenten, Bruchstücken und Andeutungen verstreut. Und ich trete dafür ein, dass ein in einen vergoldeten Rahmen eingesetztes Stück Natur nur ein vorübergehendes und grobes Surrogat ist.“

„Aber erlauben sie, erlauben sie “.. sind ihre Konstruktionen nicht willkürlich? Sie lehnen das ab, was ist – wo sehen sie die Elemente der neuen Kunst, diese ihre Fragmente und Andeutungen?“

„Überall! Was stellt der Impressionismus dar? Das letzte Wort der ‚selbständigen‹, d. h. an die Wand gehängten Malerei. Seiner Methode nach ist der Impressionismus dasselbe Mosaik, nur nicht aus farbigen Steinchen zusammengesetzt, sondern aus koloristischen Flecken und Strichen. Dadurch, dass die Linien und die Konturen verschwinden und die Farben in ihre Bestandteile zerlegt werden, versetzt die neue Kunst dem selbständigen Gemälde einen tödlichen schlag und öffnet der Malerei zugleich den Ausweg zur Architektur. Ich werde nicht die ganze Reihe der Impressionisten nennen, welche eben durch diese neue Technik auf den Weg der dekorativen Malerei gestoßen wurden: sie kennen sie besser als ich. Aber alle diese Anisfelds, Miliotis und Krymows: sie alle lechzen doch förmlich nach dekorativen Ziele nach den kategorischen imperativen der Architektur. Da ist ‚das nocturno‘ in grün. Da ist die ‚prähistorische Landschaft‘. Das sind keine Gemälde – wie auch ein Glassplitter aus dem Fenster einer gotischen Kirche kein Gemälde ist. Das ist einfach ein Stück Leinwand, auf dem der Maier verschiedene Farbkombinationen ausprobiert hat; das ist ein Modell für eine Kuppel, vielleicht für einen Fenstervorhang ... Sie werden sagen, dass diese Maier nicht maßgeblich sind. Einverstanden. Aber da haben sie einen großen und unbestrittenen nahmen: Turner. Ich habe ihn mir vor einigen Monaten in London, in der Tate Gallery immer wieder angesehen. Sein Abendstern und sein Waterloo sind nicht Gemälde, sondern Wellen zartester, von geheimnisvollem Licht verklärter Farben. Linien sind nicht vorhanden. Alle Gegenstände sind in goldenem Nebel. Für ein Gemälde ist Turner viel zu wenig materiell. Er erwartet und sucht eine edle architektonische Fassung. Meiner extremen Meinung nach ist Turner der Zerstörer der selbständigen Malerei, wie Wagner der Zerstörer der ‚absoluten‘ Musik gewesen ist.“

„Ausgezeichnet“, sagte der Doktor, der ruhig an seiner Virginia sog, gleichsah im Vorgenuss des Hiebs, den er nun versetzen würde, „aber wissen sie – und dies ist eine einwandfrei festgestellte Tatsache – dass Turner Astigmatiker war: Linien gab es für ihn nicht, nur farbige Oberflächen ... Da haben wir wieder die Anomalität des Auges als Grundlage der künstlerischen Individualität!“

„Das interessiert mich nicht, Doktor ... vor mir steht Turner auf der Leinwand – und ich genieße ihn. Dies bedeutet, dass es irgend etwas gemeinsames zwischen mir und ihm gibt. Etwas außerhalb Turners und seiner Krankheit, außerpersönliches, soziales. Irgendeine gesellschaftlich-ästhetische Verbindung.“

„Und sie selbst sind kein ... Astigmatiker?“

„N-nein ... ich glaube nicht.“

„Entschuldigen sie, ich bin davon nicht überzeugt. Kommen sie morgen zu mir, und ich werde ihre Augen untersuchen.“

Alle lachten. Der Doktor hatte sich revanchiert, und das Gespräch, das vom Thema abzuschweifen begann, kam wieder ins Gleichgewicht.

„In den Worten meines Freundes gibt es viel Paradoxes“, sagte der alte Emigrant lächelnd, „aber einem Journalisten darf man das verzeihen. Sein Hauptgedanke erscheint mir jedoch vollkommen richtig. Synthetische Kunst der Zukunft! Nicht in besondere Anstalten eingesperrte Kunst, sondern eine Kunst, die unser ganzes Leben durchdringt. Eine edle Kombination von Natur, Architektur und Malerei. Neue Syssitien wie bei den Spartanern, aber bereichert durch alle Wunder der Technik. Die Musik als Begleiterin des Denkens und Tuns. Das Leben – auf dem Forum – als Kunst, als höchstes Schaffen ...“

„Aber, meine Herrschaften, die synthetische Schönheit ist nur auf der Grundlage einer synthetischen gesellschaftlichen Wahrheit denkbar. Der Mensch muss der kollektive Schmied seines historischen Schicksals werden. Dann wird er die Hauptlast der Arbeit auf die Schultern metallischer Sklaven abwerfen können, das Element des Unbewussten in seiner eigenen Seele meistern und alle seine Kräfte auf das Schaffen neuer herrlicher plastischer Formen der Zusammenarbeit, Liebe, Brüderlichkeit und Gesellschaft konzentrieren ... Der Mensch braucht Muße, das ,Recht auf Faulheit‘!

„Meine Herrschaften! Trinken wir auf diesen sorglosen, glücklichen und genialen Faulenzer der Zukunft! Prosit Neujahr, meine Freunde!“


Zuletzt aktualiziert am 6. Dezember 2024