Leo Trotzki

 

Franz Wedekind

(April 1908)


Fassung Neue Zeit, April 1908.
Nach Neue Zeit, 26. Jahrgang 1908/09, 2. Band, Nr. 38 (10. April 1908), S. 63–70.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es könnte von Seiten eines russischen Schriftstellers als eine Kühnheit erscheinen, vor deutsche Leser zu treten mit einem Urteil über einen deutschen Dichter. Aber wir leben in einer Zeit des sich immer mehr vertiefenden Internationalismus. Die russische Intelligenz hat in kaum einem Jahre Wedekind eine Popularität verschafft, deren er sich in seinem Vaterlande nicht erfreut, und das Interessante daran ist, dass es zum großen Teile gerade diejenige Intelligenz ist, die vor zwei, drei Jahren eine Nachfrage „nach Kautsky“ hervorbrachte, wie sie vom Standpunkt des führenden sozialistischen Deutschland phantastisch erscheinen müsste. In diesem ideologischen Wechselfieber spiegelt sich die politische Entwicklung Russlands, so wie sich die realen Erscheinungen in dem Gehirne eines Wahnsinnigen spiegeln. Wir können hier aus diese Frage nicht näher eingehen. Wir wollen nur eines sagen: die russische Intelligenz wird älter und beeilt sich, die Möglichkeit zu geben, die Worte desjenigen Dichters aus sie anzuwenden, der bei ihr zu so unerwartet großer Gunst gelangt ist:

Wie schade, dass alles Schöne vergeht.
Auch deine Hoheit. Die Pubertät
Macht dich den übrigen Flegeln ähnlich.
Der Duft ist hin und du wirst gewöhnlich. [1}

Ja, auch sie wird den übrigen Flegeln ähnlich. Wenn aber die deutsche Intelligenz seinerzeit den Schopenhauer aus den Bücherkammern heraussuchen musste, um mit dem Wasser des pessimistischen Quietismus aste revolutionären Verpflichtungen von sich abzuwaschen, so sucht sich die russische Intelligenz in dem analogen Momente nicht einmal ein geschlossenes System: sie fühlt es, dass sie für ihre Bedürfnisse keine einzige philosophische Formen sieden wird, die nicht schon ganz durchsetzt wäre von dem Speichel der sie immer wiederkäuenden Weisen der zünftigen Wissenschaft. Ein verspäteter Gast an der Tafel der Geschichte, ist sie gezwungen, sich mit schöner Literatur zu begnügen – und mit was für einer? Mit einer solchen, die das Produkt der Zersetzung ihrer älteren Schwester darstellt Dies sind die allgemeinen Bedingungen, welche es möglich machten, dass die keineswegs titanenhafte Gestalt des Müncheners Frank Wedekind einen so unverhältnismäßig großen Schatten wirst in dem ihm fremden Russland Er hat der russischen Intelligenz gerade das geboten, was sie brauchte: eine Kombination von sozialem Nihilismus – diesem verachtungsvollen Unglauben an den Kollektivmenschen – mit erotischer Ästhetik. Der erstere erleichtert ihr die Liquidierung ihrer revolutionären Vergangenheit, die zweite tröstet sie wegen des Nasenstübers, den ihr die Geschichte versetzt.

Vielleicht genügen diese Bewertungen, um zu erklären, was ein russischer Journalist mit einem deutschen Dekadenten zu tun hat.

Des Weibes Leib ist ein Gedicht.
Das Gott der Herr geschrieben
Ins große Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.
(Heine)

Wedekind, der Zyniker und Skeptiker, hat doch auch seinen Gott. Keinen sozialen, versteht sich, auch keinen ethischen, aber einen ästhetischen. Er betet den schönen menschlichen Körper an oder, richtiger gesagt, den weiblichen Körper, die edle Kopfhaltung, die weiche Vollendung der Bewegungen. Die Verehrung der Vollkommenheit des Körpers geht unvermeidlich durch alles, was Wedekind je geschrieben hat – unvermeidlich und fast eintönig. Aus diesem Gebiete gibt es für ihn nichts Unklares. Er hat seine Gedanken bis aus die letzten Einzelheiten durchdacht. Man kann an seinen Werken verfolgen, mit welcher Beharrlichkeit er im Laufe einer ganzen Reche von Jahren über die Mechanik des Ganges nachgedacht hat.

Auf seinem ästhetischen Ideal baut Wedekind ein Erziehungssystem auf. Übrigens ist das zu viel gesagt: Mine-Haha ist etwas, was in der Mitte liegt zwischen einer „Erziehung junger Mädchen“ und einer Muskeltrainierung.

Bis zum neunten oder zehnten Lebensjahre leben die Knaben und Mädchen zusammen. Sie schlafen in einer gemeinsamen Schlafstube und tummeln sich stundenlang im Teiche herum. Die schöne Gertrud lehrt sie gehen. O, das ist keine einfache Kunst! Gertrud hebt das Knie leicht und wirft die Fußspitze nach vorn, dann senkt sie langsam die Ferse, aber sie berührt den Boden nicht eher, als bis ihr Fuß bis auf die große Zehe herab eine gerade Linie mit dem Unterschenkel gebildet hat. Ihr volles rundes, aber zart geformtes Knie streckt sich gerade in dem Augenblick, wo die Ferse den Boden berührt, aber die Hauptsache sind die Hüften. Sie müssen während des Gehens vollständig ruhig bleiben. Gleichzeitig müssen jedoch alle Bewegungen, sowohl die des Oberkörpers als die der Beine bis auf die Zehenspitzen herab von den Hüften ausgehen und von diesen aus gelenkt werden. Während des Gehens, so lehrte die schöne Gertrud, soll man den Boden unter den Füßen nicht spüren, die Füße selbst nicht spüren, man soll nur spüren, dass man Hüften hat. Gertrud selbst war die vollkommene Verkörperung ihrer Kunst. Wenn sie einem entgegenkam, so schien es gar nicht, als ob sie einen Körper hätte von einem bestimmten Gewicht. Man sah nur Formen. Und die Formen selbst vergaß man fast über der Schönheit der Bewegungen.

Wenn die Mädchen und Knaben zehn Jahre alt werden, trennt man sie. Hidalla, die das alles erzählt, kommt nun in einen ungeheuren Park, der von Mädchen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren bewohnt wird. Dreißig einstöckige kleine Häuser sind in dem Park, in jedem Hause befinden sich sieben Mädchen verschiedenen Alters. Sie beschäftigen sich mit Gymnastik, lernen tanzen, schwimmen, musizieren Der Park ist ihre Welt. Was hinter seinen Mauern vorgeht, woher und wie sie selbst in diese Welt gekommen, das bleibt für sie ein absolutes Geheimnis und die harmonische Ruhe ihres Lebens schafft für die kleinen Seelen völligen Gleichmut und erlaubt es ihnen, sich gar keine Fragen aufzuwerfen. Vier Jahre verbringen die Mädchen in dem Parke, sie tanzen, spielen verschiedene Instrumente, gehen auf den Händen, tummeln sich in dem Bache herum – und erst der Eintritt der Geschlechtsreife stört das Gleichgewicht ihres Körpers und ihrer Seele. Aber mit diesem Augenblick beginnt die Periode der Erziehung. Die Mädchen werden aus dem Parke herausgeführt, sie treffen mit Knaben gleichen Alters zusammen und gehen paarweise mit ihnen fort. Wohin? ... Hier bricht Hidallas Erzählung ab.

Mine-Haha ist die „körperliche Erziehung junger Mädchen“. So nennt Wedekind selbst sein System. Wo bleibt aber die seelische Erziehung? Über diese wird nicht gesprochen. Noch mehr, es wird für diese kein einziges Spältchen übrig gelassen. Die ganze Zeit wird mit körperlichen Übungen und Musik ausgefüllt. Bücher, Papier, Tinte gibt es nicht! Und es ist kein Zufall dass die ganze Erziehung des Weibes bei Wedekind auf die ästhetische Kultur des Körpers hinauskommt. Wenn er von einem vollkommenen Weibe spricht, von einem Rassenweibe, das „im besten Sinne des Wortes ein Kunstwerk darstellt“, schwebt ihm immer nur die vollendete Verkörperung der Geschlechtsidee vor. „Die Frau, welche die Mittel zu ihrer Existenz durch Liebe erwirbt, steht immer noch höher in meiner Achtung als diejenige, welche sich so weit erniedrigt, dass sie Feuilletons oder selbst Bücher schreibt.“ Mit diesen Worten drückt Hidalla nur den Grundgedanken des ganzen Systems Mine-Haha aus.

Die Frau, die sich zur geistigen Arbeit erniedrigt, steht tiefer als diejenige, welche ihre Hüften verkauft. Welche Kühnheit! ... Aber ist das wirklich Kühnheit? Eigentlich spricht ja Wedekind hier wie in vielen anderen Fragen mit dem moralischen Zynismus des Ästheten, dem alles erlaubt sie, nur das offen aus, was so halb und halb jeder Philister bei sich denkt.

Gegen diese banalen Vorurteile polemisieren, denen die geschraubt paradoxe Form das Ansehen von kühnen Paradoxen verleiht, hieße selbst in Banalität verfallen. Viel interessanter ist es, das System Mine-Haha um seine eigene Achse zu drehen und es von einem ganz anderen Gesichtspunkt zu betrachten.

Wedekind strebt nach körperlicher Schönheit. Er findet sie nicht in der Umgebung, in welcher er lebt. Und so baut er sich eine Idealwelt aus, er schreibt Mine-Haha. Der Grundgedanke all seines Suchens ist letzten Endes ein sehr beschränkter: er will, dass das Weib eine elastische Muskulatur habe, dass die Hüften beim Gehen ruhig bleiben, dass das Knie nicht eher gestreckt werde, als bis die Ferse den Boden berührt. Ans der Suche nach Schönheit der Körperproportionen gelangt nun Wedekind zur völligen Verneinung der gegenwärtigen Form der Familie, wenigstens soweit diese sich ans das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern bezieht. Er gibt ein Bild einer sozialisierten Kindererziehung. Schon im Beginn des fünften Lebensjahrs werden die Knaben und Mädchen dazu angehalten die Säuglinge zu pflegen. Nach ein bis zwei Jahren bekommt jedes Kind seinen Zögling, welchen es unter der gemeinsamen Anleitung der Kinderfrau rein zu halten hat, für den ganzen Tag in den Garten bringen muss oder in die Holzgalerie, wenn es regnet, und dem es die Saugflasche zu reichen hat. Auf diese Weise erzieht die jeweilige Generation schon im zartesten Alter die nachfolgende.

Unter den Mädchen im Parke herrschte die gleiche Anordnung. An der Spitze jeder Gruppe stand ein Mädchen von dreizehn bis vierzehn Jahren. Sie lehrte die anderen die körperlichen Übungen, sie verteilte die Nahrung bei Tische und leitete die Unterhaltung. Außerdem kam jede Neueintretende unter die spezielle Aufsicht eines von den älteren Mädchen

Diese Anweisungen streut Wedekind nur hie und da im Vorübergehen ein, unter die sorgfältigen und liebevollen Schilderungen des Anzugs, des Essens und des Tanzes. Aber trotzdem bleibt das Denken an diesen Bemerkungen haften. Das Bild dieses ungeheuren Ameisenhaufens aus lauter Kindern, wo die jungen Leiber und Herzen in enger Berührung und Arbeitsgemeinschaft aufwachsen und sich entwickeln, wo die ersten Kenntnisse und die erste Hilfe von einer Lebensstufe zur anderen übergehen, wie das Wasser auf einer Treppe herunter fließt – dieses schöne Bild macht trotz der Fehler in der Perspektive unser staunendes Auge aufleuchten! Welcher Unterschied im Vergleich mit unserer gewöhnlichen Familie, wo zwei Generationen, durch ein halbes Menschenalter voneinander getrennt, durch das gemeinsame Band der ökonomischen Abhängigkeit gewaltsam aneinander gekettet sind, Generationen, die einander so oft im Wege stehen.

Der Kultus des Leibes, der Kampf um seine Vollkommenheit führen den Künstler zur Forderung von sozialistischen Erziehungsbedingungen! Diese Tatsache spricht ebenso sehr für das künstlerische Feingefühl Wedekinds als für die innere Unwiderstehlichkeit der sozialistischen Existenzformen. Es bleibt aber noch die Frage nach der sozialen Umrahmung, in welche der Dichter seine harmonische kleine Welt hineinbringt.

Wedekind kommt der Frage der produktiven Kinderarbeit nahe. Vor allem ist die Erziehung der jüngeren Kinder durch die älteren eine ungeheuer produktive Arbeit, deren Übertragung auf die Kinder selbst nicht nur ungleich mehr Harmonie in das Leben der Kleinen bringen, sondern auch die Erwachsenen entlasten wird, indem sie deren schöpferische Kräfte von den wirtschaftlichen Fesseln befreien wird, welche die heutige Familie, die teils Küche, teils Krankenstube, teils Waschanstalt ist, ihnen auferlegt. Aber nicht nur das. Hidalla erzählt im Vorübergehen, dass Kinder von acht bis neun Jahren vor der Tür ihres Hauses den Bast für ihre Sommerhüte flochten, während die ganz Kleinen zu ihren Füßen im Sande spielten Und die übrigen Arbeiten? Wer bereitet das Essen? Wer räumt im Hause auf? Wer wäscht die Wäsche? Diese Arbeiten sind nicht so elegant wie das Flechten von breitrandigen Hüten, und der Verfasser ruft in seiner Verlegenheit zwei abstoßende alte Frauen zu Hilfe. Wo kommen sie her? Das sind ehemalige Zöglinge, die hier für immer eingekerkert sind wegen Vergehen gegen das Reglement des Parkes. Naiv und läppisch wie die Legende vom Storch, der die Kinder bringt. Aber was kann Mine-Haha anderes bieten? Jedoch auch die Alten lösen die Fragen nicht: Wie verbindet sich der Park mit der Außenwelt? Wer liefert alles Nötige? Durch welche Mittel besteht die ganze Einrichtung? Wedekind baut ein Theater in seinem Park. Allabendlich wird eine Ballettvorstellung gegeben. Die nichtsahnenden kleinen Mädchen führen unter der Anleitung ihrer Tanzlehrerin sehr gewagte Pantomimen aus. Dieses letzte Detail brauchte Wedekind offenbar, um zu erklären, warum das Theater immer gefüllt war. Wenn man aber dieses System auch ganz so ausnimmt, wie es ist, bis auf den Umstand, dass die kleinen Mädchen ihre Erziehung durch die Teilnahme an den Pantomimen aus dem Moulin Rouge bezahlen, so muss man auch da noch zu dem Schlusse gelangen, dass Mine-Haha nur eine Erziehung für wenige sein kann. Sonst gäbe es zu viele Balletts im Lande, und man könnte die „körperliche Erziehung der jungen Mädchen“ nur so ermöglichen, dass man das Besuchen der Balletts für die ganze übrige Bevölkerung obligatorisch machte.

Die unruhige Ästhetik Wedekinds, die ihm einen kleinen Winkel der Zukunft enthüllt, verlässt ihn doch hilflos an den Toren des Parkes. Die Liebe zu plastischen Formen genügt nicht, um die Welt umzuwälzen.

Ich liebe die Liebe, die ernste Kunst.
Urewige Wissenschaft ist
(Lulu)

An hundert Weiber hatt’ ich wohl im Sold,
Mit denen ich mein Gut und Blut vertollt,
Die schönsten Nymphen, im modernen Babel,
Und ich blieb leer, vom Scheitel bis zum Nabel.
(Das tote Meer)

Wedekind hat eine innere Entwicklung durchgemacht – wir sprechen darüber ausschließlich auf Grund seiner literarischen Werke –, die wegen ihrer Bestimmtheit und ihrer sozialpsychologischen Naturgesetzlichkeit bemerkenswert ist. Fleischliche Ästhetik und sozialer Zynismus als Prämissen und als Resultat aller seiner seelischen Erfahrungen haben ihren Inhalt bis aus den Grund ausgeschöpft und sind in das Gegenteil umgeschlagen. Der kühne Verneiner ward zum furchtsamen Mystiker! Im Frühlingserwachen, einem seiner Jugendwerke, belauscht er die ersten schüchternen Bewegungen des Geschlechtes. Hier ist alles rührend, unbeholfen und schön in seiner Unbeholfenheit, weil es voll Möglichkeiten ist. Solche Tragödien selbst, wie Moritzens Selbstmord und Wendlas Ermordung stören den allgemeinen Eindruck des Frühlings nicht, weil sie als äußeres Unglück erscheinen, hervorgerufen durch die sinnlose Schule und die hässliche Familie, diese verfluchte zweifache Kette aus verrosteten Gliedern. Welche ästhetische Geilheit ist es, „Frühlingserwachen“ auf die Bühne zu bringen, wo Männer in mittleren Jahren mit rasierten Gesichtern die Mutierung der Kinderstimme simulieren müssen!

Aber das Geschlecht ist erwacht und breitet die Schwingen. Es hat – wenigstens scheint es ihm so – die Ketten der alten Familie zerrissen, es hat sich – wenigstens bildet es sich das ein – über die soziale Beschränkung gestellt. Weder Religion, noch Philosophie, noch ein soziales Ideal. Nur eine ununterbrochene Reihe von ästhetischen Erlebnissen sind das Gefolge, in dessen Begleitung das Geschlecht austritt. Ein einziger Schritt noch, und es wird zum Erdgeist.

Das ist nun nicht mehr die kleine Wendla, welche fordert, man möge ihr das Rätsel vom Storche lösen, jetzt ist es Lulu, so schön wie die Sünde. Geschmeidig wie eine Schlange, in jeder Bewegung vor Sinnlichkeit erbebend, mit den Hüften denkend, in jedem Kleide nackt, kennt sie kein Mitleid, keinen Zweifel keine Gewissensbisse, ist elementar wie das Geschlecht selbst, als dessen Verkörperung sie vor der Welt dasteht. Sie ist der böse Geist der Erde, passiv, wie der Magnet passiv ist, um welchen sich Eisenspäne sammeln, sät Lulu höllische Leidenschaft um sich herum. Mit dem unbezwingbaren Wahnsinn des Geschlechtes steckt sie Greise und Jünglinge an und bezeichnet ihren Siegeslauf mit zerrütteten Existenzen und Leichen. Ihr erster Mann stirbt am Schlage, als er sie mit ihrem Liebhaber, einem Künstler, überrascht. Der Künstler wird ihr Gemahl und durchschneidet sich mit dem Rasiermesser die Gurgel als der frühere Geliebte Lulus, der Redakteur Schön, ihm die Augen öffnet. Schön trifft wiederum seine Frau in der Gesellschaft eines Zirkusathleten, eines Gymnasiasten und seines eigenen Sohnes, eines Schriftstellers. Lulu tötet ihren Mann mit einem Revolver. Niemand und nichts ist imstande, diese schöne Bestie zu bändigen, und der entkräftete Wedekind übergibt sie der Polizei.

Aber auch der Polizei gelingt es nicht, mit dem Erdgeist fertig zu werden. Lulu entflieht aus dem Gefängnis, um ihre Bestimmung zu vollenden. Nun ist sie wieder vor uns in der Büchse der Pandora. Sie bemächtigt sich des Schriftstellers Aiwa Schön, des Sohnes ihres dritten Mannes, und hält sich mit ihm in Paris verborgen, umringt von Spielern, Kokotten, Bankiers und Detektiven. Schöns Vermögen ist viel rascher erschöpft als der böse Zauber Lulus. Sie flieht nach London, lebt in einer Mansarde und verkauft sich auf der Gasse. Aiwa Schön hat bei ihr Zuflucht gefunden, ein halbverfaulter Rest ihrer Vergangenheit. Zuguterletzt bringt Lulu Jack den Aufschlitzer mit und fällt unter seinem Meer. Eine unermüdliche Priesterin des Geschlechtes stirbt sie auf dem blutigen Altar der in Raserei übergegangenen Sinnlichkeit.

Die drei Dramen sind drei Phasen des Geschlechtslebens und drei Etappen in der Schöpfung Wedekinds. Zuerst schüchternes Erbeben, sogar in seiner Krankhaftigkeit von dem Dufte der Jugend umweht. Frühlingserwachen, das beste Werk Wedekinds.

Aber diese Etappe bleibt bald zurück. Die unbeschränkte Herrschaft des Geschlechtes tritt an ihre Stelle. Es gibt eine Photographie, welche Lulu darstellt am Halse Wedekinds. Lulu im Kostüm des Pierrot. Ihr linkes Stiefelchen stützt sich auf die Hand des Dichters, die auf seinem Knie liegt. Welche unbewusste Sicherheit in ihrem Gesicht, welche freudige Unterwürfigkeit in seinem! Das Geschlecht herrscht. Es ist unerschöpflich in neuen Kombinationen! Es kennt nur eine Moral:

Greise wacker nach der Sünde.
Aus der Sünde wächst Genuss!
(Erdgeist)

Und endlich die letzte Etappe. Eigentlich erreicht die Alleinherrschaft des Geschlechtes nirgends solche Dimensionen wie hier. Das Geschlecht ist mit der Ästhetik fertig geworden, wie früher mit der Tradition und mit dem Glauben. Nackt, grimmig sucht es in den Straßen seinen Raub und packt die Vorübergehenden an den Kleidern. Es erschöpft sich bis aus den Grund, und in seinem Bestreben, sich einen neuen Weg zu bahnen, bewaffnet es sich mit einem Messer und bohrt es in den Leib einer Frau. Wedekind ist nun nicht mehr das unterwürfige Piedestal für die königliche Lulu. Er spielt jetzt aus der Münchener Bühne als Schauspieler Jack den Aufschlitzer.

Auf diesem Wege ist alles geholt worden, was zu holen war, und darunter ist ein blutiger Strich gezogen.

„Was tu ich noch auf der Welt, wenn auch der Sinnengenuss nichts als höllische Menschenschindern, wenn auch der Sinnengenuss nichts als satanische Menschenschlächterei ist, wie das ganze übrige Erdensein! So also nimmt sich der einzige göttliche Lichtstrahl aus, der die schauerliche Nacht unseres martervollen Lebens durchdringt!“
(Totentanz)

Die Evolution ist in ihrem eigentlichen Grunde sehr elementar: die entscheidende Rolle spielt hier die Physiologie der Altersstufe. Das Endergebnis aber ist ungleich gehaltvoller. Es ist nicht einfach der Bankrott der ästhetischen Erotik, es ist der Zusammenbruch einer ganzen Lebensphilosophie. Was bleibt nun übrig? Das psychologische Bedürfnis, eine gewisse Kontrolle, eine höchste Zensur einzusetzen über den elementaren Rhythmus des Lebens.

Zensur heißt auch die einaktige Theodicee Wedekinds, die dieser Tage in der von W. Sombart und G. Brandes herausgegebenen Wochenschrift Morgen erschienen ist.

„Wir haben ein geistiges Band zwischen uns nötig“, ... sagt der Schriftsteller Buridan zu seiner Geliebten.

Was das bedeute, ruft die schöne Kadidja. Sich mit Philosophie beschäftigen? „Ich tue das schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil es mich nicht kleidet.“

Schon siebzehn Monate sind sie beisammen. Die erste Periode der Leidenschaft, die sich nicht umsieht und nicht fragt, ist schon vorüber. Schon sind die Augenblicke nicht selten, wo er sie nicht bemerkt, obgleich sie ganz nahe vor ihm steht. Kadidja ist eine veredelte und vertiefte Lulu. Das Leben des Gefühls ist für sie das ganze Leben. Das dichterische Schaffen, von welchem er sich ihretwegen losgerissen und zu welchem es ihn wieder hinzieht, wird von ihr als eine Störung empfunden. Buridan steht seinerseits eine Störung in seinem Verhältnis zu Kadidja. Er liebt sie. Der Gedanke allein, sie zu verlieren, schreckt ihn. Gleichzeitig fühlt er sich physisch gebunden – weniger durch den Automatismus der familiär-häuslichen Umgebung als durch den Automatismus des Liebesverhältnisses selbst. Er will mehr Bewegungsfreiheit, mehr Freiheit von Seiten des anderen Wesens, welches nur die eine Seite seiner Natur befriedigt und ihn dennoch ganz für dich in Anspruch nimmt. Und Wedekind, der geschrieben hat, dass eine Frau, welche ihren Körper verkauft, in seinen Augen immer noch höher steht als diejenige, welche dich zu geistiger Arbeit erniedrigt. Wedekind, der die Erziehung des Mädchens aufgelöst hat in die harmonische Übung der Wadenmuskeln, Wedekind sagt jetzt seufzend zu Kadidja: „Wir brauchen ein geistiges Band zwischen uns“. ... Was ist das nun? Ist das Wiedergeburt? Nein, es ist nur Zusammenbruch. Auch Kadidja begreift das. Nach einem verzweifelten Versuch, Buridan aufs neue durch ihren Körper zu fesseln, befreit sie ihn. „Ich habe Feindschaft gesät zwischen dir und der Welt deiner Gedanken; ich werde dich deinen Gedanken wiedergeben.“ Und sie stürzt sich auf das Pflaster. Aber dadurch befreit sie nur sich selbst, nicht Buridan.

„Und ist erst das Seelenleben entweibt.
Dann sind sämtliche Lampen erloschen.
Für das, was für mich dann noch übrig bleibt,
Dafür gebe ich nicht einen Groschen.“
(Wedekind)

Ich identifiziere Buridan mit Wedekind nicht nur darum, weil Wedekind der subjektivste ist unter den Schriftstellern, sondern weil er selbst seinem Subjektivismus einen persönlichen Charakter zuschreibt: Buridan spricht von sich selbst als von dem Verfasser der Pandora. Sein Schicksal ist ein tragischer Protest gegen jenen zynischen Epikuräismus, welcher dem Verfasser der Vier Jahreszeiten [2] eine Lebensphilosophie ersetzte. Schon vor Kadidjas Selbstmord macht Buridan den Versuch, sein ganzes Leben unter eine höchste Zensur zu stellen. Wo sucht er diese? Nicht in der Wissenschaft nicht im sozialen Kampfe, nicht in der Moral. In der Kirche, bei dem katholischen Gotte, bei den Münchener Pfaffen sucht der Zyniker und Verneiner den höchsten Sinn des Lebens. Er ladet einen Geistlichen zu sich ein, um mit ehm über die kirchliche Trauung mit Kadidja zu sprechen. „Auf jeden Fall kenne ich nichts Bedauernswürdigeres aus dieser Welt“, sagt er zu dem Vertreter der Kirche, „als einen Dummkopf, der nicht an Gott glaubt. Seit frühester Kindheit suche ich den Einklang mit diesem Reiche. Seit frühester Kindheit suche ich das Einverständnis mit den Wissenden der ewigen Wahrheiten. ... Sie glauben ja nicht, wie heiß, wie inbrünstig meine Seele nach dem Reiche verlangt, in dem zu wirken und zu kämpfen Sie das beneidenswerte Glück haben! Was gäbe ich in diesem Augenblick darum, wenn ich an Ihrer und Sie an meiner Stelle wären!“

Und als der intolerante Pfaffe die Hand zurückstößt, die sich nach geistigem Almosen ausstreckt, und als Kadidja sich vom Balkon auf das Pflaster stürzt, da schreit Buridan sich krümmend wie ein getretener Wurm: „Er lässt seiner nicht spotten! Er lässt sich nicht versuchen! O Gott! o Gott, wie unergründlich bist du.“ ... Welch ein Schluchzen verwaister Ohnmacht, welche Feigheit und geistige Armut! Und das nach einem Jahrhundert von Zerstörungen und Verneinungen. Ein elendes, bettlerhaftes, schmachvolles Ende!

* * *

Anmerkungen

1. Fr. Wedekind, Vergänglichkeit.

2. Fr. Wedekind, Vier Jahreszeiten.


Zuletzt aktualiziert am 6. Dezember 2024