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Nach Die Neue Zeit, 26. Jahrgang, 2. Band, Nr. 48 (28. August 1908), S. 782–791.
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Für jeden guten Europäer und nicht zuletzt für den europäischen Sozialisten gilt Russland als das Land der Überraschungen – aus dem einfachen Grunde, aus dem jedes Resultat unverhofft erscheint, wenn man mit seinen Ursachen nicht vertraut ist. Die französischen Reisenden des achtzehnten Jahrhunderts berichteten, dass in Russland die Straßen durch brennende Holzstöße geheizt würden. Die europäischen Sozialisten des zwanzigsten Jahrhunderts sind natürlich über diesen Glauben hinaus; immerhin aber däuchte sie das Klima Russlands lange Zeit hindurch viel zu rau, um dort die Möglichkeit einer Entwicklung der Sozialdemokratie zulassen zu können. Und umgekehrt. Einer der französischen Romanisten – Eugène Sue oder der ältere Dumas – lässt seinen Helden in Russland sous l’ombre d’une kljukwa (unter dem Schatten einer Moosbeere) Tee trinken. Heutzutage weiß selbstverständlich jeder gebildete Europäer, dass mit dem Samowar unter einer Moosbeere Platz zu finden ebenso umständlich ist, wie für das Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen. Aber die gewaltigen Ereignisse der russischen Revolution ließen vermöge ihrer völligen Unverhofftheit viele Sozialisten des Westens im Handumdrehen die Meinung fassen, dass das Klima Russlands, das noch vor kurzem der Straßenbeheizung bedurft hatte, die Fähigkeit bekommen habe, die kümmerlichen Polarpflänzlein in gigantische Baobabs zu verwandeln. Und so kam es, dass, als der erste mächtige Ansturm der Revolution an der Kriegsmacht des Zarismus zerschellte, viele sich beeilten, aus dem Schatten der Kljukwa in den Schatten der Enttäuschung zu flüchten.
Zum Glücke rief die russische Revolution in dem sozialistischen Westen außer der Enttäuschung den aufrichtigen Wunsch hervor, sich über die russischen Verhältnisse einmal gründlich aufzuklären Und wir würden in Verlegenheit sein, zu entscheiden, was von größerem Werte sei: dieses ideelle Interesse oder die dritte Reichsduma, welche doch auch als Geschenk der Revolution zu betrachten ist, wenigstens in dem Sinne, in dem ein Hundekadaver, der von der Ebbe auf einer Sandbank zurückgelassen wurde, als „Geschenk“ des Ozeans gelten kann.
Unzweifelhaft muss dem Verlag von Dietz volle Anerkennung gezollt werden, der durch seine letzten drei Ausgaben [B] bemüht gewesen ist, den durch die Revolution angeregten Bedürfnissen entgegenzukommen. Es muss indes gesagt werden, dass diese drei Werke durchaus nicht gleichwertig sind. Das Buch Maslows bildet eine grundlegende Untersuchung über die russischen Agrarverhältnisse. Und der wissenschaftliche Wert dieser Arbeit ist so groß, dass man darüber dem Verfasser nicht nur ihre äußerst unvollkommene Form, sondern auch ihre ganz unhaltbare Umarbeitung der Marxschen Grundrententheorie verzeihen kann. Das Büchlein Pashitnows, das in keinerlei Beziehung auf eine selbständige Untersuchung Anspruch machen kann, liefert ziemlich viel Material zur Charakteristik der Lage des russischen Arbeiters – in der Fabrik, im Bergwerk, in seinem Heim, im Krankenhaus, teilweise auch im gewerkschaftlichen Verband –, jedoch nicht zur Charakteristik seiner Stellung im sozialen Organismus des Landes. Diesen letzteren Punkt stellt sich der Verfasser auch gar nicht zur Aufgabe. Seine Arbeit vermag daher sehr wenig zum Verständnis der revolutionären Rolle des russischen Proletariats beizutragen.
Diese große Frage zu beleuchten, ist der Zweck der unlängst
in deutscher Übersetzung erschienenen Broschüre von A.
Tscherewanin, deren Inhalt den Gegenstand unserer heutigen
Ausführungen bilden soll.
Tscherewanin geht aus von der Darstellung der allgemeinen Ursachen der Revolution. Er erblickt in ihr das Produkt des Zusammenstoßes zwischen den unabweisbaren Bedürfnissen der kapitalistischen Entwicklung des Landes und den feudalen Formen des Staates und des Rechtes. „Die unerbittliche Logik der ökonomischen Entwicklung“, schreibt er, „brachte es dahin dass schließlich alle Bevölkerungsschichten mit Ausnahme des Feudaladels sich feindlich gegen die Regierung stellen mussten“ (S. 10). In dieser Gruppierung der oppositionellen und revolutionären Kräfte „fiel dem Proletariat unzweifelhaft die Hauptrolle zu“ (ibid.). Aber es hatte nur als Teil eines oppositionellen Ganzen Bedeutung. In dem historischen Rahmen des allgemeinen Kampfes um die Emanzipierung der neuen bürgerlichen Gesellschaft konnte das Proletariat nur insofern Erfolg haben, inwiefern es von der bürgerlichen Opposition unterstützt wurde, oder richtiger, inwiefern es selbst diese letztere durch seine revolutionären Aktionen unterstützte. Und umgekehrt: so oft sich das Proletariat durch seine übertriebenen (respektive historisch verfrühten) Aktionen von der bürgerlichen Demokratie isolierte, erlitt es Niederlagen und hemmte die Entwicklung der Revolution.
Dies ist in den Hauptzügen die historische Auffassung Tscherewanins. [C] Vom Anfang bis zum Schlusse seiner Broschüre eifert er unermüdlich gegen die Übertreibung der revolutionären Macht und die Überschätzung der politischen Rolle des russischen Proletariats. Er analysiert das große Drama vom 9. Januar 1905, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen: „Mit Unrecht schreibt Trotzki, die Arbeiter kamen am 22. Januar zum Winterpalais, nicht um zu bitten, sondern um zu fordern“ (S. 27). Er beschuldigt die Parteiorganisation der Überschätzung der Reife, welche das Petersburger Proletariat im Februar 1905 bei der Affäre mit der Kommission des Senators Sidlowsky an den Tag legte, als die gewählten Vertreter der Masse für sich öffentlich-rechtliche Garantien forderten und nach der abschlägigen Antwort sich entfernten, und als die Arbeiter die Verhaftung ihrer Bevollmächtigten mit dem Streik beantworteten. Er gibt eine flüchtige Skizze des großen Oktoberstreiks und formuliert dabei seine Schlüsse in folgender Weise: „Wir haben klargelegt, aus welchen Elementen der Oktoberstreik sich zusammensetzte; welche Rolle dabei die Bourgeoisie und die Intelligenz spielten; wir stellten mit vollständiger Sicherheit fest, dass nicht allein das Arbeiterproletariat aus eigenen Kräften dem alten absolutistischen Regime diesen ernsten, vielleicht tödlichen Schlag versetzt hat“ (S. 56). Nach dem Erscheinen des Manifestes vom 17. Oktober sehnte sich die ganze bürgerliche Gesellschaft nach Beruhigung. Daher war es Wahnsinn seitens des Proletariats, den Weg des revolutionären Aufstandes zu beschreiten, anstatt seine ganze Energie auf die Dumawahlen zu richten. Tscherewanin wendet sich gegen diejenigen, welche damals darauf hinwiesen, dass die Duma nur versprochen und es unbekannt war, wie und wann die Wahlen vollzogen werden sollten und ob es überhaupt zu solchen kommen werde. Indem er den von uns am Tage des Manifestes geschriebenen Artikel zitiert, sagt er: „Durchaus mit Unrecht wurde der eben errungene Sieg in den ‚Nachrichten des Arbeiter-Delegiertenrats‘ geschmälert, indem sie gleich nach Erscheinen des Manifestes ausführten: Eine Konstitution ist gegeben, und der Absolutismus ist bestehen geblieben. Alles ist gegeben – und nichts ist gegeben“ (S. 67).
Je weiter, desto mehr Missgriffe. Anstatt die Semstwokonferenz zu unterstützen, welche für die Dumawahlen die Forderung des allgemeinen Wahlrechtes aufstellte, brach das Proletariat schroff mit dem Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie, um „den neuen Bundesgenossen von zweifelhafter Zuverlässigkeit“ (S. 73), der Bauernschaft und der Armee, die Hand zu reichen. Die revolutionäre Einführung des achtstündigen Arbeitstags, der Novemberstreik als Antwort auf die Verhängung des Kriegszustandes in Polen – ein Fehler überstürzt den anderen, und das Ergebnis ist die verhängnisvolle Dezemberniederlage. Und tiefe Niederlage im Verein mit den weiteren Fehlern der Sozialdemokratie ebnet den Weg zur Sprengung der ersten Duma und dem darauffolgenden Triumph der Konterrevolution.
Das ist die .historische Auffassung Tscherewanins. Der deutsche Übersetzer hat alles getan, was er konnte, um die Energie der Anschuldigungen und der Vorwürfe des Verfassers abzuschwächen. Aber selbst in dieser gemilderten Form noch gleicht das Werk Tscherewanins viel eher einer Anklageschrift wegen revolutionärer Vergehungen des Proletariats gegen die „wahre realistische Taktik“, als einer der Wirklichkeit entsprechenden Darstellung der revolutionären Rolle des Proletariats in Russland.
Die materialistische Analyse der sozialen Verhältnisse ersetzt Tscherewanin durch folgende formalistische Deduktion: Unsere Revolution ist eine bürgerliche Revolution; die siegreiche bürgerliche Revolution muss die Macht dem Bürgertum in die Hände geben; das Proletariat ist verpflichtet, die bürgerliche Revolution zu fördern; also muss es auch den Übergang der Macht auf das Bürgertum fördern; die Idee der Machteroberung durch das Proletariat ist daher in Epochen bürgerlicher Revolution mit der Taktik des Proletariats unvereinbar; die tatsächliche Taktik des Proletariats führte es naturgemäß zu dem Kampfe um die Staatsgewalt, und war daher ein Irrtum
Diese schöne logische Konstruktion, die bei den Scholastikern
Sorites (Kettenschluss) hieß, lässt indessen die
Hauptfrage von den inneren Kräften der Revolution, von
ihrer Klassenmechanik, vollständig beiseite. Wir kennen
das klassische Beispiel einer Revolution, bei der die Bedingungen für
die Herrschaft der kapitalistischen Bourgeoisie durch die
terroristische Diktatur der siegreichen Sansculotten vorbereitet
wurden. Das war in einer Epoche, da die Hauptmasse der Bevölkerung
aus dem Kleinbürgertum der Handwerker und Kleinhändler
bestand. Die Jakobiner hatten diese hinter sich. Die Hauptmasse der
Bevölkerung der russischen Städte bildet in der
gegenwärtigen Zeit das industrielle Proletariat. Schon diese
Analogie allein lässt Raum für die Annahme der Möglichkeit
einer solchen historischen Situation, wo der Sieg der „bürgerlichen
Revolution“ nur dann erreichbar wird, wenn das Proletariat die
revolutionäre Macht an sich reißt. Hört denn die
Revolution deshalb auf, bürgerlich zu sein?Ja und nein. Das
hängt nicht von der formalen Definition, sondern von der
weiteren Entwicklung der Ereignisse ab. Wenn das Proletariat durch
die Koalition der bürgerlichen Klassen, darunter auch der von
ihm freigemachten Bauernschaft, gestürzt wird, dann wird die
Revolution einen beschränkt bürgerlichen Charakter
bewahren. Wenn aber das Proletariat können und verstehen wird,
alle Mittel seiner politischen Herrschaft wirken zu lassen, um die
Beschränkung der Revolution auf Russland zu sprengen, so kann
diese letztere der Prolog einer sozialistischen Weltkatastrophe
werden. Die Frage, bis zu welcher Etappe die russische
Resolution gelangen werde, lässt natürlich nur eine
bedingte Lösung zu. Aber eines steht unzweifelhaft und unbedingt
fest: die nackte Definition der russischen Resolution als einer
bürgerlichen besagt nicht das Geringste über den
Typus ihrer inneren Entwicklung und bedeutet nicht im entferntesten,
dass das Proletariat verpflichtet ist, seine Taktik dem Verhalten der
bürgerlichen Demokratie als des einzigen gesetzlichen
Prätendenten auf die Staatsgewalt anzupassen.
Vor allem: Was für ein politischer Körper ist denn das eigentlich, diese „bürgerliche Demokratie“? Wenn man diesen Namen ausspricht, so assimiliert man dabei in Gedanken die Liberalen in dem Revolutionsprozess mit den Volksmassen das heißt also in erster Linie mit der Bauernschaft. In Wirklichkeit aber – und das ist der Kernpunkt der Sache – fand tiefe Assimilierung keineswegs statt und konnte auch nicht stattfinden
Die Partei, die im Laufe der letzten zwei Jahren in den liberalen Sphären den Ton angab, die Kadetten, bildete sich aus der im Jahre 1905 erfolgten Verschmelzung des Verbandes der Semstwo-Konstitutionalisten mit dem „Verband der Befreiung“. In der liberalen Fronde der Semstwos, der Provinziallandtage, in denen der Grundbesitz überwiegt, fanden ihren Ausdruck einerseits der neidische Unwille der Agrarier über den ungeheuerlichen industriellen Protektionismus der Regierung, andererseits die Opposition der fortschrittlicher gesinnten Grundbesitzer, die durch die Barbarei der russischen Agrarverhältnisse gehindert wurden, ihren Wirtschaftsbetrieb auf kapitalistischem Fuße einzurichten. Der „Verband der Befreiung“ vereinte unter seiner Fahne jene Elemente der Intelligenz, die wegen ihrer „anständigen“ gesellschaftlichen Position und der damit verbundenen Sattheit den revolutionären Weg nicht gut beschreiten konnten. Viele dieser Herren waren durch die Vorschule des Marxismus gegangen. Die Semstwoopposition trug von jeher den Stempel der Impotenz der Feigheit, und das allerhöchste Herrlein sprach nur die bittere Wahrheit aus, wenn es im Jahre 1894 ihre politischen Forderungen als „sinnlose Schwärmereien“ bezeichnete. Auf der anderen Seite war auch die privilegierte Intelligenz, die eines eigenen sozialen Schwergewichtes entbehrte und außerdem direkt oder indirekt von dem Staate, dem von ihm protegierten Großkapital oder dem zensusliberalen Grundbesitz abhing, durchaus dazu unfähig, eine auch nur einigermaßen gewichtige Opposition zu entwickeln. Die Kadettenpartei bildete demnach eine Vereinigung aus der oppositionellen Impotenz der Semtzi mit der allgemeinen Impotenz der diplomierten Intelligenz. Wie sehr der Semstwoliberalismus nur an der Oberfläche haftete, zeigte mit voller Anschaulichkeit schon das Jahr 1905, als die Gutsbesitzer unter dem Einfluss der Agrarrevolten ganz entschieden nach rechts, zu dem alten Regime, abschwenkten. Tränenden Auges musste der Liberalismus den Gutshof verlassen, wo er eigentlich nur ein Stiefkind gewesen war, um auf seinem historischen Heimatboden, in den Städten, Unterkunft zu suchen. Petersburg und Moskau mit ihren den Zensus besitzenden Schichten werden, wenn man nach dem Ergebnis der drei Wahlkampagnen urteilt, die Hochburgen der Kadetten. Und nichtsdestoweniger gelang es dem russischen Liberalismus, wie das durch seine armseligen Taten erhärtet wird, nicht, aus dem Zustand der Bedeutungslosigkeit herauszukommen. Warum? Dies findet seine Erklärung nicht in den revolutionären Exzessen des Proletariats, sondern in viel tiefer liegenden historischen Ursachen.
Die soziale Grundlage der bürgerlichen Demokratie und die treibende Kraft der Revolution in Europa war der dritte Stand gewesen, dessen Kern von dem städtischen Kleinbürgertum – Handwerkern, Kaufleuten und Intelligenten – gebildet wurde. Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sah seinen Niedergang. Die kapitalistische Entwicklung erdrückte nicht nur die Handwerkerdemokratie im Westen, sondern verhinderte auch die Bildung einer solchen im Osten.
Das europäische Kapital fand in Russland die Hausindustrie des Dorfes vor und machte ihr sofort durch die Fabrik den Garaus, ehe sie Zeit gehabt hatte, sich von dem Ackerbau loszutrennen und in das städtische Handwerk überzugehen. Dabei schuf es unsere alten archaischen Städte, darunter das „große Dorf“ Moskau, zu Mittelpunkten der allermodernsten Industrie um. Das Proletariat – ohne Handwerkervergangenheit, ohne zünftlerische Traditionen und Vorurteile – sah sich mit einem Male in gewaltigen Massen konzentriert. In allen Hauptzweigen der Industrie zogen das große und das ganz große Kapital dem kleinen und dem mittleren ohne jeden Kampf den Boden unter den Füßen fort. Man braucht nicht Petersburg oder Moskau mit Berlin oder Wien von 1848 oder gar mit Paris von 1789 zu vergleichen, das sich weder von Eisenbahnen noch von Telegraphen träumen ließ und eine Manufaktur mit 300 Arbeitern als ein gewaltiges Unternehmen ansah. Es ist aber im höchsten Grabe bemerkenswert, dass die russische Industrie nach dem Stande ihrer Konzentration nicht nur nicht den Vergleich mit den europäischen Ländern aushält, sondern sogar sie alle weit hinter sich lässt Als Illustration zu dieser Tatsache möge die hier folgende kleine statistische Tabelle dienen:
|
Deutsches Reich [D] |
Österreich [E] |
Russland [F] |
|||
Anzahl der |
Anzahl der |
Anzahl der |
Anzahl der |
Anzahl der |
Anzahl der |
|
Unternehmungen Unternehmungen |
18.698 255 |
2.595.536 448.731 |
6.334 115 |
993,000 179.876 |
6.334 458 |
1.202.800 1.155.000 |
Wir haben in diesem Vergleich die Betriebe fortgelassen, die weniger als 50 Arbeiter beschäftigen, da die Zählung derselben in Russland höchst unvollkommen ist. Aber auch diese beiden Ziffernreihen zeigen zur Genüge das kolossale Übergewicht der russischen Industrie über die österreichische im Punkte der Produktionskonzentrierung. Während die Anzahl der mittleren und großen Unternehmungen (51 bis 1.000 Arbeiter) übereinstimmt, und zwar bis auf die Einer, ist die der Riesenunternehmungen (über 1.000 Arbeiter) in Russland viermal so groß wie in Österreich. Ein ähnliches Resultat erhalten wir, wenn wir zum Vergleich ein so hoch entwickeltes Land wie Deutschland heranziehen. In Deutschland 255 Riesenbetriebe mit weniger als einer halben Million Arbeiter, in Russland 458 mit mehr als einer Million Arbeiter. Dieselbe Frage wird auch sehr grell durch den Vergleich der Gewinne beleuchtet, welche die verschiedenen Kategorien der Handels- und Industrieunternehmungen Russlands abwerfen:
|
Anzahl der |
Gewinnsumme in |
Mit einem Gewinn von 1.000 bis 2.000 Rubel |
37.000 = 44,5 % |
56 = 8,6 % |
Mit einem Gewinn von über 50.000 Rubel |
1.400 = 1,7 % |
291 = 45,0 % |
Mit anderen Worten: etwa die Hälfte aller Unternehmungen erlangt weniger als ein Zehntel des Gesamtprofits, während auf ein Sechzigstel der Unternehmungen fast die Hälfte des gesamten Mehrwerts entfällt.
Diese wenigen Ziffern zeugen beredt genug dafür, dass der verspätete Charakter des russischen Kapitalismus den Gegensatz zwischen den beiden Polen der bürgerlichen Gesellschaft, den Kapitalisten und den Arbeitern, aufs Äußerste verschärft hat. Diese letzteren nehmen nicht nur in der sozialen Ökonomik, das heißt in der Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung, sondern auch in der Ökonomik des revolutionären Kampfes diejenige Stelle ein, welche in Westeuropa die aus den Zünften und Gilden ausgeschiedene Demokratie der Handwerker und Händler einnahm. Bei uns fehlt auch die geringste Spur von jenem aufrechten Kleinbürgertum, welches Schulter an Schulter mit dem jungem noch nicht zu einer Klasse formierten Proletariat die Bastillen der Feudalherrschaft stürmte. Wohl war das Kleinbürgertum politisch stets und überall nur ein ziemlich formloser Körper; aber in seinen besten historischen Tagen besaß es dennoch die Kraft, eine gewaltige politische Aktivität zu entfalten. Wenn aber, wie dies in Russland der Fall ist, die hoffnungslos verspätete bürgerlich-demokratische Intelligenz über dem Abgrund der Klassengegensätze schwebt; wenn sie, unter dem Schalle der sozialistischen Flüche geboren und durch gutsherrliche Traditionen und Professorenvorurteile beengt, nicht einmal daran denken darf, auf die Arbeiter Einfluss zu gewinnen, und ohnmächtig auf die Hoffnung verzichten muss, über den Kopf des Proletariats hinweg und im Kampfe mit den Gutsbesitzerinteressen die Bauernschaft an ihre Fahne zu fesseln – dann verwandelt sich eine solche rückgratlose Demokratie in die Kadettenpartei. Ohne sich von dem Gefühl nationalen Stolzes hinreißen zu lassen, darf man behaupten, dass der russische Liberalismus während seiner kurzen Laufbahn an innerer Wurmstichigkeit und konzentrierter Stupidität in der Geschichte der bürgerlichen Länder beispiellos dasteht! Andererseits steht es unzweifelhaft fest, dass keine einzige von den alten Revolutionen so viel Volksenergie verschlungen und dabei so dürftige objektive Resultate ergeben hat. Unter welchem Gesichtswinkel auch immer wir die Ereignisse betrachten mögen – der innere Zusammenhang zwischen der vollkommenen Nichtigkeit der bürgerlichen Demokratie und der „Resultatlosigkeit“ der Revolution tritt von selbst hervor. Dieser Zusammenhang ist da, vermag uns aber keineswegs zu pessimistischen Schlüssen geneigt zu machen.
Die „Resultatlosigkeit“ der russischen Resolution ist
nur die Kehrseite ihres tiefen sozialen Charakters Bürgerlich
nach den unmittelbaren Aufgaben, die sie erzeugt haben, kennt unsere
Revolution infolge der äußerst weit getriebenen
Klassendifferenzierung der industriellen Bevölkerung keine
bürgerliche Klasse, die sich an die Spitze der Volksmassen
stellen könnte, indem sie ihr soziales Schwergewicht und ihre
politische Erfahrung mit der revolutionären Energie jener
vereinte. Sich selbst überlassen, müssen die unterdrückten
Arbeiter- und Bauernmassen Russlands in der rauen Schule der rauen
Zusammenstöße und schweren Niedertagen die für ihren
Sieg notwendigen politischen und organisationellen Voraussetzungen
hervorbringen. Einen anderen Weg gibt es für sie nicht.
Zugleich mit den gewerblichen Funktionen der Handwerkerdemokratie übernahm das russische Proletariat ihre Aufgaben, darunter auch die politische Hegemonie über die Bauernschaft Ihre Aufgaben, doch nicht ihre Methoden und Mittel. Im Dienste der bürgerlichen Demokratie stand das ganze Rüstzeug der offiziellen gesellschaftlichen Organisationen: die Schule, die Universität, die Bibliothek, die Munizipalität die Presse, das Theater. Einen wie großen Vorzug dies bedeutet, zeigte die Tatsache, dass selbst unser rachitischer Liberalismus sich als automatisch organisiert herausstellte und einen fertigen Apparat zur Verfügung hatte, als die Zeit jener Aktionen herankam, zu denen er fähig war: der Resolution, der Petition und des Wahlkampfes. Das Proletariat hatte keine kulturell-politische Erbschaft bekommen. Seine Organisation und seine Presse musste es sich im Pulverdampf der revolutionären Schlachten schaffen. Diese Schwierigkeit wurde von ihm glänzend überwunden: die Periode der höchsten Anspannung seiner revolutionären Energie, der Schluss des Jahres 1905, war zugleich die Epoche der Schaffung einer reichen Presse und einer vorzüglichen Klassenorganisation in Gestalt des Arbeiterdelegiertenrats. Das war indes nur der kleinere Teil der Aufgabe: die Arbeiter hatten nicht nur das Hindernis ihrer eigenen Desorganisation, sondern auch die organisierte Macht ihres Feindes zu überwinden.
Als die dem Proletariat eigentümliche Methode des revolutionären Kampfes erwies sich der Generalstreik. Trotz seiner relativ geringen Anzahl zwang das russische Proletariat die zentralisierte Maschine der Staatsgewalt und die ungeheure Masse der konzentrierten Produktivkräfte des Landes zur Abhängigkeit von seinem Willen. Dieser Umstand verlieh seinem Streik jene Macht, vor der der Absolutismus im Oktober 1905 die Mütze ziehen musste. Es steine sich aber bald heraus, dass der Streik das Problem der Revolution nur stellt, nicht aber löst.
Die Revolution ist vor allem der Kampf um die Staatsgewalt. Der Streik aber ist, wie es die Analyse beweist und die Ereignisse gezeigt haben, das revolutionäre Mittel des Druckes aus die bestehende Gewalt. Eben nur deshalb auch sanktionierte der kadettische Liberalismus, der niemals über die oktroyierte Konstitution hinausging, den Generalstreik als Kampfmittel – freilich nur für einen Moment, und zwar postnumerando – gerade in dem Augenblick, als das Proletariat die Beschränktheit dieses Mittels erkannte und sich sagte, dass es unvermeidlich und nötig sei, seine Grenzen zu überschreiten.
Die Hegemonie der Stadt über das Dorf, der Industrie über den Ackerbau, und zugleich der ganz moderne Typus der russischen Industrie: das Fehlen jenes starken und festen Kleinbürgertums, ein Verhältnis, zu dem die Arbeiter in den Revolutionen Westeuropas nur eine Hilfskolonne gebildet hatten, verwandelten das Proletariat in die Hauptmacht der Revolution und stellten es direkt vor das Problem der Eroberung der Staatsgewalt. Die Scholastiker, die sich nur deswegen für Marxisten halten, weil sie die Welt durch das Papier betrachten, auf dem Marx gedruckt steht, konnten so viel „Texte“, wie sie wollten, zum Beweise der „Unzeitgemäßheit“ der politischen Herrschaft des Proletariats heranziehen – die reale Arbeiterklasse Russlands, dieselbe, die Ende 1905 unter Leitung der unverfälscht reinen Klassenorganisation dem Absolutismus im Einzelkampf gegenübertrat, wobei das Großkapital und die Intelligenz die Rolle der Sekundanten von der einen und der anderen Seite spielten –, dieses Proletariat wurde durch seine revolutionäre Gesamtlage auf das Problem der Eroberung der Staatsgewalt mit aller Macht hin gedrängt Die Konfrontation des Proletariats mit der Armee wurde unvermeidlich. Der Ausgang dieser Konfrontation hing von der Haltung der Armee, die Haltung der Armee aber von ihrer Zusammensetzung ab.
Die politische Rolle der Arbeiter Russlands ist ungleich höher als ihre numerische Stärke. Dies zeigten die Ereignisse, darunter auch die Wahlen zur zweiten Duma. Ihre Klassenvorzüge – die technische Schulung, die Intelligenz, die Fähigkeit zu geschlossenen Aktionen – übertragen die Arbeiter auch in die Kaserne. In allen revolutionären Bewegungen der Armee spielte die Hauptrolle der qualifizierte Soldat der Genietruppen oder der Artillerist, der aus der Stadt, dem Fabrikviertel stammt. In den Flottenrevolten war es das Maschinenkommando: die Proletarier, wenn sie auch die Minderheit der Besatzung bildeten, hatten dieselbe doch in ihren Händen, indem sie die Maschine, das Herz des Panzerschiffs, in Händen hatten. Aber in der auf dem Grundsatz der allgemeinen Dienstpflicht aufgebauten Armee findet seinen natürlichen Ausdruck das kolossale numerische Übergewicht der Bauernschaft unseres Landes. Die Armee überwindet mechanisch die aus seiner Produktionsweise stammende Isoliertheit des Bauern; und seine Hauptfehler, die politische Passivität, macht sie zu seinem Hauptvorzug.
Bei allen seinen Aktionen im Jahre 1905 verfuhr das Proletariat
so, dass es bald die Passivität des Dorfes ignorierte, bald sich
auf seine elementare Unzufriedenheit stützte. Als aber der Kampf
um die Staatsgewalt in seiner ganzen Realität an die Reihe kam,
da zeigte es sich, dass die Entscheidung der Frage in der Faust des
bewaffneten Bauern ruhte, jenes Bauern, der den Kern der russischen
Infanterie bildete. Im Dezember 1905 zerschellte das russische
Proletariat nicht an seinen Fehlern, sondern an einer realeren Große:
an den Bajonetten der Bauernarmee.
Diese kurze Analyse überhebt uns in bedeutendem Maße der Notwendigkeit, bei den einzelnen Punkten der Anklageschrift Tscherewanins. länger zu verweilen. Über der Kritik der einzelnen Schritte, Erklärungen und taktischen „Feiner“ übersieht Tscherewanin das Proletariat selbst in seinen sozialen Zusammenhängen und seinem revolutionären Wachstum. Wenn er die unstreitbar richtige Ansicht verwirft, dass die Arbeiter am 22. Januar auf die Straße getreten seien, nicht um zu bitten, sondern um zu fordern, so geschieht das deshalb, weil die äußere Form des Ereignisses ihn das wahre Wesen desselben verkennen lässt. Wenn er so sorgfältig die hervorragende Rolle der Intelligenz in dem Oktoberstreik unterstreicht, so verringert er dadurch keineswegs die Bedeutung der Tatsache, dass nur das revolutionäre Austreten des Proletariats die linken Demokraten aus einem Anhängsel der Semtzi in eine temporäre Hilfskolonne der Revolution verwandelte, ihnen die rein proletarische Kampfmethode des Generalstreiks aufzwang und sie von der rein proletarischen Organisation des Arbeiterdelegiertenrats in Abhängigkeit brachte.
Das Proletariat hätte, so behauptet Tscherewanin, nach dem Manifest alle seine Kräfte auf die Dumawahlen konzentrieren müssen. Aber damals gab es ja gar keine Wahlen. Weder war ihr Termin, noch ihr Charakter irgend jemandem bekannt. Und ebenso wenig war eine Garantie dafür geboten, dass die Wahlen überhaupt stattfinden würden. Gleichzeitig mit dem Oktobermanifest hatten wir die Oktoberpogrome. Woher hätte man da die Gewissheit nehmen können, dass nicht anstatt der Duma ein zweiter Pogrom inszeniert werden würde? Allerdings hält Tscherewanin diese Ansicht für eine Übertreibung. Demgegenüber verweisen wir auf ein Urteil, dessen Autorität er schwerlich leugnen dürfte. „Die Stimme des Volkes und die Presse,“ sagt das auf Anordnung des Grafen Witte verfasste Memorandum, „behaupteten, dass die Pogrome das Resultat der Provokation der Regierung waren, die den Zweck hatte, die Verheißungen des Manifests nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Leider hatte die Bevölkerung ernste Gründe für tiefe Annahme.“
Und was anderes blieb unter solchen Umständen dem Proletariat, das die alten Polizeidämme durchbrochen hatte, zu tun übrig, als eben das, was es in Wirklichkeit tat? Es okkupierte naturgemäß die neuen Positionen und suchte sich darin zu verschanzen: es hob die Zensur auf, schuf eine revolutionäre Presse, übte die Versammlungsfreiheit aus, verteidigte die Bevölkerung vor den Hooligans in Waffenrock und Lumpen, errichtete kampffähige Gewerkschaften, vereinigte sie um seine Klassenvertretung, knüpfte Verbindungen mit der revolutionären Bauernschaft und der Armee an. Während die liberale Gesellschaft murmelte, dass die Armee „außerhalb der Politik“ bleiben müsse, führte die Sozialdemokratie eine unermüdliche Agitation in der Kaserne. Tat sie recht ober nicht? Während die Semstwokonferenz im November, deren Unterstützung Tscherewanin hinterdrein so angelegentlich empfiehlt, bei der ersten Kunde von dem Flottenaufstand in Sewastopol ängstlich nach rechts abschwenkte und erst dann ihr seelisches Gleichgewicht wiedergewann, als der Aufstand bereits unterdrückt war, begrüßte im Gegenteil der Arbeiterdelegiertenrat begeistert die Aufständischen. Tat er recht ober nicht? Wo und worin hätte man die Garantien für den Sieg suchen sollen: in der seelischen Ruhe der Semstwoliberalen ober in der Verbrüderung des revolutionären Proletariats mit der Armee?
Selbstverständlich musste das von den Arbeitern entfaltete Programm der Bodenkonfiskation die Gutsbesitzer nach rechts drängen Dafür aber drängte es die Bauernschaft nach links. Selbstverständlich trieb der energische ökonomische Kampf die Kapitalisten in das Lager der Ordnung. Dafür aber erweckte er die rückständigsten und verschüchterten Arbeiter zu politischem Dasein. Selbstverständlich beschleunigte die Agitation in der Armee den Konflikt mit der Regierung. Was sollte man aber tun: etwa die Soldaten, die bereits in den Flitterwochen der Freiheit die Pogromisten bei ihrem Werke förderten und die Arbeitermiliz durch Salven zu Boden streckten, der unbeschränkten Verfügung Trepows überlasten? Tscherewanin fühlt selbst, dass nichts anderes zu tun blieb, als eben das, was getan würde.
“Die Taktik war grundfalsch,“ sagt er zum Schlusse seiner Analyse und fügt gleich hinterdrein hinzu: „Es mag sein, dass sie vielleicht unvermeidlich war, vielleicht wäre jede andere Taktik ... in diesem Moment unmöglich gewesen. Aber es tut nichts zur Sache (!) und ändert nicht das Mindeste an dem objektiven Schlusse,“ dass die Taktik der Sozialdemokratie grundfalsch war (S. 92). Tscherewanin baut seine Taktik, wie Spinoza seine Ethik, auf die geometrische Methode auf. Dabei gibt er selbst zu, dass unter den gegebenen Bedingungen für die Anwendung seiner Taktik kein Raum blieb, und dadurch ist naturgemäß auch die Tatsache erklärt, dass Leute von seiner Denkungsart in der Revolution nicht die geringste Rolle gespielt haben.
Was sollen wir aber von jener „realistischen“ Taktik sagen, deren einziger Mangel nur darin besteht dass sie nicht angewandt werden kann? Von ihr wollen wir mit den Worten Luthers scheiden:
„Die Theologia stehet im Brauch und Übung,
nicht im Spekulieren und Gottes Sachen nachdenken nach der Vernunft.
...
„Ein jegliche Kunst, beide im Haus- und Weltregiment, so nur mit
Spekulieren umgehet und nicht ins Werk gebracht wird, ist verloren und
taugt nichts.“
A. A. Tscherewanin, Das Proletariat und die russische Revolution, Stuttgart 1908, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf., XVI und 170 Seiten. Broschiert 2 Mark.
B. Peter Maslow, Die Agrarfrage in Russland. – Pashitnow, Lage der arbeitenden Klasse in Russland. – A. Tscherewanin, Das Proletariat und die russische Revolution.
C. Denselben Standpunkt vertritt Th. Dan in seinem Artikel in Nr. 27 und 28 der Neuen Zeit, Die Bedingungen des erneuten Aufschwunges der russischen Revolution. Nur dass Dan von Tscherewanin an Kühnheit der Schlüsse, wenigstens mit Bezug auf die Vergangenheit, weit übertroffen wird.
D. Gewerbe und Handel im Deutschen Reiche, S. 42.
E. Österreichisches statistisches Handbuch, Wien 1907, S. 229.
F. A. W. Poleschajew, Zahl und Zusammensetzung der Arbeiter in Russland, Petersburg 1906, S. 46 ff.
Zuletzt aktualiziert am 7. Dezember 2024