Leo Trotzky

 

Heißhunger auf „Kultur“

(23. November 1908)


Nach Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 256–265.
Unter Berücksichtigung des russischen Texts.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die russischen Intelligenzler kann man anscheinend zu einer neuen „Geistesrichtung“ beglückwünschen, deren Charakter immer schärfer und bedeutender zu Tage tritt. Nicht, dass hierin irgend etwas historisch Unvorhergesehenes läge; im Gegenteil, dies ist alles mit außergewöhnlicher Gründlichkeit vorausgesagt worden. Aber bedeutende Tatsachen kommen immer unerwartet, selbst wenn man sie vorausgesehen hat.

Schon der selige Towarischtsch hat von einer „allgemeinen Sehnsucht nach dem gesunden Konservativismus“ gesprochen. Man brauchte nur eine Atempause – versprach die Zeitung – und schon würden alle Kräfte der Intelligenzler sofort in die „Kultur“ gehen. Diese Melodie wird jetzt in allen Tonarten variiert. Es ist schwer, ein Exemplar einer russischen Zeitung aufzutreiben, in dem nicht auf die eine oder andere Weise diese Sehnsucht nach Kultur zum Ausdruck käme. Gestatten sie des Beispiels halber einige Zitate

„Freiheit kann nur dort bestehen, wo es in Gestalt eines gesunden Mittelstandes eine Garantie für Arbeitsdisziplin gibt. Deshalb hat für mich ,der Kampf um einen Mittelstand', um die materielle Grundlage der Entwicklung einen sehr hohen Sinn – ich möchte sagen – einen fast religiösen Wert.“ (Retsch, Nr. 82, Gedanken, von Galitsch). G. Anitschkow ruft dazu auf, näher an das alltägliche Leben heranzugehen, und predigt „die Religion des Lebens“ als Mittel zur Annäherung zwischen dem Durchschnittsbürger und dem Intelligenzler (Freie Gedanken).

„Zur Zeit geht es um einen erwünschten und notwendigen Konservatismus, den Konservatismus der Kultur.“ Und gleich daneben: „Wir glauben nur an Absoluta ... – Uns ist der Begriff in medias res fremd ... Diesen Begriff lehrt nur die Kultur, dieser ‚Niederschlag‘, dieser Extrakt der Vergangenheit, der dem gesellschaftlichen Organismus frische Kräfte einflößt, usw. usf.“ (Odessaer Nachrichten, Nr. 7, 567, Sommerbriefe von Inber).

Die Zahl solcher Beispiele könnte man nach Belieben erweitern. Aber aus dem Zusammenhang gelöste Zitate geben nur in groben Zügen jene Stimmung wieder, die jetzt vorzuherrschen beginnt. Wer fähig ist, die Erscheinungen der Psychologie der Gesellschaft zu beobachten, wird uns auch ohne weitere Zitate verstehen. Sowohl die Formen wie die Symptome, wie auch der Grad des neuen Geistes sind äußerst mannigfaltig. Aber auf allen Gebieten und in allen Erscheinungsformen – in der Politik, in der Kunst, in der Wirtschaft und in Fragen des Alltagslebens – läuft alles auf eins hinaus: Heißhunger auf „Kultur“.

Und nicht nur nach Kultur schlechthin, sondern nach einer endgültig vernünftig gewordenen Kultur „Wir“ sind zu ungestüm; wenn wir etwas ablehnen, dann restlos; wenn wir etwas loben, dann bis zur Selbstverleugnung.

„Wir“ glauben allzu sehr an das Absolute. „Wir“ haben uns zu weit vom Durchschnittsbürger entfernt. Wir wollen aufhören, uns des Mittelstandes zu schämen. Ohne barbarische Anwandlungen und Sprünge! Wir wollen die Freiheit, die Kunst, die Menschheit achten – aber unter voller Wahrung der eigenen Würde. Wir wollen uns der Liebe hingeben – aber ... nicht auf dem Marktplatz – und unter Beachtung der Hygiene.

Man ist gezwungen, ein Wort zu verwenden, das in der russischen Literatur in höchstem Grade kompromittiert ist: das Spießertum Bei uns hat es sich in den letzten zehn Jahren in einen Zirkusball verwandelt, den Clowns einander zu köpfen. Aber es wird Zeit, diesem Wort seinen wahren Inhalt wiederzugeben. Es wird Zeit zuzugeben, dass sich bei uns beschleunigt ein europäisches, kultiviertes Spießertum herausbildet – nicht als „Stimmung“ sondern als soziale Tatsache. Als man den russischen Intelligenzlern – freilich nicht immer in ehrerbietigen Ausdrücken – erklärte, sie seien aus demselben Material gemacht wie ihre ältere europäische Schwester, erblickte man darin fast eine Beleidigung bei der Erfüllung historischer Pflichten. Aber mit der gleichen auf die Nerven gehenden Beharrlichkeit, mit der einst die Philosophen, Publizisten und Kritiker den russischen Intelligenzlern ihr unabdingbares Recht auf eine besondere historische Mission zu beweisen versuchten, versucht man heute, uns zu beweisen, dass die Ohren nicht über die Stirn hinauswachsen – selbst wenn es auch die Ohren des absoluten Idealismus wären. Als die Materialisten in dem mystischen Suchen der Intelligenzler lediglich Bemühungen der Kleinbürger um Selbsterkenntnis erblickten, behandelte man sie als böswillige Verleumder; heute aber erklären selbst die Idealisten offen, dass der Kampf für das Spießertum (nicht gegen das Spießertum wie vor fünf Jahren, sondern für das Spießertum) für sie einen „fast religiösen Wert“ habe. Und – o Unbeständigkeit der Zeiten! niemand erblickt darin eine Verleumdung.

Wie die russischen Intelligenzler vom Kultur-Asketismus, dem ästhetischen Nihilismus und den mitunter ziemlich naiven und plumpen „antibürgerlicher“ Traditionen die ganze Zeit unbeirrt auf die Verhimmelung der kleinbürgerlichen Kultur zu schritten – ist eine sehr interessante Erzählung. Wir haben natürlich nicht die Absicht, sie hier wiederzugeben. Wir wollen nur zwei, drei Momente andeuten, die uns dazu verhelfen werden, die heutigen neuesten Tendenzen in die historische Perspektive einzuordnen. Vor allen Dingen: jetzt, da sich viele Zeiten und Fristen erfüllt haben, darf man hoffen, dass niemand mehr daran zweifelt, dass die anti-individualistischen Instinkte und antibürgerlichen Tendenzen der russischen Intelligenzler nichts anderes waren als Jugend-„Krankheiten“. Die geringe Zahl der Intelligenzler, ihre allseitige Weltfremdheit, Rechtlosigkeit und Armut, alles das zwang sie, sich zu „Gemeinschafts“haufen zusammenzuschließen; der harte Kampf um die Selbsterhaltung hat in ihnen den Zustand eines ständigen moralischen Hochgefühls erzeugt und hat sie in einen eigenartigen messianischen Orden verwandelt. Ihre feindliche Einstellung gegen den Allerwelts-Individualismus war im Grunde genommen nur die Kehrseite ihrer Armut. Keiner besitzt etwas, einer leiht vom anderen, und davon leben sie. Darin besteht das alte Geheimnis der von den radikalen russischen Intelligenzlern vertretenen politischen Ökonomie. Wenn aber der Schlüssel zu diesem theoretischen Rätsel bisher noch nicht gefunden wurde, so erschlägt das wirtschaftliche Wachstum des Landes das Rätsel selbst durch die Praxis, indem es eine Nachfrage nach dem mittleren Intelligenzler schafft, damit sein Einkommen steigert und – seinen moralischen Aufstieg hemmt. Der Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen ist natürlich nicht so einfach: aber er ist unbestreitbar. Auf die eine oder andere Weise blickt der gegenwärtige Intelligenzler, besonders in den Großstädten, skeptisch und herablassend lächelnd auf seine kürzliche Barbarei zurück. Seine „Persönlichkeit“ hat sich soweit geformt, dass er sich nicht mehr mit einem Gemeinschaftskamm kämmen will. Den russischen Studenten kann man jetzt im Ausland vom deutschen kaum unterscheiden: er zieht sich mit derselben pedantischen Sorgfalt an, kokettiert schon lange nicht mehr mit dem Russenhemd und dem zerzausten Haar, spielt gut Billard, studiert ziemlich fleißig, was er schon viele Jahre lang nicht getan hat, und tätschelt die Kellnerinnen in den Restaurants, was er früher nie offen zu tun wagte ...

In direktem Zusammenhang mit der einstigen kulturellen Askese der Intelligenzler stand ihr ästhetischer Nihilismus Das Basarowtum war nicht äußerliches Gehabe, sondern hatte seine tiefen sozialen Wurzeln. Diese aus verschiedenen Ständen hervorgegangenen Intelligenzler sagten den Ästheten der vierziger Jahre: uns interessiert keine Sixtinische Madonna – vor allen Dingen schon deshalb nicht, weil wir keine Ablassbriefe haben. Aus Widerspruchsgeist und nach dem Gesetz der Folgerichtigkeit wurden gut angefertigte Stiefel prinzipiell höher eingestuft als König Lear. Aber dieser auf den ersten Blick so grobe Nihilismus setzte in Wirklichkeit einen ungeheuren moralischen Enthusiasmus voraus. Shakespeare „abzulehnen“ bedeutete, einfach mit verbissenen Zahnen in sich selbst die ästhetischen Bedürfnisse wie manches andere zu unterdrücken – denn man hatte andere Sorgen: man musste den Besen in die Hand nehmen, um die Augiasställe zu säubern, aus denen zu alledem die Bewohner nicht fortgeführt waren ... Wir beabsichtigen nicht, jemanden zurückzurufen (dazu vertrauen wir viel zu sehr auf die Zukunft!), aber wir gestatten uns doch die Bemerkung, dass es in der traditionellen Askese der russischen Intelligenzler bei all ihrer äußere Unbeholfenheit unvergleichlich viel mehr echte Schönheit gegeben hat als in dem ganzen heutigen ästhetischen Geseire.

Unsere kümmerliche „Dekadenz“ der neunziger Jahre – das war doch die erste Proklamierung nicht eines adligen, sondern intelligenzlerisch-kleinbürgerlichen Ästhetizismus. Aber wie schüchtern war sie anfangs, geradezu feige! Sie wagte kaum, den absoluten Selbstzweck des ästhetischen (hauptsächlich erotischen) „Schauers“ auch nur anzudeuten, und suchte ihrem Protest gegen die „Tendenzhaftigkeit“, d. h. in Wirklichkeit gegen die großen, auf der Literatur lastenden moralischen und politischen Verpflichtungen, den Anschein eines Kampfes gegen die moralisierenden Volkstümler zu geben. Dies verhalf ihr dazu, sich unter den Schutz des damaligen journalistischen Marxismus zu stellen, der an und für sich die Dekadenten wenig interessiert! Es verband sie wohl auch noch psychologisch der Umstand, dass sie beide das „neue Wort“ verkündeten und dass sie beide in der Minderheit waren. Die Petersburger Zeitschrift Schisn, eine Kombination aus billigem Marxismus und billigem Ästhetizismus, auf gutem Papier und zu niedrigem Preis, war die Frucht dieser seltsamen Verbindung. Die kolossale, innerhalb von 24 Stunden entstandene Popularität Gorkis ist eine Erscheinung der gleichen Epoche. Nach der gängigen Definition war der Landstreicher das Symbol des Aufruhrs gegen das Kleinbürgertum Ganz nach Bedarf! Für breite Intelligenzlergruppen erwies er sich dagegen als Symbol des wiedererstandenen kleinbürgerlichen Individualismus. Herunter mit der Last! Es ist an der Zeit, den gebeugten Rücken zu strecken! Die Gesellschaft ist nur eine ungreifbare Abstraktion. Ich – das bin ich! Nietzsche kam zu Hilfe. Im Westen erschien er als das letzte, extremste Wort des philosophischen Individualismus in der Epoche der imperialistischen Spannung und darum – als Ablehnung und Überwindung des naiv-kleinbürgerlichen Individualismus. Bei uns hat man Nietzsche gezwungen, eine ganz andere Arbeit zu verrichten: seine lyrische Philosophie zerschlug man zu einzelnen Paradoxien und brachte sie als klingende Münze intelligenzlerischer Anmaßung in Umlauf ... Die Dekadenz des ersten Aufgebots, das Landstreichertum und das Nietzscheanertum waren eine verworrene, romantische und chaotische Eruption des neuen Selbstgefühls der Intelligenzler. Das sind die „Wanderjahre“ des Individualismus. Die nächste Periode – die Zeit der „Blüte“ der idealistischen Philosophie, d. h. der blassen Popularisierung Kants (Probleme des Idealismus) – unternimmt den Versuch, die „Landstreicher“-Individualität mit philosophischer Schmeichelei einzufangen, indem sie die Persönlichkeit zum Selbstzweck erklärt und zugleich unter das Geleit der „absoluten“ Normen der bourgeoisen Moral stellt.

Diese kleine philosophische Gaunerei hat die Aufgabe, die zum Anarchismus abirrende Individualität des Herrn Intelligenzlers vor den Wagen der kleinbürgerlichen Kultur zu spannen: „Ich bin der absolute Selbstzweck, aber über mir (oder in mir) lebt der kategorische Imperativ der Pflicht; darum muss ich die Pflichten eines Menschen und Bürgers erfüllen.“ Für die Zukunft hatte man die liberale Zähmung der Massen im Auge Der echte Nietzsche war eine Ablehnung und Überwindung Kants und der Kantianer, jener „durchtriebenen Sachwalter ihrer Vorurteile“. Unser Kantianer dagegen tauchte auf, um das Nietzscheanertum zu überwinden, und nach der Überwindung adoptierte er es, nach der Adoption begann er, es in der Befreiung für das künftige parlamentarische Leben zurechtzustutzen. Im Grunde genommen hat dieser Individualismus der ersten Periode von Gorki bis ... Kant psychologisch einen vollkommen oberflächlichen Charakter. Alles bewegt sich auf dem Gebiete der ästhetischen Antizipationen und philosophischen Projektionen Der Individualismus hat sich der Freiheit noch nicht bemächtigt, und deshalb behält die radikale Seele noch zu drei Vierteln ihre alten Inhalt. Eine große Arbeit stand noch bevor: den Individualismus aus dem philosophisch-ästhetischen, d. h. „feiertäglichen“ Bewusstsein in die Sphäre des Alltags zu überführen und ihm die ganzen seelischen Bedürfnisse zu überlassen. Den Hauptteil dieser Arbeit haben die Ereignisse der letzten drei Jahre besorgt. Sie haben viele nur noch aus Tradition erhalten geblieben Bindungen zerrissen, vieles entblößt, was verhüllt gewesen ist, vieles vertieft, was nur angedeutet war, und alle Klassen der Gesellschaft um viele Jahrzehnte älter werden lassen. Als sich die Fluten des revolutionären Stroms verliefen, musste man aus einer gewaltigen Masse von Eindrücken, von seelischem Gewinn und seelischem Verlust das Fazit ziehen. Für die Intelligenzler bedeutete dies vor allen Dingen, den gebrechlichen Adam alter asketischer Gewohnheiten, den radikalen Nihilismus und die primitiven antibürgerlichen Instinkte von sich abzustreifen. Nicht philosophisch abzustreifen irgendwo an der Spitze wie vor der Revolution, sondern psychologisch, so ganz aus dem Innern eines jeden Einzelnen.

Am leichtesten konnte man diese Aufgabe von der Seite angehen, die am wenigsten geschützt war: von der Seite des Sexus. Da die Geschichte vor nichts Ekel empfindet, hat sie nicht nur Kusmin, sondern auch Arzybaschew und sogar Pjotr Pilski dazu herangezogen. Das bei all seiner Dämonie Uneigennützige: „mir ist alles erlaubt“, (aus Nietzsche – nach dem Text von Schisn) verwandelte sich in einen recht praktischen Imperativ: nützet den günstigen Augenblick! Die Epoche der „Anarchie des Fleisches“ hat sich aufgetan. Das war dieselbe individualistische Romantik, nur dass sie von der Vernunft zur Ungebundenheit übergegangen war und in unserer groben empirischen Welt zu „dorefy“ [1] und „Liebesligen“ führte. Die geheiligte Selbstbestimmung stieß auf Polizeiprotokolle, wodurch die Zügelung der gärende geschlechtlichen Individualität zu einer völlig unaufschiebbaren Angelegenheit wurde. Und wie die Nietzscheromantik von dem philosophischen Idealismus gleichzeitig adoptiert und gebändigt wurde, so wurde jetzt der dekadent-erotische Hexensabbat adoptiert und gleichzeitig durch die Lehre vom religiösen Wert der Kultur diszipliniert. Der geschlechtliche Individualismus wird im Namen der Kultur in den Bereich der praktischen Vernunft eingeführt. Diese wiederholt im Gründe den kategorischen imperativ, nur in konkreten und gefühllosen Alltagsworten: „der Anarchismus des Fleisches ist euer unabdingbares Recht, das euch niemand (außer der Polizei) verbieten kann. Aber bemüht euch der Kultur und des Geldverdienens wegen in die Büros, Banken und Redaktionen – man kann doch nicht sein ganzes Leben lang in der Kneipe für literarische Genies herumlungern. – O weh, diese Stimme ist nicht zu überhören. Und der Herr Intelligenzler beginnt, sich zu säubern und zu waschen, er versteckt einige „Werke“ in einem verschwiegenen Winkel, entfernt von seinem Schreibtisch zwei oder drei allzu deutliche Gravuren und beeilt sich überhaupt, ein wohlanständiges Außeres anzunehmen.

Der alte Hegel hatte Recht, als er sagte, dass jede Entwicklung sich in ununterbrochenen Widersprüchen vollzieht. Um sich das Recht auf die goldene Mitte, auf kultiviert geschliffene Anschauungen, Urteile und Gefühle zu erobern, mussten die Intelligenzler von ihrer traditionellen Askese, ihrem ideellen Mönchstum den Weg durch eine wilde Haltlosigkeit, durch das Delirium der Dekadenz zur Selbstbestätigung ihrer Persönlichkeit nach krafft-ebingschen Vorbildern zurücklegen.

Natürlich haben nicht alle – und bei weitem sogar nicht der größere Teil – in der letzten .Offenbarung, des Individualismus eine aktive Rolle gespielt; denn die Mehrzahl der Intelligenzler aller Richtungen applaudiert nur, sympathisiert, lässt den Dingen ihren Lauf oder wäscht sich die Hände in Unschuld. So war es auch hier, und das wird in keiner Weise verhindern, dass auch ein Saninkapitel in die Geschichte der russischen Intelligenzler aufgenommen wird.

Wenn ideelle Widersprüche eine „normale“ Mechanik der Entwicklung darstellen, so ist das Tempo, in dem sie bei uns einander ablösen, allerdings höchst außergewöhnlich. Die einzelnen Momente im Prozess der Metamorphosen der Intelligenzler flimmern wie auf der Kinoleinwand Das erklärt sich aus der allgemeinen Verzögerung unserer historischen Entwicklung. Wir sind viel zu spät gekommen und sind darum dazu verurteilt, die Geschichte nach der Kurzfassung des europäischen Lehrbuches durchzunehmen. Kaum verzeichnet unsere gesellschaftliche Lebenslinie einen neuen knick, der eine neue Ideologie erforderlich macht, und schon überschüttet uns Europa mit den entsprechenden Reichtümern seiner Philosophie, Literatur und Kunst. Nietzsche ... Kant ... Marquis de Sade ... Schopenhauer ... Oscar Wilde ... Renan ... Was dort in Europa in Zuckungen und Krämpfen geboren wurde oder sich unbemerkt als Produkt einer komplizierten Kulturepoche bildete, das belastet uns lediglich mit den Kosten für Übersetzung und Druck. Der Überfluss an fertigen philosophischen und künstlerischen Formen beschleunigt die Ideenevolution unserer Intelligenzler, verwandelt zweitrangige Kollisionen in scharfe, aber vorübergehende Krisen und verleiht auf diese Weise dem gesamten Prozess einen flüchtigen und oberflächlichen Charakter. Zwei verwandte Schattierungen, die in gleicher Weise den kürzesten Weg in das Reich der kleinbürgerlichen Kultur suchen, bekämpfen einander plötzlich wie zwei bis an die Zähne mit Waffen europäischer Arsenale ausgerüstete gefährliche Systeme. Noch einen Augenblick, so scheint es, und das ganze Schlachtfeld liegt voller Leichen. Aber kaum haben sie Zeit gehabt sich die Augen zu reiben, schreiten schon beide feindlichen Parteien, Dekadenzler und Parnassiens, Mystiker und Positivisten, Asketen und Nietzscheaner zum Versöhnungsmahl in das Restaurant Wien. Die Sammlung Literaturnyj Raspad (Literarischer Zerfall) wurde geplant, als die ästhetische Erotik gerade anfing, epidemischen Charakter anzunehmen, sie wurde in Satz gegeben, als die Arzybaschew-Richtung ihren Höhepunkt erreicht hatte, und wurde veröffentlicht, als sich bereits Anzeichen einer Rückentwicklung bemerkbar machten.

Wahrhaftig – wir leben hastig und haben es mit den Gefühlen eilig. Und jetzt ist es schon gar nicht schwer vorauszusagen, dass die neue Sammlung des gleichen Typs, die man, soweit uns bekannt, unter dem Einfluss des Erfolges von Raspad an verschiedenen Orten vorbereitet, endgültig zu spät kommen wird, weil heute nicht mehr die geschlechtliche Romantik als Parole dient – nicht der dämonische Orgiasmus und nicht die geniale Torheit, sondern eine kultivierte Ausgeglichenheit und solide Vielseitigkeit. Von der nomadisierenden seelischen Lebensweise beeilt sich der gestrige „Orgiast“ zur sesshaften Lebensweise überzugehen. Sparsam und bedachtsam teilt er seine Aufmerksamkeit und seinen Enthusiasmus zwischen Puschkin und den Pikanterien neuester Fabrikation, zwischen moralischer Korrektheit und der Körperhygiene, zwischen unermüdlicher Liebe und automatischer Höflichkeit im Umgang. Aus den gigantischen Erschütterungen der letzten Jahre geht er hervor, als käme er aus römischen Thermen (um nicht zu sagen aus einer Moskauer Badestube) – gereinigt, besänftigt und kultiviert-selbstzufrieden

Schließlich ist er dann tatsächlich Selbstzweck. Die naiven Vorstellungen von einer „Verpflichtung dem Volk gegenüber“ hat er schon weit hinter sich gelassen. Das Volk bleibt für sich, und er bleibt für sich. Das bedeutet, dass sie beim ersten großen Anlass auf verschiedenen Seiten der Barrikade stehen werden.

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Anmerkung

1. dorefy — Abkürzung von „do reformy“, d. h. „vor der Reform“.


Zuletzt aktualiziert am 6. Dezember 2024