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Nach Die Neue Zeit, 26. Jahrgang, 2. Band, Nr. 51 (18. September 1908), S. 900–909.
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Tolstoi hat das achtzigste Lebensjahr erreicht und steht jetzt vor uns gleich einem alten, moosbedeckten Felsstück aus einer anderen geschichtlichen Welt. ... Es ist etwas Sonderbares darum: nicht nur ein Karl Marx, sondern – um einen Namen aus einem Tolstoi näheren Gebiet zu nennen – auch ein Heinrich Heine scheinen noch heute unter uns zu weilen. Von unserem großen Zeitgenossen aus Jasnaja Poljana aber trennt uns schon jetzt der unüberbrückbare Strom der alles scheidenden Zeit. Tolstoi war dreiunddreißig Jahre alt, als die Leibeigenschaft in Russland fiel Er war ausgewachsen und hatte sich gebildet als Spross der „zehn durch die Arbeit nicht mürbe gemachten Generationen“, in der Atmosphäre des alten russischen Landadels mit seinem ganzen Grandseigneurgepräge, inmitten der angestammten Felder, in dem geräumigen Herrenhaus, im friedlichen Schatten der adeligen Lindenalleen. Die Traditionen des Landadels, seine Romantik, seine Poesie, den ganzen Stil seines Lebens hatte Tolstoi für immer unauslöschlich in sich aufgesogen, dass sie zum organischen Bestandteil seines Geistes wurden. Er war seit den ersten Jahren seines Bewusstseins und ist auch noch heute Aristokrat im letzten tiefsten Urquell seines Schaffens – trotz allen späteren Wandlungen seines Geistes.
In dem Stammschloss der Fürsten Wolkonsky, das auf das Geschlecht der Tolstois überging, bewohnt der Dichter von „Krieg und Frieden“ ein schlicht ausgestattetes Zimmer, wo an der Wand eine Säge hängt und in der Ecke eine Sense und eine Zimmermannsaxt lehnen. Aber in dem oberen Stockwerk desselben Hauses blicken von den Wänden gleich erstarrten Wächtern seiner Traditionen die stolzen Ahnenbilder einer Reihe von Generationen. Das ist ein Symbol! In der Seele des Hausherrn finden wir beide Etagen – nur in umgekehrter Ordnung: während in den oberen Regionen des Bewusstseins die Philosophie des Schlichtwerdens und des Aufgehens im Volke sich ein Nest gebaut hat, grüßt uns von unten, von dort, wo die Gefühle, die Leidenschaften und der Wille wurzeln, eine lange Galerie adeliger Ahnherren.
Im Zorne der Reue sagte sich Tolstoi von der lügnerischen und eitlen Kunst los, die mit den künstlich großgezogenen Sympathien der herrschenden Klassen Götzendienst treibt und deren Kastenvorurteil durch die Lüge der falschen Schönheit kultiviert. Was aber sehen wir später? In seinem letzten großen Werke, der „Auferstehung“, macht er zum Mittelpunkt seiner künstlerischen Aufmerksamkeit gerade den an Geld und Ahnen reichen russischen Gutsbesitzer und umgibt ihn so sorgsam mit dem goldenen Spinngewebe der aristokratischen Verbindungen, Gewohnheiten und Erinnerungen, als ob es außerhalb dieser „eitlen“ und „lügnerischen“ Welt auf dem Erdenrund nichts Bedeutendes und Schönes gäbe. ...
Von dem Gutshof führt ein gerader und kurzer Steg zu dem Bauernhaus. Tolstoi der Dichter hat oft und mit Liebe diesen Weg zurückgelegt, noch bevor Tolstoi der Moralist aus ihm den Rettungsweg machte. Der Bauer gilt ihm auch nach der Abschaffung der Leibeigenschaft als sein „eigen“ – als ein untrennbarer Teil seiner äußeren Umgebung und seines inneren Wesens. Hinter seiner unzweifelhaften „physischen Liebe zu dem wahren Arbeitervolk“ guckt ebenso unzweifelhaft sein aristokratischer Kollektivahne hervor – nur durch einen Künstlergenius verklärt.
Gutsbesitzer und Bauer – das sind schließlich die einzigen Personen, die Tolstoi in das Allerheiligste seines Schaffens ausnahm. Aber niemals – weder vor noch nach seiner Krise – befreite er sich oder strebte er sich zu befreien von der echt herrenmäßigen Verachtung für alle jene Figuren, die zwischen dem Gutsbesitzer und dem Bauern stehen oder ihren Platz außerhalb dieser geheiligten Pole der alten Ordnung innehaben, als da sind der deutsche Gutsverwalter, der Kaufmann, der französische Erzieher, der Arzt, der „Intelligenzler“ und endlich der Fabrikarbeiter mit Uhr und Kette. Er empfindet niemals das Bedürfnis, diese Typen zu erfassen, ihnen tiefer in die Seele zu schauen, sie nach ihrem Glauben zu befragen und an seinem Künstlerauge ziehen sie als unbedeutende und meistenteils komische Silhouetten vorüber. Dort, wo er uns zum Beispiel Revolutionäre der siebziger oder achtziger Jahre vorführt („Auferstehung“), variiert er einfach in dem neuen Milieu seine alten Adeligen- oder Bauerntypen oder gibt er uns rein äußerliche humoristisch angehauchte Skizzen, Sein Nowodworow kann mit ebenso wenig Berechtigung auf den Typus eines russischen Revolutionärs Anspruch machen, als Lessings Riccaut de la Marlinière auf den eines französischen Offiziers.
Zu Beginn der sechziger Jahre, als Russland von der Flut der neuen Ideen und, was noch wesentlicher ist, der neuen sozialen Verhältnisse überschwemmt wurde, hatte Tolstoi, wie erwähnt, ein Dritteljahrhundert hinter sich: in psychologischem Sinne war er ein vollkommen abgeschlossener Mensch. Es ist wohl kaum notwendig, hervorzuheben, dass Tolstoi nicht zum Apologeten des Leibeigenschaftsrechtes wurde wie sein intimer Freund Fet (Schenschin), der Gutsbesitzer und seine Lyriker, in dessen Seele neben den zartesten Erlebnissen der Natur und der Liebe die Verehrung für die Hetzpeitsche Raum hatte. Aber Tolstoi fasste einen tiefen Groll gegen die neuen Verhältnisse, die die alten abzulösen im Begriff waren. „Ich persönlich sehe keine Milderung der Sitten“, schrieb er 1861, „und halte es nicht für nötig, aufs Wort zu glauben. Ich kann zum Beispiel nicht finden, dass das Verhältnis des Fabrikanten zu dem Arbeiter menschlicher geworden ist als das des Gutsbesitzers zu den Leibeigenen.“
Der Wirrwarr und die Regellosigkeit überall und in allem, der Niedergang des alten Adels, der Zerfall des Bauerntums, das allgemeine Chaos, der Schutt und der Staub der Zerstörung, der Trubel und das Getöse des Stadtlebens, das Wirtshaus und die Zigarette auf dem Dorfe, der Gassenhauer des Fabrikarbeiters anstatt des erhabenen Volkslieds – das alles widerte ihn als Aristokraten und Künstler an. Er kehrte sich psychologisch von diesem gewaltigen Prozess ab und versagte ihm ein für allemal jede künstlerische Anerkennung. Er brauchte nicht der Sklaverei der Leibeigenschaft das Wort zu reden, um mit ganzer Seele bei jenen Verbindungen zu bleiben, in denen er weise Einfachheit sah und in denen er künstlerische Formvollkommenheit zu entdecken wusste. Dort reproduziert sich das Leben von Geschlecht zu Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert in völliger Unwandelbarkeit. Dort herrscht allmächtig die heilige Notwendigkeit. Jeder Schritt hängt ab von der Sonne, dem Regen, dem Winde, dem Wachsen des Grases. Dort ist nichts von der eigenen Vernunft oder dem rebellischen persönlichen Wollen zu finden. Also existiert dort auch keine persönliche Verantwortlichkeit. Alles ist im Voraus geregelt, gerechtfertigt und geheiligt. Für nichts verantwortlich, jeder eigenen Erfindung bar, lebt der Mensch nur gehorchend – sagt der hervorragende Dichter der „Macht der Erde“, Gleb Uspenski –, und dieses unausgesetzte Gehorchen, in unausgesetztes Abmühen verwandelt, bildet eben das Leben, das scheinbar zu keinem Resultat führt, aber in sich selbst schon das Resultat einschließt ... Und o Wunder! Tiefe sklavische Abhängigkeit, ohne Reflexion und ohne Wahl, ohne Fehltritte und ohne Reuequalen, ist es, die die große sittliche „Leichtigkeit“ des Daseins unter der harten Vormundschaft der „Roggenähre“ schafft. Mikula Seljaninowitsch, der bäuerliche Held des alten Volksepos, sagt von sich: „Mich liebt die Mutter Erde.“
Das ist der religiöse Mythos der russischen Narodnitscheswo, des „Volkstümlers“, der jahrzehntelang die Seele der russischen Intelligenz beherrschte. Vollkommen unnahbar für deren radikalen Tendenzen, blieb Tolstoi stets er selbst, und in dem Narodnitscheswo bildete er dessen aristokratisch-konservativen Flügel.
Um das russische Leben künstlerisch so wiederzugeben, wie er es kannte, verstand und liebte, musste Tolstoi sich in die Vergangenheit zurückziehen, ganz in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Krieg und Frieden (1867 bis 1869) ist sein höchstes und unübertroffenes Werk.
Die unpersönliche Massenhaftigkeit des Lebens und seine heilige Verantwortungslosigkeit verkörperte Tolstoi in seinem Karatajew, dem für den europäischen Leser am wenigsten verständlichen, jedenfalls ihn am fremdartigsten anmutenden Typus „Das Leben Karatajews, wie er es selbst sah, hatte keinen Sinn als einzelnes Leben. Es hatte Sinn nur als Teil eines Ganzen, welches er stets empfand. Zuneigungen, Freundschaften, Liebe, wie Pierre sie verstand, kannte Karatajew nicht, aber er liebte und lebte in Liebe zu allem, was er im Leben traf, insbesondere aber zu dem Menschen. ... Pierre (Graf Besuchoj) fühlte, dass Karatajew, trotz feiner freundschaftlichen Zärtlichkeit für ihn, keine Minute lang betrübt würde, wenn er sich von ihm trennen müsste,“ Das ist das Stadium, wo der Geist, um mit Hegel zu sprechen, die Innerlichkeit noch nicht erlangt hat und wo er sich daher nur als natürliche Geistigkeit zeigt. Ungeachtet der Episodenhaftigkeit seines Auftretens bildet Karatajew die philosophische, wenn nicht künstlerische Achse des ganzen Romans. Kutusow, aus dem Tolstoi einen Nationalhelden macht, das ist derselbe Karatajew – nur in der Stellung eines Oberkommandierenden. Im Gegensatz zu Napoleon besitzt er weder eigene Pläne noch eigenen Ehrgeiz. In seiner halb bewussten und daher rettenden Taktik lässt er sich nicht von der Vernunft leiten, sondern von dem, was über der Vernunft steht: dem ahnenden Instinkt der physischen Bedingungen und den Eingebungen des Volksgeistes. Der Zar Alexander in seinen besten Minuten ebenso wie der letzte seiner Soldaten – alle stehen in gleicher Weise unter demselben Banne der Erde. In dieser sittlichen Einheit liegt das Pathos des Werkes.
Wie armselig ist doch im Grunde dieses alte Russland mit seinem von der Geschichte so stiefmütterlich behandelten Adel – ohne stolze Standesvergangenheit, ohne Kreuzzüge, ohne Ritterminne und Ritterturniere, selbst ohne romantische Raubzüge auf der großen Straße! Wie arm an innerer Schönheit, wie schonungslos degradiert ist doch das herdenartige, halb tierische Dasein seiner Bauernmassen!
Aber welches Wunder der Umgestaltung schafft der Genius! Aus dem rohen Material dieses grauen und farblosen Lebens zieht er seine verborgene Schönheit ans Tageslicht. Mit homerischer Ruhe, mit homerischer Liebe zu den Kindern seines Geistes beschenkt er alle und alles mit seiner Aufmerksamkeit: den Oberkommandierenden das Hofgesinde des Gutsbesitzers, das Pferd des Kavalleristen, das halbwüchsige Grafentöchterchen, den Muschik, den Zaren, die Laus im Hemde des Soldaten, den alten Freimaurer – er gibt keinem den Vorzug, lässt keinen zu kurz kommen. Schritt um Schritt, Zug um Zug malt er ein unendliches Panorama, in dem alle Teile durch ein unzerreißbares inneres Band aneinander geschmiedet sind. Tolstoi schafft, ohne sich zu überhasten, wie das Leben sich nicht überhastet, das er vor uns ausrollt: siebenmal schreibt er sein kolossales Werk um! Das Erstaunlichste an diesem titanischen Schaffen ist vielleicht der Umstand, dass der Künstler weder sich selbst noch dem Leser die Freiheit gestattet, seine Sympathien an einzelne Personen zu hängen. Niemals zeigt er uns seine Helden, wie das der ihm missliebige Turgenjew tut, bei bengalischer Beleuchtung ober im Blitzlicht des Magnesiums, niemals sucht er für sie günstige Posen, er verbirgt nichts und verschweigt nichts. Den unruhigen Wahrheitssucher Pierre zeigt er uns am Schlusse als stillvergnügten Familienvater; die in ihrer halb kindlichen Feinfühligkeit rührende Natascha Rostow verwandelt er mit göttlicher Mitleidslosigkeit in ein beschränktes Weibchen mit schmutzigen Kinderwindeln in den Händen. Zu gleicher Zeit aber wächst aus dieser gleichsam leidenschaftslosen Aufmerksamkeit für die einzelnen Teile die mächtige Apotheose des Ganzen heraus, in der alles durch die innere Notwendigkeit und Harmonie vergeistigt ist. Es wäre vielleicht richtig, von diesem Schaffen zu sagen, dass es von ästhetischem Pantheismus durchdrungen ist, für den es nichts Schönes,, nichts Abstoßendes, nichts Großes, nichts Kleines gibt, weil für ihn groß und schön nur das Leben im Ganzen ist, im ewigen Wechsel seiner Erscheinungen. Das ist die echte landwirtschaftliche Ästhetik, unerbittlich konservativ ihrer Natur nach, die die Epopöe Tolstois dem Pentateuch und der Ilias verwandt macht.
Zwei spätere Versuche Tolstois, für die ihm liebsten psychologischen Gestalten im Rahmen der historischen Vergangenheit Platz zu finden, und zwar in der Epoche Peters I. und der der Dekabristen, scheiterten an der Feindseligkeit des Dichters gegen die fremdländischen Einflüsse, die diesen beiden Epochen ein so grelles Gepräge verleihen. Aber auch dort, wo Tolstoi unseren Zeitläufen näher kommt, wie in Anna Karenina (1873), bleibt er dem in der Gesellschaft eingetretenen Wirrwarr innerlich fremd, und unbeugsam-hartnäckig in seinem Künstlerkonservativismus verringert er die Weite seines Flügelschwungs und sondert aus der Masse des russischen Lebens nur die unversehrt gebliebenen Adelsoasen heraus, mit dem alten Stammschloss, den Ahnenbildern und den üppigen Lindenalleen, in deren Schatten sich von Geschlecht zu Geschlecht der Kreislauf der Geburt, des Lebens und des Todes vollzieht.
Das seelische Leben seiner Helden schildert Tolstoi ebenso wie die Lebensweise in ihrer Heimat: ruhig, ohne Hast, ohne Überstürzung des inneren Ganges der Gefühle, der Gedanken und des Dialogs. Er eilt nirgends und kommt niemals zu spät. In seinen Händen laufen die Fäden vieler Schicksale zusammen,, keinen einzigen verliert er aus dem Auge. Gleich einem unermüdlich wachsamen Hausherrn führt er im Kopfe lückenlose Rechnung über alle Teile seines gewaltigen Besitzstandes. Es scheint, als beobachte er nur, und die Natur selbst verrichte die Arbeit. Er wirft den Samen in den Ackerboden und wartet, wie ein weiser Landwirt, bis im natürlichen Prozess Holm und Ähre in die Höhe sprießen. Man wäre versucht zu sagen, er sei ein genialer Karatajew mit seiner stummen Resignation vor den Gesetzen der Natur. Er wird nie die Hand an die Knospe legen, um gewaltsam ihre Blättchen zu entfalten: er wartet, bis sie sich unter der Wirkung der Sonnenwärme von selbst entfaltet. Fremd und tief verhasst ist ihm jene Ästhetik der großstädtischen Kultur, die in selbstverzehrender Gier die Natur vergewaltigt und martert, indem sie von ihr nur Extrakte und Essenzen fordert und mit krampfhaft zuckenden Fingern auf der Palette Farben sucht, die das Sonnenspektrum nicht enthält.
Die Sprache Tolstois ist ebenso wie sein ganzer Genius: ruhig, gemächlich, wirtschaftlich-sparsam jedoch nicht asketisch; muskulös, teilweise schwerfällig, rau, – immer einfach und in ihren Resultaten unvergleichlich! Sie sticht in gleicher Weise wie von dem lyrischem kokett angehauchten, glänzenden und seiner Schönheit bewussten Stil Turgenjews, so auch von dem schneidenden, sich überstürzenden und holprigen Stil Dostojewskis ab.
In einem seiner Romane stellt der Städter Dostojewski, dieses Genie mit unheilbar verwundetem Herzen, der wollüstige Dichter der Grausamkeit und des Mitleids, in tiefsinniger und treffender Weise sich selbst als den Künstler der neuen „zufälligen russischen Familien“ dem Grafen Tolstoi gegenüber, dem Sänger der abgeschliffenen Formen der adeligen Vergangenheit. „Wenn ich russischer Romanschriststeller wäre und Talent hätte,“ sagt er in der Gestalt eines anderen, „so würde ich meine Heiden gewiss unter dem russischen Geschlechtsadel wählen, denn nur in jener Sphäre gebildeter Russen ist wenigstens der äußere Schein schöner Zucht und Ordnung, edler Motive noch zu finden. ... Ich meine das in allem Ernste, wiewohl ich selbst wie Sie ja wissen, kein Edelmann bin. ... Glauben Sie mir, es ist darin wirklich alles enthalten, was mir bisher Schönes auszuweisen haben, wenigstens alles einigermaßen Fertige, Vollendete. Ich sage das nicht, weil ich unbedingt von der Vollkommenheit und Berechtigung jener Schönheit überzeugt wäre; aber sie gab uns doch schon zum Beispiel feste Formen der Ehre und der Pflicht, welche außer unter dem Abel nirgends in ganz Russland, nicht einmal in den ersten Anfängen, geschweige denn in vollendeter Gestalt, anzutreffen sind. ... Der Weg, den der von uns vorausgesetzte Romanschreiber einzuschlagen hätte,“ fährt Dostojewski fort, unzweifelhaft von Tolstoi sprechend, ohne ihn dabei zu nennen, „wäre ein ganz bestimmter: er könnte nur das historische Genre wählen, denn schöne edle Gestalten gibt es in unserer Zeit nicht mehr, und der von früher noch verbliebene Rest hat, der jetzigen Meinung zufolge, die wahre Schönheit schon eingebüßt.“
Zugleich mit den „schönen Gestalten“ schwand nicht nur das unmittelbare Objekt des künstlerischen Schaffens, sondern kamen auch die Grundpfeiler des sittlichen Fatalismus Tolstois und seines ästhetischen Pantheismus ins Wanken: das heilige Karatajewtum der tolstoischen Seele ging zugrunde. Alles, was früher selbstverständlicher Teil eines unbezweifelten Ganzen gewesen war, verwandelte sich in ein Bruchstück und daher in eine Frage. Vernunft wird Unsinn. Und – wie immer – eben in dem Moment, wo das Leben seinen alten Sinn verlor, fragte sich Tolstoi nach dem Sinne des Lebens überhaupt. Es beginnt (in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre) die große seelische Krise nicht im Leben des Jünglings, sondern im Leben des Mannes von 50 Jahren! Tolstoi kehrt zu Gott zurück, nimmt die Lehre Christi an, verwirft die Teilung der Arbeit, der Kultur, den Staat und wird der Prediger der landwirtschaftlichen Arbeit, der Einfachheit und des Verzichts auf Abwehr des Bösen durch Gewalt.
Je tiefer der innere Bruch war – der fünfzigjährige
Künstler trug sich nach dem eigenen Geständnis lange Zeit
mit dem Gedanken an Selbstmord! –, um so erstaunlicher muss es
scheinen, dass Tolstoi schließlich im Grunde genommen zu seinem
Ausgangspunkt zurückkehrte. Die landwirtschaftliche Arbeit
– ist das nicht die Grundlage, aus der sich das Epos von „Krieg
und Frieden“ abrollt? Die Rückkehr zu Einfachheit, das
Sichversenken in die Volksseele, wenigstens in geistigem Sinne –
liegt darin nicht die ganze Stärke Kutusows? Die Verwerfung der
Abwehr des Bösen durch Gewalt – durchdringt denn
nicht die fatalistische Resignation den ganzen Karatajew? Ist dem
aber so, worin besteht denn die Krise Tolstois? Darin, dass
das Geheime, unter dem Boden Wurzelnde die Rinde sprengt und in die
Sphäre des Bewusstseins übergeht: weil die natürliche
Geistigkeit zugleich mit der „Natur“, in der sie sich
verkörperte, geschwunden ist, strebt der Geist, die
Innerlichkeit zu erlangen. Jene automatische Harmonie, gegen die der
Automatismus des Lebens selbst sich auflehnte, muss von nun an durch
die bewusste Kraft der Idee geschützt und erhalten werden. In
dem konservativen Kampfe um seine sittliche und ästhetische
Selbsterhaltung ruft der Künstler den moralisierenden
Philosophen zu Hilfe.
Wer von diesen beiden Tolstois – der Dichter oder der Moralist – sich eine größere Popularität in Europa errang, wäre nicht leicht zu entscheiden. Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass hinter dem wohlwollend-herablassenden Lächeln des bürgerlichen Publikums über die heilige Einfalt des Greises von Jasnaja Poljena sich das Gefühl einer eigenartigen sittlichen Befriedigung verbirgt: ein berühmter Dichter, ein Millionär, einer „unserer Leute“, noch mehr: ein Aristokrat – trägt aus sittlichen Motiven eine Bluse und Bastschuhe und spaltet Holz! Man sieht darin gewissermaßen das Auf-sich-nehmen der Sünden einer ganzen Klasse, einer ganzen Kultur. Natürlich lässt sich’s trotzdem der Spießbürger nicht nehmen, auf Tolstoi von oben herab zu sehen und sogar leichte Zweifel in seine volle Zurechnungsfähigkeit zu setzen. So hat zum Beispiel der nicht unbekannte Max Nordau, einer jener Herren, die die Philosophie des alten ehrlichen Smiles mit einigem Zynismus gewürzt in die Hanswursttracht eines Sonntagsfeuilletons kleiden, an der Hand seines Taschen-Lombroso die Entdeckung gemacht, dass Leo Tolstoi alle Zeichen der Entartung an sich trage. Für diese Hausierer beginnt der Wahnsinn dort, wo der Profit aufhört.
Ob aber seine bürgerlichen Verehrer auf ihn argwöhnisch oder ironisch oder wohlwollend blicken, er bleibt so oder so für sie – ein psychologisches Rätsel. Wenn man seine wenigen unbedeutenden Jünger und Propagandisten ausnimmt – einer von ihnen, Menschikow, spielt jetzt die Rolle eines russischen Hammerstein! –, so muss konstatiert werden, dass Tolstoi der Moralist seit den letzten dreißig Jahren seines Lebens stets völlig einsam dastand. Wahrhaft die tragische Lage eines Rufenden in der Wüste! ... Ganz unter dem Banne seiner landwirtschaftlich-konservativen Sympathien, verteidigt Tolstoi unaufhörlich, unermüdlich und siegreich seine geistige Welt gegen die ihr von überall her drohenden Gefahren. Ein für allemal zieht er eine tiefe Furche zwischen sich und allen Sorten des bürgerlichen Liberalismus – und schleudert in erster Linie den in unserer Zeit allgemeinen Aberglauben des Fortschritts weit beiseite.
„Herrlich“, ruft er aus, „sind die elektrische Beleuchtung, das Telephon, die Ausstellungen, die Hallen mit ihren Konzerten und Vorstellungen, die Zigarren- und Streichholzbüchsen, die Hosenträger und die Motoren; in alle Ewigkeit verdammt aber seien nicht nur sie, sondern auch alle Eisenbahnen und alle Fabrikkattune und -tuche in der ganzen Welt, wenn es zu ihrer Erzeugung nötig ist, dass neunundneunzig Hundertstel der Menschheit in Sklaverei leben und zu Tausenden in den Fabriken zugrunde gehen.“
Die Teilung der Arbeit bereichert uns und verschönt unser Leben? Aber sie verstümmelt ja die lebendige Seele des Menschen. Nieder mit der Teilung der Arbeit!
Die Kunst? Aber die wahre Kunst muss alle Menschen in der Gottesidee vereinigen und nicht trennen. Unsere Kunst dient dagegen nur wenigen Auserwählten. Sie scheidet die Menschen, und daher ist Lüge in ihr. Und Tolstoi verwirft mannhaft die „lügnerische“ Kunst – Shakespeare, Goethe, sich selbst, Wagner, Böcklin.
Er wirst von sich die Sorge um die Wirtschaft, um Bereicherung und kleidet sich in Bauerngewänder, womit er gleichsam die symbolische Handlung für seine Lossagung von der Kultur vollzieht. Was verbirgt sich aber hinter diesem Symbol? Was wird in ihm der „Lüge“, das heißt dem historistischen Prozess gegenübergestellt?
Die soziale Philosophie Tolstois könnten wir an der Hand seiner Werke – indem wir uns einige Gewalt antun – in Form folgender „Programmthesen“ darstellen:
Entfernen wir aus diesem Schema den allem Anschein nach ganz für sich allein stehenden Punkt 4 von der religiös-sittlichen Vervollkommnung, so erhalten wir ein ziemlich abgeschlossenes anarchistisches Programm: in erster Linie haben wir den rein mechanischen Begriff von der Gesellschaft als dem Produkt böser Rechtsbestimmungen; ferner die formale Verneinung des Staates und der Politik überhaupt, und endlich, als Methode des Kampfes, den Generalstreik und den allgemeinen Boykott, die Rebellion der gekreuzten Arme. Wenn wir aber die religiös-sittliche These ausschalten, so beseitigen wir damit eigentlich den einzigen Nerv, der dieses ganze rationalistische Gebäude mit seinem Schöpfer – der Seele Tolstois – verbindet. Für ihn – gemäß allen Bedingungen seiner Entwicklung und seiner Lage – besteht die Ausgabe nicht darin, an Stelle der kapitalistischen Ordnung die „kommunistische“ Anarchie aufzurichten, sondern darin, die Ordnung der ländlichen Dorfgemeinde vor den „äußeren“ zerstörenden Einflüssen zu „bewahren“. Wie in dem Narodnitschestwo, so auch in seinem „Anarchismus“ stellt Tolstoi das agrar-konservative Prinzip dar. Gleich der ursprünglichen Freimaurerei, die sich zum Ziele setzte, auf ideologischem Wege in der Gesellschaft die unter den Schlägen der ökonomischen Entwicklung in Trümmer gegangene kasten-zünftlerische Moral der gegenseitigen Hilfe wiederherzustellen und zu festigen, will Tolstoi durch die Macht der religiös-sittlichen Idee die primitive naturalwirtschaftliche Lebensweise wiederauferstehen lassen. Aus diesem Wege wird er zum konservativen Anarchisten, denn ihm ist es vor allem darum zu tun, dass der Staat die rettende Karatajewsche Gemeinde mit den Geißeln seines Militarismus und den Skorpionen seines Fiskus verschone. Der die Erde füllende Kampf zweier Welten: der bürgerlichen und der sozialistischen, von deren Ausgang das Schicksal der Menschen abhängt, existiert für Tolstoi überhaupt nicht Der Sozialismus blieb für ihn immer eine ihn wenig interessierende Unterart des Liberalismus. In seinen Augen erschienen Marx und Bastiat als Vertreter eines und desselben „lügnerischen Prinzips“: der kapitalistischen Kultur, des landlosen Arbeiters, des Staatszwanges. Wenn einmal die Menschheit überhaupt auf einen falschen Weg geraten sei, bleibe es fast gleichgültig, ob sie eine Strecke mehr oder weniger zurücklegen werde. Rettung könne nur die völlige Umkehr bringen!
Tolstoi kann nie genug Worte der Verachtung für die Wissenschaft finden, welche der Ansicht sei, dass, wenn wir noch sehr lange nach den Gesetzen des historischen, soziologischen und sonstigen Fortschritts sündhaft leben werden, unser Leben schließlich selbst sehr gut werden müsse. Das Böse, sagt Tolstoi, muss sofort ausgerottet werden, und dazu genügt es, zu begreifen, dass das Böse bös ist. Alle sittlichen Gefühle, die die Menschen historisch miteinander verbinden, und alle religiös-moralischen Fiktionen, die aus diesen Verbindungen entstanden sind, verwandeln sich bei Tolstoi in die allerabstraktesten Gebote der Liebe, der Askese und der Nichtvergeltung des Bösen, und da diese Gebote jedes historischen und folglich jedes Inhaltes überhaupt beraubt sind, scheinen sie ihm für alle Zeiten und alle Völker geeignet.
Tolstoi erkennt die Geschichte nicht an. Das ist die Grundlage seines ganzen Denkens. Daraus beruht die metaphysische Freiheit seiner Verneinung, wie auch die praktische Wirkungslosigkeit seiner Predigt. Jenes menschliche Leben, welches er akzeptiert – das ehemalige Leben der ackerbautreibenden Uralkosaken in den freien Uralsteppen-, verlief außerhalb jeder Geschichte; es reproduzierte sich ohne Formwandel, wie das Leben im Bienenstock oder im Ameisenhaufen. Das aber, was die Menschen Geschichte nennen, ist ihm das Produkt des Unsinns, der Irrtümer, der Grausamkeiten, die die wahre Seele der Menschheit entstellten. Furchtlos-konsequent wirft er zugleich mit der Geschichte auch deren Ergebnisse zum Fenster hinaus. Zeitungen sind ihm verhasst als Dokumente der heutigen Zeit. Alle Wellen des Weltozeans will er mit seiner alten Brust zurück dämmen.
Die historische Blindheit Tolstois macht ihn kindlich hilflos im Reiche der sozialen Fragen. Seine Philosophie ist eine chinesische Malerei. Die Ideen der verschiedensten Epochen sind nicht perspektivisch angeordnet, sondern erscheinen alle in gleicher Entfernung vom Beschauer. Gegen den Krieg operiert er mit Argumenten der reinen Logik, und um ihnen größeren Nachdruck zu verleihen, zitiert er Epiktet und Molinari, Laotse und Friedrich II., den Propheten Jesaja und den Feuilletonisten Hardouin, das Orakel der Pariser Boutiquiers. Die Schriftsteller, Philosophen und Propheten repräsentieren in seinen Augen nicht ihre Epochen, sondern die ewigen Kategorien der Moral. Konfutse schreitet bei ihm in einer Reche mit Harnack, und Schopenhauer sieht sich in einer Gesellschaft nicht nur mit Christus sondern auch mit Moses.
In diesem tragischen Einzelkampf gegen die Dialektik der Geschichte, der er sein „Ja – Ja“, „Nein – Nein“ entgegensetzt, verfällt Tolstoi auf Schritt und Tritt in ausweglose Widersprüche. Und er zieht aus ihnen einen Schluss, der seines genialen Starrsinns durchaus würdig ist: „Die Vernunftwidrigkeit“, sagt er, „die in dem Verhältnis zwischen der Lage des Menschen und seiner sittlichen Tätigkeit liegt, ist das sicherste Anzeichen der Wahrheit.“
Aber dieser idealistische Hochmut trägt in sich selbst die Vergeltung: es dürfte schwer fallen, einen anderen Schriftsteller zu nennen, der von der Geschichte gegen seinen Willen so grausam ausgebeutet worden wäre wie gerade Tolstoi.
Er, der mystische Moralist, der Feind der Politik und der Revolution, nährt im Laufe einer Reihe von Jahren das dämmernde revolutionäre Bewusstsein zahlreicher Gruppen des Volkssektierertums. Er, der die ganze kapitalistische Kultur verneint, findet eine wohlwollende Aufnahme bei der europäischen und amerikanischen Bourgeoisie, die in seiner Predigt sowohl Ausdruck für ihren gegenstandslosen Humanismus findet, als auch psychologische Deckung vor der Philosophie des revolutionären Umsturzes.
Er, der konservative Anarchist, der Todfeind des Liberalismus, steht sich zu seinem achtzigsten Geburtstag als Banner und Waffe einer lärmenden und tendenziösen politischen Manifestation des russischen Liberalismus.
Die Geschichte hat über ihn den Sieg davongetragen, ihn aber nicht gebrochen. Auch jetzt noch, am Abend seines Lebens, hat er sich seine köstliche Kraft der sittlichen Entrüstung in voller Frische erhalten.
In der Nacht der elendsten und verbrecherischsten Konterrevolution, die mit dem Netze ihrer Galgenschlingen für immer die Sonne unserer Heimat verdunkeln will, in der stickigen Atmosphäre der kriecherischen Feigheit der offiziellen öffentlichen Meinung schleudert dieser letzte Apostel der christlichen Allvergebung, in dem der alttestamentarische Prophet des Zornes nicht gestorben ist, sein „Ich kann nicht schweigen“ als Fluch ins Antlitz denen, die hängen, und als Verdammungsurteil denen, die schweigen.
Und mag er uns seine mitfühlende Aufmerksamkeit für unsere revolutionären Ziele verweigert haben – wir wissen, dass die Geschichte ihm das Verständnis für ihre Wege vorenthalten hat. Wir werden ihn deshalb nicht verurteilen. Und wir werden stets in ihm nicht nur den großen Genius schätzen, der nicht sterben wird, solange die menschliche Kunst lebendig ist, sondern auch den unbeugsamen sittlichen Mut, der ihm nicht gestattete, in den Reihen seiner heuchlerischen Kirche, seiner Gesellschaft und seines Staates zu bleiben, und der ihn zur Einsamkeit unter zahllosen Verehrern verdammte.
Zuletzt aktualiziert am 6. Dezember 2024