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Die Neue Zeit, 26. Jahrgang, 2. Band, Nr. 38 (19. Juni 1908), S. 388–395. [1]
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Die dritte Reichsduma ist zurzeit im Schweiße ihres Angesichts damit beschäftigt, das ihr von der Bürokratie ausgegebene Pensum zu erledigen: sie prüft in aller Eile und bewilligt das Budget für 1908.
Das russische Staatsbudget bietet in seiner inneren Struktur das getreue Abbild der ganzen Geschichte und des Charakters des Zarismus: einer ungeheuren militärisch-polizeiischen Organisation, die zu beispielloser Macht gelangte, indem sie den an wirtschaftlicher Blutarmut leidenden russischen Bauern mit der apoplektisch btutstrotzenden westeuropäischen Börse zusammenkoppelte.
Der bürokratische Absolutismus des Westens entwickelte sich aus der ständischen Monarchie zu einer sich selbst genügenden Macht erst dann, als der dritte Stand so weit erstarkt war, dass er dem politischen Einfluss der Feudalherren und der privilegierten Pfaffen die Wage zu halten vermochte. Der Zarismus hingegen ist dem Wesen nach nie eine ständische Monarchie gewesen, denn weder der russische Adel noch die russische Geistlichkeit haben es vermocht, sich zu dem Niveau politisch regierender Stände zu erheben. Es hinderte sie daran einerseits das wirtschaftliche Elend des gewaltigen, spärlich bevölkerten Landes, andererseits die unermüdliche Konkurrenz der Staatsgewalt.
Sich durch seine Ausdehnungspolitik immer tiefer in den erbitterten Kampf mit den westlichen Nachbarn verstrickend, deren militärisch-staatliche Organisation an der ungleich reicheren wirtschaftlichen Basis eine feste Stütze hatte, beutete der Zarismus das Land bis zur letzten Möglichkeit aus, und indem jedes noch so kleine Partikelchen des Mehrproduktes des Volkes ihm zum Opfer fiel, wurden die privilegierten Stände systematisch in ihrer Entwicklung gehemmt und zu einer untergeordneten Existenz verdammt. So war es mit dem Adel und der Geistlichkeit und in der Folge auch mit der Bourgeoisie.
Ehe sich in Russland ein starker dritter Stand bildete oder bilden konnte, sog der Zarismus bereits in vollen Zügen an den Brüsten der westeuropäischen Börse. Nachdem er die Kunst erlernt hatte, Staatsschulden zu machen, das heißt das nationale Mehrprodukt nicht nur von heute, sondern auch von morgen zu verschlingen, stellte er seine Staatswirtschaft auf internationale Grundlage. Ihrer sozialen Natur nach ein Mittelgebilde zwischen asiatischer Despotie und europäischem Absolutismus bekam die zarische Autokratie mit Hilfe der Börse die allerneuesten Mittel der administrativen und militärischen Technik Westeuropas in die Hände. Dieser Prozess führte zu einem fieberhaften Anwachsen des Budgets und der Staatsschulden. Die Unabhängigkeit der zarischen Regierung von der ökonomischen Lage des Landes bestimmte ihre progressiv zunehmende Abhängigkeit von den Berliner und Pariser Bankiers. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts war der Zarismus zu einer gewaltigen, in der Geschichte beispiellos dastehenden börsenmilitärischen Organisation herangewachsen. Rothschild hegte die felsenfeste Überzeugung, dass die russische Autokratie ebenso ewig sei wie die Börse selbst. Der Krieg und die Revolution erschütterten freilich diesen Kredit in seinen Grundfesten. Indes sie erschütterten ihn nur, ganz zu stürzen vermochten sie ihn nicht. Und so sehen wir die Regierung im Jahre 1905 eine Anleihe von 800 und im Jahre 1906 eine solche von 900 Millionen Rubel aufnehmen.
Im gegenwärtigen Augenblick beziffern sich die Staatsschulden Russlands auf 9 Milliarden Rubel, das heißt etwa 60 Rubel pro Kopf der Bevölkerung, die Säuglinge mit eingerechnet! Das Reichsbudget für 1908 weist die kolossale Summe von 2.515 Millionen Rubel aus. Sieht man von den Einnahmen aus verschiedenen Betrieben und Monopolen ab (Branntwein, Eisenbahnen usw.), so bleibt für die Steuerlast allein die runde Summe von 1½ Milliarden Rubel. Das bedeutet, dass der Staat 20 Prozent des jährlichen Einkommens der Nation für seine Bedürfnisse abzieht! Das unglaubliche Anwachsen der Steuerlast ist nichts anderes als das Spiegelbild der spezifischen Natur der staatlichen Organisation, die mit ihrer politischen ganz naturgemäß auch die fiskalische Diktator vereinigt.
Von den 1.500 Millionen, die aus dem Wege der Steuereinhebung gewonnen werden – wobei die direkten Steuern nur 12,5 Prozent bilden, weniger als 180 Millionen –, bestimmt das Budget für die Ministerien Mukdens und Tsuschimas 512 Millionen, für die Liquidierung des Krieges 67 Millionen, für die Tilgung der im Jahre 1907 nicht getilgten kurzfristigen Staatsverschreibungen 53 Millionen und endlich zur Deckung der fälligen Anleihezinsen 386 Millionen. Auf diese Weise verschlingen die Armee, die Flotte und die Bankiers über eine Milliarde Rubel, das heißt nicht mehr und nicht weniger als zwei Drittel der reinen Staatseinkünfte. Hierzu kommen noch die Verluste aus dem Betrieb der Eisenbahnen, die hauptsächlich strategischen Zwecken dienen, ebenso wie eine ganze Reihe von Millionen, die der “Staatsschutz“ in Anspruch nimmt. Dies sind die Produktionskosten des alten Regimes.
Dass das Budget des Zarismus die Leistungskräfte des ausgesogenen Landes übersteigt, dass seine Aufrechthaltung eine weitere Schwächung des inneren Marktes und die wirtschaftliche Paralyse bedeutet, bat schon vor der Revolution als Binsenwahrheit gegolten. Aber von der Anerkennung dieser Einsicht bis zur tatsächlichen „Sanierung“ des Budgets blieb und bleibt ein weiter Weg zurückzulegen, wie die weiteren Ereignisse gezeigt haben.
Die Sozialdemokratie sieht in dem Budget nur ein Abbild des Soll und Habens des autokratischen Regimes. Für sie war daher die Frage des Kampfes mit dem fiskalisch-finanziellen System gleichbedeutend mit der Frage des Sturzes des Zarismus auf revolutionärem Wege. In dem berühmten Finanzmanifest des Arbeiterdelegiertenrats, das den Dezemberereignissen des Jahres 1905 vorausging, war auch diese Aufgabe eben in diesem Sinne formuliert:
„Es gibt nur einen Ausweg – den Sturz der Regierung. ... Dies ist die unerlässliche Vorbedingung nicht nur für die politische und ökonomische Befreiung des Landes, sondern, im einzelnen, auch für die Festigung der Finanzwirtschaft des Staates.“
Nachdem der Aufstand unterdrückt war und es den Anschein gewonnen hatte, als ob der Liberalismus der Erbe des revolutionären Vermächtnisses werden sollte, bekannte sich dieser letztere immer mehr zu dem Standpunkt der Universalerbschaft, das heißt zu der Übernahme nicht nur des Inventars, sondern auch sämtlicher Schulden und Sünden des alten Regimes, in der Absicht, sie ratenweise zu tilgen. Die in der ersten Duma befolgte Taktik der lärmenden chaotischen Oppositionsmacherei, die infolge der „prinzipiellen“ Ablehnung revolutionären Vorgebend völlig machtlos war und die dennoch zu dem Wyborger Aufruf führte, dieser blassen Kopie des Finanzmanifestes des Arbeiterdelegiertenrats, wird fallen gelassen, und schon in der zweiten Duma bewilligt der Liberalismus in der Person der Kadettenpartei der Regierung das geforderte Rekrutenkontingent und verpflichtet sich, auch für das Budget und die Anleihe zu stimmen. Er hofft auf diese Weise das Vertrauen der Monarchie zu gewinnen, mit Hilfe dieses Vertrauens auf das Budget und mit Hilfe des Budgets wiederum aus die Staatsgewalt Einfluss zu bekommen. Aber die zweite Duma wird „auseinandergejagt“ – und als neuer Erbe des revolutionären Nachlasses tritt nunmehr der konservative Nationalliberalismus in Gestalt des Verbandes vom 17. Oktober in die Arena. Wie die Kadetten in sich die Erben der revolutionären Ausgaben erblickt hatten, so erwiesen sich die Oktobristen als Adepten der kadettischen Taktik der Vereinbarung. Mögen die Kadetten noch so verächtlich ihre Gesichter hinter dem Rücken der Oktobristen verziehen – diese letzteren ziehen nur die Schlüsse aus den kadettischen Voraussetzungen: kann man sich auf die Revolution nicht stützen, so stütze man sich auf den Stolypinschen Konstitutionalismus. Die Kadetten sehen dies selbst sehr wohl ein. Und wenn sich die Fraktion Miljukows dennoch von Zeit zu Zeit den Luxus der oppositionellen Gebärde gestattet, so nur deshalb, weit ihr Mut von der Hoffnung auf die heilbringende Taktik der oktobristischen Majorität genährt und gehalten wird.
Mit beiden Füßen zugleich auf dem Standpunkt der „Universalerbschaft“ stehend, bewilligte die dritte Duma der zarischen Regierung 456.535 Rekruten, obgleich sich die ganze Reformtätigkeit im Ressort Kuropatkins und Stössels in nichts anderem äußerte als neuen Litzen, Knöpfen und Achselstücken. Sie stimmte für das Budget des Ministeriums des Innern, das 70 Prozent des russischen Territoriums den mit dem Henkerstrick der Ausnahmegesetze bewaffneten Satrapen auslieferte und auf dem ganzen Gebiet der übrigen 30 Prozent unter Anwendung der für die „Normalzeit“ gültigen Gesetze hängt und würgt. Sie richtete im geheimen Auftrag des Premierministers an die Regierung die finnländische, das heißt antifinnländische Interpellation, um dem Ministerium des Innern die Wege zur Wiedereinsetzung des Bobrikowschen Regimes in Finnland zu ebnen. Einzig und allein der Etat des Verkehrsministeriums wurde von der Duma um 1 Rubel gekürzt; sie wollte in dieser Form ihren Unwillen über die ungesetzliche Art zum Ausdruck bringen, in der die Etats dieses Raubministeriums par excellence durchgeführt werden. Aber selbst hier bleibt keine Möglichkeit für die Annahme, dass diese oppositionellen hundert Kopeken ohne die vorher eingeholte Nachsicht des Herrn Stolypin gestrichen sein könnten. Die Agrarkommission der Duma sanktionierte in allen seinen Grundzügen den berühmten Erlass vom 9. November 1906, der auf der Grundlage des § 87 durchgeführt wurde und den Zweck hat, aus der Mitte der Bauernschaft eine Schicht wirtschaftlich starker Eigentümer herauszuheben, die ganze übrige Masse aber der natürlichen Auslese im biologischen Sinne dieses Wortes zu überlasten. Und wenn die Duma keine sonderliche Eile hat, diese Frage auf die Tagesordnung zu setzen, so liegt der Grund in der Furcht, durch die Annahme der großen Stolypinschen Reform die rechtsstehenden Bauerndeputierten nach links zu drängen, weil diese, wie einer von den Oktobristenführern klagte, noch immer im Banne der „Expropriationsillusionen“ stehen. Und trotz alledem muss diese „arbeitsfähige“ und loyale Duma mindestens siebenmal in jeder Woche „gerettet“ werden. Die Oktobristen selbst, die Herren der parlamentarischen Situation, sind sehr weit davon entfernt, eine regierende oder wenigstens eine Regierungspartei zu sein: vielmehr sehen wir sie mit jedem Tage immer tiefer zu der Rolle einer bloßen Dienerpartei herabsinken. Sie sagen Ja und Amen zu allem, was die Regierung will, vollziehen alle schmutzigen Aufträge, die Stolypin erteilt – und sind alles in allem nicht einmal mächtig genug, um durchzusetzen, dass die jährlich aus den Volksmitteln erfolgende Anweisung von 100.000 Rubel zu Nadelgeldzwecken Ihrer Majestät der Königin von Griechenland abgeschafft werde. „Gottlob haben wir kein Parlament!“ konnte der Finanzminister freudig ausrufen beim Anblick jener furchtsamen Gefügigkeit, mit der die Duma „sein“ altes liebes Budget durchpassieren ließ.
„Gottlob haben wir eine Konstitution!“ erwiderte ihm mit mannhafter Festigkeit der wachsame Miljukow, indem er ein glänzendes Fazit aus der Taktik der Vereinbarung zog.
Dieses ergötzliche Rededuell mit dem lieben Herrgott als
Sekundanten und alle Umstände, von denen es begleitet war: der
bescheidene Einwurf des oktobristischen Vorsitzenden von dem
„schlecht gewählten“ Ausdruck des Finanzministers,
der die politische Existenz der ihn „kontrollierenden“
Duma in Abrede stelle; die Drohung Stolypins, im Hinblick auf diese
Kühnheit seine Demission einzureichen; die Furcht vor der
Gefahr, dass zugleich mit Stolypin die ganze „Gottlob-Konstitution“
zum Teufel geben könnte; die feierliche Entschuldigung des
Vorsitzenden vor versammelter Duma, dass er sich untersagen habe, an
ihre Existenz zu glauben; das freudige Beifallklatschen. der Duma,
die sich überzeugte, dass sie auch fürderhin leben dürfe,
sofern sie nur gegen die ihre Existenz völlig ignorierende
Regierung nicht aufmucke – das alles enthüllte anschaulich
genug das vollkommen reale und über jeden Zweifel erhabene
Vorhandensein der politischen und fiskalischen Diktatur der
autokraten Bürokratie Und auch jetzt, nach der Erfahrung, die
die drei Dumen gezeitigt haben, kann der Ausweg aus dieser Sackgasse
nicht anders formuliert werden, als es seinerzeit das Finanzmanifest
der Revolution getan hat: „Es gibt nur einen Ausweg – den
Sturz der Regierung!“
Die bemerkenswerteste Tat der dritten Duma bleibt jedoch die auf dem Dringlichkeitsweg erfolgte Annahme der Amurbahnvorlage, ein Projekt, dessen Verwirklichung von der Regierung noch während der „dumalosen“ Zeit auf Grund des § 87 in Angriff genommen wurde.
Laut Kostenanschlag der Regierung wird der Bau der Amurbahn 238 Millionen beanspruchen; Graf Witte bemisst dieselben Kosten mit 350 Millionen. Dies bedeutet eine neue jährliche Ausgabe von 22 bis 30 Millionen Rubel zur Deckung der Zinsen und der unvermeidlichen Defizite – etwa die Hälfte des Gesamtetats des Ministeriums für Volksaufklärung.
Dieser Beschluss allein genügt, um die Frage zu beantworten: Gelingt es der Duma oder gelingt es ihr nicht, die Revolution zu eskamotieren, indem sie die elementarsten Aufgaben derselben im Verein mit der historisch überlieferten Staatsgewalt löst? Nach einem furchtbaren militärischen Debakel, wie es in der Weltgeschichte nicht seinesgleichen hat, nach einer ganzen Reihe von Jahren, da das Land ununterbrochen von revolutionären Stößen erschüttert wurde, eröffnet die Regierung, sobald Sie sich ein wenig erstarkt fühlt, die „Epoche der Reformen“ durch eine kolossale Ausgabe für den Bau einer Eisenbahn durch ein entlegenes, wüstes und fast unerforschtes Grenzgebiet. In seiner von der frechen Gewissheit, dass die Allmacht der Regierung wiederhergestellt sei, erfüllten Rede, zitierte Stolypin den Ausdruck irgend eines Dilettanten, das Amurgebiet gleiche vollkommen der „Germania der Taciteischen Zeiten“. „Aber, meine Herren“, rief Stolypin pathetisch aus, „vergegenwärtigen Sie sich nur, was das Germanien von heute vorstellt!“ Und das „Parlament“ des an den Bettelstab gebrachten Landes, dessen Bauernschaft aus dem chronischen Hungerleiden nicht herauskommt, bewilligt im Dringlichkeitsweg die Kredite, die nötig sind, um die Amurwüste in das heutige Deutschland zu verwandeln.
Aber die Amurbahn ist nur der erste Schritt. Wie die Vertreter der Regierung selbst hervorgehoben haben, wird dieser erste Schritt unvermeidlich zu einem zweiten führen: zu der Legung eines zweiten Geleises auf der sibirischen Linie. Diese beiden Unternehmungen, nebst der materiellen Aufbesserung der Armee, die gleichfalls in erster Linie durchgeführt werden soll, dürften nach den Berechnungen Kokowzews etwa 800 Millionen Rubel erfordern. Die Milliardenzuweisung zum Wiederaufbau der Flotte hat die Dumakommission allerdings abgelehnt. Aber der friedliche, selbst jeder äußeren Dramatik bare Ausgang dieser „Ablehnung“ gibt Anlass zu der Vermutung, dass die Sache von der Regierung nicht allzu tragisch genommen wird.
Das Entgegenkommen der Duma in der Frage der Amurbahn könnte als Wahnwitz erscheinen, hat aber seine guten Gründe. Die Mehrheit der dritten Duma besteht aus Elementen, die untereinander unversöhnlich sind, aber durch ein gemeinsames Band zusammengehalten werden: nämlich den reinen unverfälschten Hass gegen die sozialen Tendenzen der Revolution. Und sie selbst sieht dies sehr wohl ein. Die Fragen der äußeren Politik, „die Macht und das Ansehen“ des Staates bilden die einzige Sphäre, in der die Duma unter Überwindung ihrer inneren Gegensatze die Antwort auf jene Fragen zu stellen hofft, welche die Revolution geboren haben und vor welchen es kein Aufweichen gibt. Und so sehen wir denn, wie in den letzten Monaten die Parteien der „gebildeten“ Klassen des Landes immer weiter von den inneren Fragen abrücken, um mit um so größerer Beharrlichkeit ihre ganze Aufmerksamkeit auf die äußeren zu konzentrieren.
Dass die Rechte für die Amurbahn gestimmt hat, findet genügende Erklärung schon in dem Umstand, dass die Regierung das Versprechen gibt, längs des Amur mehrere Millionen Desjatinen Land für die Ansiedlung von Bauern zur Verfügung zu stellen. Kann es denn etwas Verlockenderes geben als den Plan, die Agrarfrage an die Ufer des Stillen Ozeans abzuschieben? Die im oktobristischen Zentrum sitzenden Vertreter des Großkapitals erblicken im Amurpatriotismus vor allem 300 Millionen Rubel, die mit Hilfe einer Staatsanleihe in die Taschen der vaterländischen Industrie stießen werden. Bei der schweren industriellen Krise bleibt nichts übrig, als von Neuem die ganze Hoffnung auf die Staatsbestellungen zu richten, wenn schon einmal die Durchführung großzügiger innerer Reformen, welche die Produktivkraft des Landes heben sollten, vorläufig auf unbestimmte Zeit in die Ferne gerückt sind. Dass aber die Oktobristen sich mit diesem Gedanken völlig ausgesöhnt haben, zeigt die vollkommene Inhaltslosigkeit der Diskussionen bei der Besprechung des Etats des Ministeriums für Handel und Industrie.
Die Kadetten stimmten gegen die Amurbahn. Wir wollen die Frage unerörtert lassen, wie sie gehandelt hätten, wenn ihre Stimme für das Geschick der Regierungsvorlage ausschlaggebend gewesen wäre. Es genügt der Hinweis, dass in den Reihen der Kadetten eine starte Strömung zugunsten der ostasiatischen Abenteurerpläne vorhanden ist, und dass Miljukow selbst sich zum Wortführer dieser Minorität innerhalb seiner Fraktion gemacht hat. Auf der anderen Seite eröffnete Herr Peter v. Struve, dieser überaus empfindliche politische Barometer des liberalen Bürgertums, eine energische Kampagne gegen die „antistaatlichen“ Traditionen der russischen Intelligenz, indem er sie beschwört, es doch begreifen zu wollen, dass der Staat als „mystische Persönlichlichkeit“ „Selbstzweck“ sei, und dass es in Machtfragen des „Großen Russland“ für Parteidifferenzen keinen Raum gebe. Er weist auf die Balkanhalbinsel als auf dasjenige Territorium hin, auf dem die mystische Persönlichkeit mit den aus den Feldern Mandschuriens arg zerschundenen Knochen ihre große allslawische Mission zu erfüllen habe. Diese nationalliberale Travestierung des veralteten Slawophilentums, die unter der Feder des Herrn Peter v. Struve, eines geborenen Deutschen und ehemaligen Marxisten, ganz besonderen Reiz gewinnt, hat bereits in Professoren- und Studentenkreisen zu der Bildung von slawischen Gesellschaften geführt, deren Leitung in den Händen von Mitgliedern der Kadettenpartei liegt. Und im gegenwärtigen Augenblick eröffnen die zu Ehren der leitenden slawischen Nationalisten Österreichs in Petersburg veranstalteten Bankette eine neue „große“ Epoche der allslawischen Politik, indem sie die Oktobristen, die Kadetten und die Rechte verbrüdern Politisch findet die Aussöhnung der gebildeten Gesellschaft mit der mystischen Persönlichkeit der Romanowschen Dynastie ihren Ausdruck darin, dass die Kadettenfraktion mit fest verschlossenen Augen die Kredite für die auswärtige Repräsentation bewilligt und jedes Auftreten des Ministers des Äußern mit Beifallklatschen empfängt und begleitet. Prinzipieller als die Oktobristen in der Theorie, aber feiger in der Praxis, suchen die Kadetten im Imperialismus die Lösung jener Ausgaben, welche die Revolution bis jetzt nicht gelöst hat. Die Partei, welche das allgemeine Wahlrecht ebenso wie die „Diktatur des Proletariats“ nunmehr zu den „verblichenen Illusionen“ wirft, gelangte infolge der Ereignisse der Revolution und der Konterrevolution zu der objektiven Notwendigkeit, sich von der Idee der Expropriation des großen Grundbesitzes und der Demokratisierung der gesamten gesellschaftlichen Ordnung loszusagen, somit auch von der Hoffnung, für die kapitalistische Entwicklung eine feste Grundlage in der Gestalt eines stabilen inneren Bauernmarktes zu schaffen. Aber in einem, solchen Falle verwandelt sich für sie naturgemäß der Staat zum Selbstzweck,, dessen mystische Mission darin bestehe, die Herrschaft auf den äußeren Märkten zu sichern. Der oppositionell gefärbte Imperialismus Miljukows verleiht gewissermaßen der konterrevolutionären Kombination, die der dritten Duma zugrunde liegt, einen leichten ideologischen Anstrich: jener Kombination von selbstherrlichem Autokraten, von der Kultur nur oberflächlich belecktem Gutsbesitzer, und protzenhaftem Kapitalisten.
Die Realisierung der mystischen Mission würde freilich ganz enorme Summen erfordern. Die Lage des Staatsschatzes ist aber im höchsten Grade traurig. Der Goldbestand schmilzt systematisch hin, denn die Zinsen für die äußeren Anleihen müssen gedeckt werden. Graf Witte hat in der Reichsratskommission bereits mehr als einmal ausgesprochen, eine wie große Gefahr der Goldwährung droht. Der Finanzminister weiß natürlich besser als sonst jemand, wie sehr diese Befürchtungen gerechtfertigt sind Er behauptet jedoch mit großer Sicherheit, dass es genüge, den Staatsschatz durch so kostspielige Reformen, wie die Agrarreform oder die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, nicht zu belasten, um dann mit Leichtigkeit für die auf der Tagesordnung stehenden patriotischen Zwecke Geld zu bekommen. Und es ist schwer, gegen diese Sicherheit anzukämpfen. Bei der augenblicklichen Depression, die auf dem Markte herrscht, bleiben Staatspapiere immerhin die verlockendste Form für die Platzierung von freigewordenen Kapitalien. Was aber das Risiko betrifft, das die Zeichner von Staatsanleihen laufen, so verteilt es sich erstens aus die zahlreichen Inhaber der Papiere, während sich der ungeheure Gewinn aus der Begebung der Anleihen in wenigen Händen konzentriert; zweitens. aber ist ja in den enormen Zinsen dieser Papiere die Prämie für das Risiko. bereits enthalten. ferner muss auch im gegenwärtigen Augenblick, wo im Lande offenbare „Ruhe“ herrscht – wenn auch unter der Begleitung unaufhörlicher Expropriationen und kriegsgerichtlicher Morde –, wo die Duma mit der Regierung Hand in Hand geht und die Opposition dem Minister des. Äußern ehrerbietig Beifall klatscht, das Risiko geringer als je erscheinen. Endlich erschließt die eben jetzt unter tätiger Mitwirkung der französischen Diplomatie erfolgte Annäherung an England dem Amurpatriotismus den britischen Geldmarkt, und man hat allen Grund zu der Annahme, dass die Entrevue zwischen Eduard VII. und Nikolaus II. nur das dekorative Vorspiel zu einer grandiosen Anleihe an der Londoner Börse bilden werde.
Die so geschaffene Lage scheint aus den ersten Blick ganz unerwartete Folgen in ihrem Schoße zu bergen. Die Regierung, die ihr Machtprestige in den Wassern Tsuschimas und auf den Feldern Mukdens zu Grabe getragen hat, über deren Haupt die furchtbaren Folgen ihrer Abenteuerpolitik hereingebrochen waren, sieht sich mit einem Male im Brennpunkt des patriotischen Vertrauens der Vertreter der „Nation“. Nicht nur, dass sie ohne den geringsten Widerspruch eine halbe Million frischer Soldaten und über eine Milliarde Mark für die laufenden Heeresausgaben bekommt: sie findet auch die Unterstützung der Duma bei allen ihren neuen Experimenten im fernen Osten. Aber das ist noch nicht alles: von rechts und von links, von den Schwarzhundertlern und den Kadetten wird ihr der Vorwurf entgegengehalten, dass sie in ihrer äußeren Politik zu wenig Aktivität an den Tag lege. Auf diese Weise wird die Regierung durch die ganze Logik der Dinge auf den waghalsigen Weg des Kampfes um die Wiederherstellung ihrer Position in der Weltpolitik hin gedrängt. Und wer weiß? Vielleicht wird das Schicksal der Autokratie, ehe es auf dem Straßenpflaster von Petersburg und Warschau entschieden wird, vorher noch eine Probe aus den Amurfeldern oder am Gestade des Schwarzen Meeres zu bestehen haben.
1. Dieser Artikel erscheint gleichzeitig im Przeglad (Krakau), Organ der Sozialdemokratie Polens und Litauens.
Zuletzt aktualiziert am 6. Dezember 2024