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Nach Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 227–238, s. auch den russischen Text.
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Ein aus Kaffee, Tabak und einer Masse von Menschenkörpern gemischtes Aroma stand in der Luft. Es war nach ein Uhr nachts. Das Café d’Harcourt, das belebteste auf dem Boulevard St. Michel, war schrecklich überfüllt. Man drängte sich um die Tische und stieß einander mit Ellbogen und Knien. Die Durchgänge waren zur Hälfte mit zusätzlichen Stühlen verstellt. Aus den Theatern, Cabarets, von der Straße, Gott weiß woher, hatten sich auch noch Studenten, Commis, Journalisten und die Mädchen des Quartiers hineingezwängt – die bunte Bohème des Quartier Latin. Man rauchte, trank, kam und ging, rempelte einander an und entschuldigte sich nicht. Die Enge schuf irgendeine sinnlose physische Intimität. Unter den Füßen lagen Haufen von Sägespänen – man rüstete zur Reinigung des Fußbodens für den morgigen Tag. Die Grisettchen wechselten in der Gehweise ihres Berufes von Tisch zu Tisch. Die Kellner in ihren von Wein und Kaffee bekleckerten weißen Schürzen waren zwar müde, aber unfehlbar in der Automatik ihrer Bewegungen, und sie stießen sich rücksichtslos durch die Menge des Publikums mit dem verächtlichen Ausdruck von Menschen, die jeden Tag ein und dasselbe sehen.
„Wie sie wollen“, sagte ein noch ganz junger russischer Privatdozent, „aber sie haben sich heute die Sache in der Frage der Intelligenzler, der dekadenten Literatur, des Sexualproblems und der Angst vor dem Tode schon gar zu leicht gemacht ... So geht es nicht. Zugegeben, ich bin ein Philologe, der in gesellschaftlichen Fragen Dilettant ist, aber ich lehne es entschieden und ein für allemal ab, mir vorzustellen, wie die Verantwortlichkeit eines Ministeriums das Sexualproblem lösen wird.“
„Ja, habe ich ihnen denn das versprochen?“ Etwa fünf bis sechs Russen drängten sich um ein kleines Tischchen. Alle wollten sie am Gespräch teilnehmen – wenigstens als Zuhörer. Das Tischchen war schmutzig, Kaffeebrühe mit Tabakasche vermischt, bedeckte in kleinen runden Pfützen seine Marmorplatte. Kippen und abgebrannte Streichhölzer lagen in Haufen in den Aschenbechern, auf Untertassen, ja sogar in den Gläsern.
„Direkt haben sie das nicht gesagt, aber das ergibt sich doch daraus. Bei ihnen stehen‚das Leben des Menschen‘,‚Eleasar‘, Wedekind und das Arzybaschewtum in direktem Widerspruch zu allen Plattformen, besonders aber zu ihrer eigenen. Entweder das eine oder das andere. Aber das ist doch schreckliche Willkür und an den Haaren herbeigezogen. Soweit ich sie verstehe – nicht nur sie persönlich, sondern sie alle – sind sie überhaupt keine Bilderstürmer: sie lehnen weder Kunst noch Liebe ab. Sie behaupten nicht – zumindest nicht öffentlich – dass die Politik das Anrecht auf den ganzen Menschen habe. Aber sie werden doch nicht leugnen, dass die Sexualfragen ein gutes Stück Leben darstellen. Und der Tod – der Tod stellt doch auch ein gutes Stück Leben dar, das heißt, die Gedanken über den Tod der unheilvolle Abglanz, den er auf all unser Tun wirft, und schließlich, wie sie gestatten, einfach die Angst vor dem Tode Die Decadence, diese von ihn so sehr verurteilte Kunst der Gegenwart, kennt fast ausschließlich nur folgende zwei Momente: die Ekstase zweier Körper und die Trennung von Körper und Seele. Das Leben ist damit freilich nicht erschöpft. Aber diese Themen sind, was sie auch einwenden mögen, auch etwas wert.“
„Was stellen sie dem entgegen? Die Erweiterung der Budgetrechte der Duma? Entschuldigen sie, aber dies, das heißt dies allein – ist dünn. Sogar in höchstem Grade dünn. Fügen sie dem auch das allgemeine, das gleiche und sogar alle Vergesellschaftungen hinzu ... Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch: ich nehme an all diesem vollkommen aufrichtig und glühend Anteil. Und trotzdem sage ich ihnen auf den Kopf zu: auf der höchst empfindlich Waage meines Gewissens können alle ihre Aufrufe dem Rätsel des Todes nicht das Gleichgewicht halten, öffentlich hätte ich ihnen das wahrscheinlich nicht gesagt, einfach, um nicht lächerlich zu erscheinen; aber hier und außerdem noch zu dieser späten Stunde, in der bei uns allen die Nerven gereizt, die üblichen automatischen Assoziationen geschwächt sind und in der wir der eigenen inneren Natur mehr Beachtung schenken, nehme ich mir diese Kühnheit heraus. Der Umstand, dass wir alle hier Anwesenden sterben werden, dass die ganze Menschheit verrecken wird und dass sich der ganze Erdball in Staub verwandeln wird, das hat doch, hol‘s der Teufel, eine gewisse Bedeutung, selbst neben dem Budget für den Botschafter in Tokio und selbst angesichts der Frage, wie man richtig produzieren und wie man richtig verteilen müsste ... Haben sie verstanden?“
„Verstanden schon ...“
„Warten sie! Früher fanden die Menschen einen höchst autoritativen Ausgleich zwischen dem alltäglichen „Dienst“ und der Gewissheit eines unausweichlichen Endes Diesen Ausgleich bot der Glaube. Und heute – wer oder was kann ihn heute bieten? Etwa der historische Materialismus?“
„Kann sein ...“
„Unsinn. Der historische Materialismus wird bestenfalls versuchen, den Ursprung dieser oder jener gesellschaftlichen Stimmung (Erotik, Mystik) mit dem Kampf verschiedener sozialer Kräfte zu erklären. Ob er es gut oder schlecht machen wird, ist im Augenblick gleichgültig. Aber ich, dem sie ihre fragwürdigen Erklärungen servieren, ich werde trotzdem sterben, und all die Perspektiven, die ihr historischer Materialismus vor mir entfalten wird, werde ich – selbst wenn ich an sie glauben sollte – trotzdem für meinen seelischen Gebrauch mit der Perspektive meines unausweichlichen Todes verbinden. Ich frage sie: wo finde ich den Ausgleich und die Erlösung – nicht vom Tode natürlich, sondern von der psychologischen Dualität, die er zu jeder Stunde erzeugt? Wo? Außerhalb der Mystik – nirgends. Nirgendwo! Das muss man ehrlich zugeben. Da ich aber zur Mystik, zum Selbstmord der Vernunft, nicht fähig bin, wende ich mich der Kunst zu. Sie versteht mich und stößt mich nicht ab. Sie kennt die Stunden meiner wahnsinnigen Schlaflosigkeit, wenn es einem scheint, als sähe man den Abgrund des Nichtseins in seiner ganzen Tiefe. Sie kennt die lastenden Widersprüche meines Geistes und findet für sie Töne und Farben ... Ich weiß, dass dies nur ein Surrogat ist. Aber sie, was schlagen sie mir vor? Eine objektive Analyse? Argumente der Unvermeidlichkeit? Eine immanente Entwicklung? Die Negation der Negationen? Das alles ist doch aber für mich – nicht für meinen Intellekt, sondern für meinen Willen – schrecklich wenig. Verbinden sie mich damit psychologisch, moralisch und religiös! Erspüren sie in meiner Seele die religiöse Schlaufe, haken sie dort ein, mit dem Haken ihres historischen Determinismus, und schleifen sie mich dann mit. Mit Freuden werde ich mich schleifen lassen.‚Hosianna!‘ werde ich rufen. Sie aber, nicht nur, dass sie nicht suchen – sie verhöhnen nur! ‚Unter Berücksichtigung des steilen Anstieges des Diskontsatzes an der New Yorker Börse einerseits, wie auch der Konsolidierung der französischen Reaktion um das Ministerium Clemenceaus ...‘ Das ist alles, was sie bieten können. Das ist zu wenig, beleidigend wenig ... Die Sonne wird deswegen doch verlöschen? Ich frage sie: wird sie verlöschen? Auch das ist doch ein objektiver Prozess und dazu noch ein viel einleuchtenderer als jeder andere. Da haben sie schon zwei Objektivitäten! Einerseits: der Diskontsatz dort irgendwo, auf irgendeinem Fleck irgendeines kleinen Planeten, und andererseits: der ganzen Maschinerie unserer Welt geht der Dampf aus ...“
„Nun, das ist noch nicht sicher, so ganz geht er noch nicht aus“, erwiderte fröhlich der Journalist, gegen den die Attacke geführt wurde.
„Garcon, un grogue americain, s’il vous plait!“
„Wenn nicht heute, dann in zweihunderttausend Jahren. Im Prinzip ist das ein und dasselbe. Wichtig ist, dass jene soziale Objektivität, mit der sie meine Persönlichkeit – verzeihen sie – so skrupellos erdrücken wollen, selbst wie mit einem Deckel von oben her durch die unerfreulichste kosmische Objektivität erdrückt wird. Und wenn man diese beiden Deckel betrachtet und sie dabei noch intensiv daran erinnert, dass man um den dritten‚Deckel‘, das heißt um den persönlichen Tod, auf keine Weise herumkommt, und das nicht erst in zweihunderttausend Jahren, sondern wesentlich früher, dann wird der Herr Intelligenzler einfach sagen:‚Hol euch doch alle der Teufel!‘ Er will sich den Hut aufs Ohr drücken und einen üblen Ort aufsuchen. Das ist ihr ganzer New Yorker Diskont! Da ist ihr Clemenceau!“
Alle brachen in Gelächter aus.
„Ich will ihnen meinerseits“, wandte sich ein schüchterner, hellblonder Junge im Alter von etwa 22 Jahren an den Journalisten, „wenn sie gestatten, ein paar Worte bezüglich der sogenannten Anarchie des Fleisches sagen, die sie in ihrem heutigen Referat mit soviel Verachtung erwähnt haben ... Es geht mir natürlich nicht um die Bezeichnung; ich denke aber, dass diese Haltung immerhin einen ehrlichen und kühnen Versuch darstellt, eine Antwort auf ein große und tragische Frage zu finden.“
Vor allen Dingen ist sie ein Aufruf, unvoreingenommen an das Problem heranzugehen, sich von absolut trügerischen, aber trotzdem nicht weniger quälenden Widersprüchen zu befreien. Wenn sie wollen – ist das eine falsche Rehabilitierung des Lebens, die die Gesellschaft von Zeit zu Zeit nötig hat, die wie eine Spinne aus eigenem Stoff ein Spinnennetz von Vorurteilen und falscher Moral erzeugt.
Die Feuilletonschreiber suchen jetzt eifrig nach Beispielen für Ausschweifungen und Entartungserscheinungen in der neuen Literatur, als ob nicht jeglicher Kampf – sei es der politische, soziale oder religiöse – seine eigenen Exzesse hervorbrächte. Aber der Kern ist trotzdem gesund und fortschrittlich ....
„Meine Herrschaften!“ sagte der Journalist, der sich nach dem öffentlichen Referat, das mit heißen Diskussionen endete, immer noch wie eine aus dem Kanonenrohr abgeschossene Kugel fühlte.
„Es ist mir genau genommen unmöglich, den Kampf auf einem Terrain anzunehmen, wie sie es sich jetzt aussuchen. Bedenken sie: man verlangt von mir, ich solle so nebenbei eine Glaubenslehre schaffen, die dem Intelligenzler dazu verhelfen könnte, die Isolierung durch seine Individualität zu überwinden, die Angst vor dem Tode und die prätentiöse Skepsis zu bewältigen, eine Glaubenslehre, die sein „Unbewusstes“, die Seele seiner Seele, mystisch mit der gegenwärtigen großen Epoche verbindet. Aber das ist doch – entschuldigen sie bitte! – eine glatte Verhöhnung meines Standpunkts. Das ist etwa dasselbe, als wenn ich mir ein wissenschaftliches Referat über den geschichtlichen Ursprung der Bibel angehört hätte und dann fordern würde, der Vortragende sollte mir auf Grund der Apokalypse das Datum der zweiten Wiederkehr angeben. Mais ce n‘est pas mon métier, messieurs, könnte ich ihnen sagen – das gehört nicht zu meinem Beruf, und damit basta. Ich will es jedoch versuchen – nicht, ihnen zu widersprechen, denn das ist unmöglich – sondern ihrem Selbstgefühl mein eigenes gegenüberzustellen ... Fangen wir so an. Sie sagen, ohne Mystik oder irgendein anderes Surrogat könne man nicht auskommen. Aber sehen sie mal an: wir kommen ohne dergleichen aus. Hunderttausende von uns, Millionen, viele Millionen. Mit jedem Tag wächst unsere Zahl. Ich bitte zu begreifen: die Mystik brauchen wir einfach nicht. Nach der ganzen Beschaffenheit unserer Begriffe und unserer Leidenschaften können wir und wollen wir nicht an die Kiewer Hexe glauben. Wir sind weder dazu bereit noch dazu fähig. Die Frage läuft aber letzten Endes – und das wissen auch sie – gerade darauf hinaus. Herr Berdjajew hat beispielsweise in großen mystischen Höhen begonnen, endete dann aber doch bei dem Glauben an die geschwänzte Hexe auf dem Besen und behauptete heute zusammen mit dem Beamten Lebedew (erinnern sie sich, bei Dostojewski?) steif und fest, der Unglaube an die Hexe sei „ein französischer, ein seichter Gedanke“. Sie aber, verehrtester Professor, sind mitten darin steckengeblieben: die Vernunft zieht sie zu uns, gefühlsmäßig aber sind sie bei Lebedew ...“
„Gestatten sie“, unterbrach ihn der Privatdozent, als wäre ihm plötzlich ein Gedanke aufgegangen, „ich räume ein, dass ihnen der Kampf die Mystik ersetzt, seine Leidenschaftlichkeit, seine Glut, seine Verbissenheit und seine Vehemenz. Zugegeben. Aber jener neue Mensch, dem sie doch ihren Kampf nicht vererben können – was bleibt ihm? Seine Gedanken werden frei sein, seine Seele unbeschwert, und er wird genügend Muße haben. Und plötzlich wird er die Frage stellen, und was weiter? Und da er keine Antwort findet, wird er von ihnen‚das Eintrittsgeld‘ zurückverlangen“.
„Erstens haben sie mich überflüssigerweise zu unterbrechen geruht. Zweiten bauen sie den künftigen Menschen reichlich primitiv nach ihrem Vor- und Ebenbild. Drittens sage ich ihnen offen: das Wohlbefinden des künftigen Menschen hat mir noch keine einzige schlaflose Nacht bereitet. Soll er selbst in seinem Inneren Ordnung schaffen, uns genügt es schon, dass wir ihm von außen her eine geordnete Wirtschaft übergeben. Zur Zeit liegt das Problem jedenfalls nicht darin. Die Sache ist nämlich die, dass sie oder richtiger diejenigen, mit denen sie nicht wagen, sich einverstanden zu erklären, es ablehnen, auch nur an die Möglichkeit zu glauben, dass der Mensch der Zukunft ohne die Krücken der Mystik erscheinen könnte. Bewusst oder unbewusst wiederholen sie Renan:‚Mit Hilfe von Trugbildern‘, sagt er irgendwo,‚gelang es, den Gorilla zu erstaunlichen moralischen Anstrengung zu bewegen; sobald diese Trugbilder verschwinden, verschwindet auch jene künstliche Energie, die sie hervorgerufen haben‘. In ihrer Sprache heißt dies, dass der Mensch, entsetzt über die Abkühlung der Sonne, sich sein Gehirn schief aufstülpt und sich an einen üblen Ort entfernt. Aber das eben ist ja eine Verleumdung des Menschen. Gerade hier offenbart sich ja der Zynismus des kleinen geistigen Bonvivants, der zu denken wagt, dass nur die falschen Lockungen und Köder am Angelhaken der Geschichte die Menschheit vor dem Rückfall in die Barbarei retten könnten. In diesem überheblichen sozialen Nihilismus, ergänzt durch auswechselbare Mystik und Erotik – und bei den provinziellen Pessimisten einfach durch Süßholz raspeln – erblicke ich nicht die Fortentwicklung des Menschen zum Übermenschen, sondern eine Rückentwicklung vom Kleinbürger zum – wenn auch philosophierenden – Gorilla. Und die Garantie für eine Weiterentwicklung – das sei ein für allemal gesagt! – suchen und finden wir nicht in der Gemütsbewegung einer einzelnen Seele, sondern in dem unabweisbaren, tief realistischen und von allen Trugbildern freien Druck der Massen!“
„Das gesellschaftliche Leben ist seinem Wesen nach das praktische Leben“ – hat der größte Materialist des vorigen Jahrhunderts gesagt. „Alles Geheimnisvolle, alles, was die Theorie zum Mystizismus führt, findet in der menschlichen Praxis eine rationale Lösung.“ Andererseits ist der bedeutendste Individualist der Dekadenz an den gleichen Gedanken vom entgegengesetzten Ende herangegangen: „Die neueste, lärmende, um die Zeit feilschende, selbstgefällige, dumm-stolze Betriebsamkeit“, sagt er, „erzieht mehr als alles andere zum Unglauben und bereitet ihm den Weg“. Begreifen sie doch, es ist doch nur dieses müßige, vom Nichtstun ermüdete subjektive Bewusstsein, das den „unlösbaren Konflikt“ zwischen der sozialen Verpflichtung und der Verpflichtung zum Sterben konstruiert. Die gesellschaftliche Praxis kennt hier keine Widersprüche, und wir sehen, wie von Jahrhundert zu Jahrhundert die älteren Generationen den Weg freimachen für die Jüngeren, für die noch nicht Geborenen. Wir wollen dieses instinktive Schaffen mit gespannten Bewusstsein tränken, nicht weil Gott oder die Moral oder die Liebe zu den kommenden Geschlechtern es fordert, sondern weil dies unser eigenes Leben verschönt und bereichert und ihm Sinn gibt. Aber hier fängt nach ihrer Meinung eben auch die Tragödie an: der riss zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, der Aufstand der ihrer selbst bewusst gewordenen Persönlichkeit gegen den gesellschaftlichen Zwang. Stimmt das? Stimmt das bei allen? Stimmt dies bei vielen? Schauen sie sich um, und ich sage ihnen erneut: der ihrigen gibt es eine handvoll, die unseren sind nicht zu zählen ...
... Realistische Aktivität und vor Tatenlosigkeit vergehende Mystik! Diese Antithese findet an Klassen, Gruppen und Einzelpersonen ihre Bestätigung. Ich sage es grob: in unserer Epoche wird ein Mensch sitzender Lebensweise (ich meine in jedwedem Sinne sitzend), wenn er nicht ein patentierter Holzklotz ist, unbedingt zu einer geistigen Verdauungsstörung kommen. Nur breite Praxis, die Aktivität und nur der Wille zur Tat kann einen richtig funktionierenden geistigen Kreislauf gewährleisten. Gestatten sie mir, kurz; eine Parabel oder ein Gleichnis einzuflechten: Es war still und unbewegt die Luft, schlaff hingen die Segel herab, grübelten über ihren Daseinszweck und murrten über die Sinnlosigkeit der Schöpfung. Doch dann erhob sich ein starker Wind und schwellte die Segel. Und schon rätselten sie nicht mehr an ihrer Bestimmung herum, sondern erfüllten sie freudig und trugen das Schiff in die offene Zeit. Meine Parabel mag vielleicht schlecht sein, aber der Gedanke ist gut.
O löst mir das Rätsel des Lebens, |
sagt Heine von ihm ... Aber ich habe mein Gleichnis nicht zu Ende erzählt. Unter den Segeln gab es solche mit Löchern – ob von Natur aus oder von Alters wegen, ist gleich. Der Sturm pfiff durch ihre Löcher, aber sie blähten sich nicht. Erzürnt über ihre eigene Nutzlosigkeit, gingen sie vom Räsonieren und Jammern zur zynischen Weltlästerung über. Das aber ist eine Todsünde, die in alle Ewigkeit nicht verziehen wird.
... Sie nehmen die seelisch Löchrigen unter ihren Schutz. Sie sagen, dass wir ihnen nichts geben, dass die zeitgenössische Kunst, die wir angreifen, ihnen wenigstens ein Glaubenssurrogat bietet. Das stimmt, wenn sie so wollen im zaghaft mystischen Impressionismus, der auf irgend etwas anspielt, ergötzen sich die „religiösen“ (d. h., schlicht gesagt, die artbedingten, sozialen) Instinkte an sich selbst, ohne eine Wirkung nach außen zu suchen. Eine besondere Masturbation der Seele! Diese Kunst fördert nicht nur die soziale Willenlosigkeit der Intelligenzler, sondern leistet ihr systematisch Vorschub ... In einem dieser Tage erschienenen deutschen philosophischen Pamphlet stieß ich auf ungefähr folgende Bemerkung:
„Die Kunst ist fast unmoralisch – wie Opium Sie verschafft dem Geist eine flüchtige Befriedigung und kastriert ihn im Hinblick auf die Postulate der realen Welt, von denen das erste die Zufriedenheit mit der Welt in ihrer Realität ist“. Hinsichtlich der zeitgenössischen Literatur ist das vernichtend richtig. Sie dreht der großen realen Welt den Rücken zu und, anstatt mit ihr in ihrer Realität zufrieden zu sein, sät sie nur unverantwortlichen Ekel vor ihr. Aus ihr spricht irgendein entkräftigender Aristokratismus wie bei Wersilow, der sich kraftlos darüber beklagte, dass die Wirklichkeit immer ein wenig nach Stiefel riecht ... Unter der Befriedigung durch die Realität des Bestehenden werden sie natürlich nicht die Befriedigung durch das Bestehende verstehen. Im Gegenteil, ganz und absolut im Gegenteil: der mächtige und beharrliche Protest gegen das Bestehende ist nur auf dem Boden der bedingungslosen Anerkennung der Welt in ihrer unabweisbaren Realität möglich. Und andererseits: die mystische Selbsterhebung über die Welt bedeutet in Wirklichkeit eine Aussöhnung mit dem Bestehenden in all seiner realen Gemeinheit Und ich sage ihnen aus tiefstem Herzen: wenn der übelriechende Stiefel der Wirklichkeit die philosophischen und ästhetischen Disziplinen, die nicht von dieser Welt sind, zu Staub zertrampelt, dann verspüre ich nichts als grimmigste Schadenfreude. Ihre Literatur lehne ich ab, nicht weil sie symbolistisch, nicht weil sie impressionistisch, nicht weil sie mystisch, ja schließlich sogar nicht weil sie zum größten Teil schlecht ist – sondern weil sie vom Aussatz der Hoffnungslosigkeit befallen, weil sie in ihrer gehässigen Ausweglosigkeit eine Lästerung ist, eine gemeine, feige Lästerung des souveränen Stiefels der Wirklichkeit (ich spreche das Wort STIEFEL großgeschrieben aus), nicht des Seins, vor dem sie sich mühsam durch den Dreck schleppt, sondern des realen, des wirklichen Seins, d. h. der Menschheit selbst mit allen ihren künftigen Siegen über sich selbst, weil sie eine Schmähung ihres großen morgigen Tages ist! Das ist es, warum ich sie in meinen besten Stunden – wenn ich mich über mich selbst hinaushebe, über den kleinen russischen Intelligenzler der Iden der dritten Duma, wenn ich mit meinen Gedanken und meinem Gefühl ganz in der namenlosen schöpferischen Beharrlichkeit der Millionen aufgehe – nicht akzeptieren kann – hören sie: nicht einen Tropfen ihres literarischen Opiums kann ich akzeptieren ... Ich weiß, ich weiß, was man dem entgegenhalten kann: was geht mich die Menschheit, was ihr morgiger Tag an, wenn ich als Mensch vielleicht schon heute krepieren muss? Denn das ist ja die ganze Weisheit des Skeptizismus und die Prahlerei seiner in seinen Reihen stehenden Hammerschmiede des Zynismus! Und wissen sie: ein Fest, ein wahrhaftes Fest ist es für meine Schadenfreude, wenn ich das mystische Gejaule von brennender Todesangst verbrühter Hunde höre und denke: und ihr werdet doch krepieren. Die Seele des Lebens wollt ihr bespeien, weil ihr Angst vor dem Sterben habt – aber krepieren werdet ihr dennoch!“
„Die Schadenfreude ist keine Antwort“, brummte der Privatdozent vor sich hin.
„Aber wer hat ihnen, Teuerster, denn gesagt, dass ich vorhatte, ihnen zu antworten? Mögen sie ihre Kadaver selbst verscharren. Wir brauchen sie nicht. Haben sie begriffen: wir brauchen sie nicht. Diese Gewissheit ist es, auf die wir stolz sind, dass wir großartig ohne sie auskommen werden!“
Alle spürten, dass das Gespräch in eine Sackgasse geraten war – rauchten und schwiegen.
„Aber mir haben sie trotzdem noch nicht geantwortet...“, unterbrach der blassgesichtige Jüngling das beklemmende Schweigen. „Ach ja, wegen der‚Anarchie des Fleisches‘? Damit steht es wie mit der Anarchie überhaupt: er glaubt zu schieben und er wird geschoben. Niedlich wie er sich einbildet, erbarmungslos, zerstörerisch zu sein. Dabei kopiert er sklavisch das, was da ist. Der Wirtschaftsanarchie als Tatsache stellt er die Wirtschaftsanarchie als Ideal gegenüber. Und genau so ist es mit der‚Anarchie des Fleisches‘ Denk mal einer an, welche enorme Kühnheit – die Ablehnung der Moral, der Ästhetik, ja sogar der Hygiene in der Liebe. Aber das ist doch einfach eine widerwärtige Kopie der widerwärtigen Natur...“
Die Eingangstür begann sich zu drehen, und in den vollgestopften Saal den ein ganzer Schwarm von Grisetten mit Gesichtern lächelnder Mumien ein, in Kleidern, die bunten Aushängeschildern glichen und über den nackten Körper geworfen waren. Eine sonderte sich ab und zwängte sich langsam zum russischen Tisch durch. Lange und gleichgültig lauschte sie den lauten der fremden Sprache und ging dann gleichgültig wieder weg.
„Dieses junge Mädchen“, sagte der Journalist, als sie ging, „ist eine echte wenn auch unfreiwillige Priesterin der Anarchie des Fleisches, eine unwiderstehliche Lehrerin der Geschlechtsmoral Ich spiele, meine Herrschaften, nicht mit Paradoxen, und dieser Gedanke ist mir nicht erst jetzt zum ersten Mal in den Sinn gekommen. Wo lernt der Jüngling die Kunst der Liebe? Bei ihnen. Dort sammelt er die ersten, unauslöschlichen und unvergänglichen Eindrücke. Dort lernt er es, die Liebe ohne alle psychologischen Verpflichtungen zu nehmen – nicht dieser oder jener, sondern sich selbst gegenüber –; dort formiert sich, wenn sie es mir zu sagen gestatten, seine sexuelle Persönlichkeit. Und dann trägt er diese Atmosphäre der Grisette überall mit sich herum – und seine Geliebte oder seine Frau eignet sich in seiner Schule die Manier, die Kniffe und die Moral der Grisette an, sofern sie alles dies nicht schon bei seinem Vorgänger erlernt hat.
„Friedrich Nietzsche, ihr Kollege in der Philosophie“, wandte er sich an den Privatdozenten, „hat irgendwo gesagt: der Katholizismus gab Eros Gift zu trinken: er ist daran nicht gestorben, aber er hat sich in ein Laster verwandelt. – Und was machen ihre Modernisten? Sie lehnen ab, was der offizielle Katholizismus unter seinen Schutz gestellt hat: die Einehe, eingetragen im Hauptregister mit Unterschrift und Siegel, die legitime Produktion von Nachkommen auf Grund des gesetzlichen Patents – das lehnen sie ab. Was lassen sie denn gelten? Vielleicht den alten, lebensfrohen, an sich nicht irre werdenden Eros (nota bene: wenn es einen solchen gegeben hat)? Niemals! Ihr jetziger Eros ist durch den Drill des Mittelalters gegangen. Man hat ihn mit Vorurteilen der Askese vergiftet, ihn einfach durch Arbeit erschöpft, erbärmlich ernährt und man hat ihm Rachitis, Skrofulose und Abzehrung angeimpft ... Ausgehungert haben sie ihn nicht, aber sie haben ihn in ein Laster verwandelt. Und eben dieser durch das Mittelalter vergiftete, durch alle Lunaparks und Krankenhäuser gegangene Eros ist ihr unglücklicher Gott!“
„Entschuldigen sie bitte“, unterbrach ihn der mit krankhafter Aufmerksamkeit zuhörende Jüngling, „sie urteilen jetzt, scheint mir, wie ein professioneller Moralist. Gemeinsam mit den offiziellen Inspektoren unserer Seelen stellen sie fest, was Tugend und was Laster ist, und dann sagen sie: da habt ihr das Statut über die sexuelle Wohlanständigkeit und nun handelt danach. Das ist, mit Verlaub, auch nicht sehr kühn und schon gar nicht sehr originell.“
Der Jüngling errötete, alle lächelten ein wenig.
„Offenbar habe ich meinen Gedanken dumm ausgedrückt“, erwiderte der Journalist sanft, „wenn sie mich so weitgehend falsch verstanden haben. Was mir an unserer gegenwärtigen Literatur so widerwärtig ist, ist gerade ihr Moralisieren – wenn auch in umgekehrtem Sinne. Die Anarchie des Fleisches, wie bei Arzybaschew, ist doch folgende kompakte und aufdringlich Lehre: fürchtet euch nicht, zaudert nicht, schämt euch nicht, geniert euch nicht, nehmt wo ihr könnt... Und wenn moralisiert wird, dann habe ich doch das Recht, nach dem Prinzip zu fragen?“
„Das Prinzip ist: Freiheit und Harmonie der Persönlichkeit.“
„Da haben wir es: Freiheit und Harmonie. Ich könnte hier einhaken und sagen, dass dies eine hohle Phrase sei. Denn was ist Freiheit, und was ist Harmonie? Aber ich akzeptiere ihre Formen. Und gerade wenn ich mich auf diesen Standpunkt stelle, halte ich mich zu der Behauptung berechtigt, dass das Verhalten Sanins die verbrecherischste Beraubung der Persönlichkeit ist... sie wollen Harmonie? Ob sie es fertigbringen, diese ihre Sehnsucht nach persönlicher Harmonie in die soziale Perspektive einzubauen oder nicht, so müssen sie sich doch sagen, dass eine Harmonie ohne die Fülle, ohne die Wahrung dessen, was wir unter den quälen der historischen Entwicklung redlich erworben haben, eine Harmonie also, aus der man auf operativem Wege, durch psychologische Disqualifizierung alle Widersprüche entfernt hat für uns absolut unannehmbar ist, sogar auch dann noch, wenn sie keine hoffnungslose Utopie wäre.
Dans le véritable amour, c’est l’âme qui enveloppe le corps. In einer wahren Liebe umhüllt die Seele den Körper... Am Stängel der geschlechtlichen Liebe haben sich psychologische Blüten entfaltet, auf die wir weder verzichten wollen noch dürfen, weil wir sonst die‚Harmonie‘ eines Viehhofs bekämen“.
„La séance est close, messieurs!“ (Die Sitzung ist geschlossen, meine Herrschaften!) – wandte sich der Kellner ironisch zum russischen Tisch und zeigte dabei auf den fast leer gewordenen Saal und die in den verschiedenen Winkeln gelöschten Lampen „A demain, s’il vous plait ... bis morgen!“
Zuletzt aktualiziert am 7. Dezember 2024