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Nach Literatur und Revolution, Berlin 1968, S. 218–227, s. auch den russischen Text.
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„Ich liebe mein Jahrhundert, weil es ein Vaterland ist, das ich in der Zeit besitze Allein schon darum liebe ich es, weil es mir erlaubt, den Rahmen meines Vaterlandes weit im Raum auszubreiten.“
„Vaterlandslose Gesellen“ [1], sagte der deutsche Kaiser von denjenigen seiner Landsleute, die von dem Pferdegetrappel nationaler Größe nicht trunken wurden. [A] Soll dem so sein. Mögen sie jenes offizielle Vaterland, vertreten durch Kanzler, Gefängniswärter und Pastor, verloren haben. Aber diese des Vaterlands beraubten sind die wahrhaft Seligen: denn sie werden die Welt erben!
Ich liebe mein Vaterland in der Zeit – dieses in Stürmen und Wettern geborene zwanzigste Jahrhundert. Es birgt unendliche Möglichkeiten in sich. Sein Territorium ist die Welt, während seine Vorgänger sich auf den winzigen Oasen der außerhistorischen Wüste drängten.
Die große Revolution des 18. Jahrhunderts war eine Angelegenheit von vielleicht 25 Millionen Franzosen. Lafayette nannte man einen Bürger beide Hemisphären, und Anarcharsis Klotz bildete sich ein, Vertreter der Menschheit zu sein. Das war ein naiver, fast kindischer Selbstbetrug. Was wussten sie von der Welt und von der Menschheit, diese armen Barbaren des achtzehnten Jahrhunderts, die weder eine Eisenbahn noch den Telegrafen hatten? Lafayette war Franzose und kämpfte für die Unabhängigkeit der jungen Amerikaner, während der göttliche Anarcharsis ein deutscher Baron war und im französischen Konvent saß, und der beschränkten Phantasie ihrer Zeitgenossen kam es so vor, als ob diese „Kosmopoliten“ in sich die Welt vereinigten. Was wussten sie damals über das unermessliche Russland? über den ganzen asiatischen Kontinent oder über Afrika? Das waren geographische Begriffe, die die historische Leere verhüllten. Weder das achtzehnte noch selbst das zwanzigste Jahrhundert kannte die Weltgeschichte. Erst wir stehen offensichtlich an ihrer Schwelle.
„Die Weltgeschichte“ ist bei Weber oder Schlosser eine triste Kompilation, der das wichtigste fehlt: der einheitliche, innerlich verbundene Prozess der allgemeinen menschlichen Entwicklung „Die Weltgeschichte“ ist bei Hegel ein geschlossener Prozess, aber ach! – er ist nur eine idealistische Abstraktion, in der die reale Menschheit spurlos verschwindet. Man braucht natürlich nicht den Historikern das vorzuwerfen, was die Geschichte selbst verschuldet hat. Sie war es doch, die mehrere isolierte Welten – die europäische, die asiatische und die afrikanische – geschaffen und lange Zeit jeglichen verkehr mit dem größten teil der Menschheit abgelehnt hat. Selbst jene Historiker, die sich mit der Chronologie der gekreuzten Schwerter nicht begnügen und Kulturhistoriker sein wollten, hatten es im gründe genommen nur mit der Elite weniger Nationen zu tun. Die Volksmassen stellten ein außerhalb der Geschichte stehendes Element dar. Die Geschichte war ebenso aristokratisch, wie es die Klassen waren, die sie machten.
Unsere Zeit ist gerade deshalb eine große Zeit – bedauernswert, wer das nicht sieht! – weil sie erstmalig die Grundlagen für eine die Welt umfassende Geschichte legt. Vor unseren Augen verwandelt sie den Begriff der Menschheit aus einer humanitären Fiktion in eine historische Realität. Die Arena der historischen Aktionen wird unübersehbar groß, während der Erdball beklagenswert klein wird. Eiserne Schienenstränge und Telegrafendrähte haben die ganze Erdkugel wie einen Schulglobus in ein künstliches Netz gehüllt.
Antik war die Welt bis zur Invasion des Kapitals. Und nun ist das Kapital gekommen und hat das dörfliche Reservoir verwüstet, diese Brutstätten des nationalen Stumpfsinns, und hat die Steinkisten der Städte mit Menschenfleisch und Menschenhirn vollgestopft, über alle Hindernisse hinweg hat es die Völker der Erde einander physisch näher gebracht und begonnen, auf der Grundlage ihres materiellen Verkehrs an ihrer geistigen Assimilation zu arbeiten. Es wühlte die alten Kulturen bis auf den Grund auf und löste mitleidlos jene Kombinationen von Trägheit und Faulheit, die als endgültig festgefügte nationale Eigenarten galten, in seinem merkantilen Kosmopolitismus auf.
Schon Heine hat sich Mitte des vorigen Jahrhunderts davon überzeugt, dass die alten stereotypen Charakteristiken der Völker, wie wir sie in gelehrten Kompendien und an Stammtischen antreffen, nicht mehr von Nutzen sein können und nur zu Irrtümern führen. Man braucht nur an die schablonenhafte Charakteristik blasierter, korrekter und aufgeblasener Engländer zu denken, die von tiefschürfenden Psychologen aus der Beobachtung englischer Touristen an den Schweizer tables d’hôtes entstanden ist: was lässt sich der daraus an den Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der Bewegung der Chartisten und an der mutigen Raserei moderner Suffragetten erklären! Es ist wahr – bis zum gestrigen Tage konnte es noch scheinen, als könnten die Völker des Ostens die Unantastbarkeit ihrer nationalen Eigenart bewahren. Sie erhebt sich plastisch vor uns in den Versen Lermontows:
Sieh: im Schatten der Platane Dort, Jerusalem zu Füßen, Weiter weg, ganz ohne Schatten, |
Aber – o wunder – die Jahrtausende alten Zivilisationen, von denen man meinte, sie seien ein für allemal in das Museum der Geschichte eingegangen erwachen jetzt aus ihrer historischen Lethargie, nehmen ihr Bett und wandeln ...
Wir haben sie vor kurzem gesehen, diese „schläfrigen Grusinen“ ... Sie haben uns vorzuführen verstanden (im Jahre 1905), dass ihre „Hosen“ nicht nur mit Wein begossen wurden. Und sie haben uns davon zu überzeugen verstanden, dass man sich mit dem Antlitz des neuen Georgiens nicht mehr durch Lermontows flammende Verse vertraut machen darf, sondern mit Hilfe von menschlichen Dokumenten, die man in der Kanzlei des kaukasischen Statthalters sammelte ...
Und das Land des gelben Nils? Seine Hauptsorge ist jetzt die einheimische Industrie nach englischem Muster Aber ach! Nicht vierzig Jahrhunderte, sondern 100 Millionen Pfund Sterling Staatsschulden blicken von den spitzen der Pyramiden herab.
Teheran träumt schon nicht mehr, sondern empört sich dreist. Es schließt seine östlichen Basare mit dem Banner der westlichen Verfassung in der Hand. Es formiert sich zu einer Straßendemonstration, kämpft um ein Parlament und erobert es für sich ... Und der ohrenbetäubende Lärm des parlamentarischen Lebens übertönt das Gemurmel perlender Springbrunnen. Schon träumt Teheran nicht mehr!
Vor unseren Augen hat sich das Inselreich Japan aus dem Nicht-Sein erhoben und hat sich als Pionier der kapitalistischen Kultur vor dem großen asiatischen Kontinent etabliert wie einst seine Lehrerin, das insulare England, vordem Kontinent Europa. Seinen historischen Auftritt markierte Japan dadurch, dass es den Ariern eine harte Lektion erteilte, die sich in konzentrischen Kreisen über ganz Asien ausbreitete. Das stabile Gleichgewicht des fernen Ostens ist unwiederbringlich dahin. Jetzt käut Japan ungehindert mit den eisernen Kiefern eines kapitalistischen Staats das unglückliche Korea wieder ...
Aber was ist Japan, selbst im Vergleich zu den beiden Giganten Asiens, China und Indien, die fieberhaft ihre geheiligte Isolation und ihr versteinertes Kastenwesen zu Gunsten eines kapitalistischen Aufblühens beseitigen?
200.000 Engländer haben mit Hilfe eines bürokratischen Despotismus 260 Millionen Inder in absolutem Gehorsam gehalten. Aber die historische Energie dieser Nation, die für immer erschöpft schien, ist in den neuen Generationen wieder auferstanden. Die indische Industrie macht zuversichtlich den Weg für die indische Revolution frei. Und schon demonstrieren Kalkuttas Kutscher durch ihren Streik ihre Solidarität mit der stürmischen, von indischen Intelligenzlern geführten politischen Bewegung. Ein noch bedeutenderer Prozess vollzieht sich in China. Seine Bauernschaft, die 300–400 Millionen Köpfe zählt – diese mächtige Schicht der Stagnation, der Trägheit des „Chinesentums“ – ist in ihren Jahrtausende alten Fundamenten ins Wanken geraten. Es scheidet alljährlich Hunderttausende, ja Millionen von verelendeten Menschen aus, die auf rauchenden Drachen übe die Ozeane nach Amerika, Australien und Afrika getragen und dort von dem Feuer der kapitalistischen Kultur angesengt werden. Die alten chinesischen Städte, die Jahrhunderte lang tote Dörfer kolossalen Umfangs geblieben waren, verwandeln sich zu Zentren der neuen Industrie, neuer sozialer Beziehungen und neuer politischer Leidenschaften. Seit dem russisch-japanischen Krieg blüht die chinesische Presse schnell auf. Sie spricht nicht nur in der Sprache der Mandarine zu den reichen Klassen, sondern auch zu den Massen – in der Sprache der Massen.
Gegen die gewalttätige Dynastie der Mandschus wächst die republikanisch Bewegung. Und das in China – im Lande Bogdychans, des Sohnes der Sonne und des Bruders des Mondes! Die verschiedenartigsten Quellen geben Zeugnis davon, dass China am Vorabend einer riesigen Katastrophe steht. .Schon pocht die Revolution laut am Portal, schreibt beispielsweise das Organ der Evangelischen Mission.
„Es brennt der Osten im neuen Morgenrot“. Die sich in ihm vollziehende politische Erneuerung wird seine Kräfte freisetzen, wird der Hebung der materiellen Kultur einen mächtigen Impuls geben, und vielleicht wird sich im Endergebnis dadurch das Schwergewicht der geschichtlichen Entwicklung auf den Kontinent Asien verlagern.
Anfang des vorigen Jahrhunderts war England die Fabrik Europas. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde Europa zur Fabrik der Welt. Jetzt ist England – durch die Industrie Amerikas und Deutschlands verdrängt – nur noch die Geldtruhe des Weltkapitalismus. Und bald vielleicht wird ganz Europa der Industrie Asiens weichen müssen, das von seiner altersschwache, zu einer neuen Jugend übergeht und sich anschickt, das reiche, aber alternde Europa in sein Bankkontor zu verwandeln.
Das sind nicht ferne, nebelhafte Perspektiven. Die Umstürze und Veränderungen, für die nach alten Maßstäben Jahrhunderte notwendig waren, vollziehen sich jetzt in Jahrzehnten, ja sogar in Jahren. Die Geschichte ist hastig geworden – sehr viel hastiger als unser Gedanke.
Und während die asiatische Barbarei sich zu einer kapitalistischen Barbarei umwandelt, bereitet sich Nordamerika darauf vor, zur Arena großer historischer Bewegungen zu.werden. Kein einziges europäisches Land hat im Laufe des 19. Jahrhunderts eine derart erstaunliche Evolution durchgemacht wie das Vaterland Franklins und Washingtons. Die freie Demokratie, die sich ihre Unabhängigkeit durch einen Aufstand erobert hat, war während einer langen Reihe von Jahrzehnten der konservativste Faktor der Weltentwicklung. Als die europäische Wirtschaft und die europäische Politik der Last ihrer inneren Widersprüche fast erlagen, kam ihnen Amerika zu Hilfe. Es hat nicht nur die überschüssigen Waren und Kapitalien aufgesogen, sondern auch dem verarmten Bauern, dem ruinierten Handwerker und dem arbeitslosen Proletarier Europas, diesem Element der Unzufriedenheit und der revolutionären Unruhen, Asyl gegeben. Ein Land jungfräulicher Steppen und unerschöpflicher Reichtümer wurde zum Land der freien Farmer und zum Blitzableiter des europäischen Kapitalismus. Aber es fiel seiner Mission selbst zum Opfer, und aus einer „freien Demokratie“ wurde es zum Piedestal der fünfköpfigen Diktatur Morgans, Rockefellers, Vanderbilts, Harrimans und Carnegies. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das gesamte Volkseinkommen der Vereinigten Staaten auf etwa 10 Milliarden Dollar geschätzt, im Jahre 1890 auf 65 Milliarden und 1900 bereits auf 106 Milliarden Dollar. Während vor 60 jähren auf eine Familie nur 1.200 Dollar entfielen, erhielt sie zu beginn unseres Jahrhunderts bereits 5.000 Dollar. Das Volksvermögen ist ungeheuer gestiegen! Aber es gehört nicht dem Volke Noch zur Zeit des Bürgerkrieges waren die Reichtümer der Vereinigten Staaten relativ gleichmäßig verteilt. Im Jahre 1854 zählte die junge Demokratie höchstens 50 Millionäre, auf die 1 Prozent des Nationalkapitals entfiel. Im Jahre 1890 sehen wir schon 31.100 Millionäre, die 56 Prozent des Volksvermögens auf sich konzentrieren. Und jetzt hält schließlich ein Prozent der Bevölkerung neunundneunzig Prozent des nationalen Reichtums in seiner Hand. Die bourgeoise Pariser Zeitschrift Censeur ist genötigt, zuzugeben, dass „die Voraussagen von Karl Marx über die Evolution der Wirtschaft sich in Amerika am vollkommensten durch die extreme Konzentration der Produktion in einer kleinen Anzahl von Riesenunternehmen und durch die extreme Konzentration des Kapitals in der Hand einer immer kleiner werdenden Anzahl von Personen verwirklicht haben.“ Das Land der unabhängigen Farmer ist zu einem Land ungeheurer Trusts (Konzerne) und einer bösen Arbeitslosigkeit geworden. Ein Drittel der 6 Millionen Farmer hat sich in landlose Pächter verwandelt, und der Boden eines weiteren Drittels ist durch Hypotheken belastet. Der städtische Mittelstand verarmt und verproletarisiert. Andererseits taucht im Anfang des 20. Jahrhunderts der Leviathan der kapitalistischen Konzentration in den Vereinigten Staaten – ein Stahltrust mit einem Kapital von 2½ Milliarden Dollar auf Er hat sich die gesamte Industrie unterworfen. Ihm gehören Kohlenbergwerke, Eisenbahnen, Kanäle, Eisenerzreviere, Hüttenwerke, Werke für Maschinen- und Apparatebau, eine ganze Flotte von Ozeandampfern, Gold-, Silber- und Kupferminen, die Federn von Journalisten, Hirne von Gelehrten, das Gewissen der Richter und die Stimmen der Gesetzgeber ... Die sozialen Gegensätze haben sich bis zum Äußersten verschärft, und das Gleichgewicht verliert ständig an Stabilität.
Die gelehrten Volkswirtschaftler gaben der Überzeugung Ausdruck, dass die Trusts ein für allemal die Industriekrisen und die mit ihnen verknüpften Nöte beseitigen würden, aber es hat sich herausgestellt, dass sich die gelehrten Volkswirtschaftler auch dieses Mal geirrt haben: die uneingeschränkte Herrschaft der Trusts hat den Oktoberkrach (1907) nicht verhüten können, der sich über der New Yorker Börse entlud und dann auf die Industrie übergriff. Die Zahl der Arbeitslosen erreicht gegenwärtig bereits 472 Millionen Seelen, und dieses hungrige und aufrührerische Heer wächst von Tag zu Tag. Jeden der die Erscheinungen in ihrem allgemeinen Zusammenhang zu betrachten versteht, ist klar, dass eine tiefe Industriekrise in diesem Land schärfster Kontraste unausweichlich zum Ausgangspunkt von sozialen Erschütterungen werden muss.
Und schließlich kehren wir zu unserem alten Europa zurück. Nach dem französisch-preußischen Krieg und der Niederwerfung der Pariser Kommune erfreut es sich – vier Jahrzehnte lang – des „Friedens“ und der „Ruhe“. Das bedeutet, dass die Diplomatie unter größten Anstrengungen auf dem Seil des europäischen Gleichgewichts balanciert, während der potenzielle Bürgerkrieg – trotz höchster Anspannung der politischen Leidenschaften – während dieser Zeit nicht als Flamme der Revolution auflodert. Aber im Laufe dieser vier Jahrzehnte untergrub die soziale Entwicklung mit erbarmungsloser Automatik alle Grundlagen des „Friedens“ und der „Ordnung“. Der wirtschaftliche Wettbewerb der Staaten verwandelte sich in einen Kampf um den Markt mit dem Schwert in der Hand. Mit Hilfe seiner durch den Fleiß von Generationen angesammelten Reichtümer überzog Europa die ganze Welt mit dem Borstenkleid seiner Bajonette und warf die schwimmenden Festungen der Panzerschiffe auf die großen Wüsten der Gewässer. Der Militarismus feiert seinen wilden Hexensabbat, indem er immer neue Gefahren militärischer Zusammenstöße hervorruft, um sie dann durch weitere Vermehrung von Kanonen und Schlachtschiffen zu „verhüten“. Im Nahen wie im Fernen Osten, im Norden und im Süden Afrikas gibt es harte Reibungsflächen zwischen den Staaten Europas. Das Gespenst des Krieges verschwindet auch nicht für eine Stunde vom politischen Horizont
Alle Nationen Europas sind innerlich in zwei einander feindliche Lager wie Armut und Luxus oder Arbeit und Müßiggang gespalten. Wir sehen, mit welcher Deutlichkeit dieser Prozess sich in England, dem klassischen Land des politischen Kompromisses, vollzieht. Erst dieser Tage hat die kolossale Labour Party hier ihren Einzug auf der historischen Arena gehalten, während der Liberalismus und der Konservatismus ihren politischen Gegensatz beigelegt haben und nur noch ein Programm haben: das zu bewahren, was da ist. „Lieber mit den Konservativen als mit den Sozialisten!“, sagte kürzlich der liberale Lord Rosebury, und von seinem Standpunkt aus hat er vollkommen recht.
In Deutschland führte die Verschärfung der sozialen Gegensätze dazu, dass alle Parteien der herrschenden Klassen – von den wilden Junkern Preußens bis zu den kleinbürgerlichen Demokraten des Südens – einen Block gegen die Partei der Arbeit gebildet haben. Zwischen der letzteren und den Kräften der Reaktion gibt es keinerlei politischen Puffer mehr. In Frankreich hat der extrem linke Flügel der bürgerlichen Demokratie in Gestalt des „Jakobiners“ Clemenceau, des großen Ministerstürzers, die Staatsgewalt lediglich aus dem Grunde in die eigene Hand genommen, um sie in all ihrer Unantastbarkeit als Repressalienmaschine gegen die Arbeitermassen aufrechtzuerhalten. Tiefe, unversöhnliche, scharfe Gegensätze überall. Und überall die Gefahr offener sozialer Explosionen. Berge von Brennmaterial.
Wenn sich die Handels- und Industriekrise, in deren Zone jetzt die kapitalistische Welt mit Nordamerika an der Spitze eingetreten ist, breit entfaltet, dann kann man mit Gewissheit voraussagen, dass die Weltgeschichte in absehbarer Zukunft ein neues Kapitel voller Dramatik vor uns aufschlagen wird.
Die Herren Reaktionäre meinen, die Psychologie – sei der zerstörerischste Faktor: das denken – das ist die Natter! Nichts falscher als das. Die Psyche ist die konservativste Naturgewalt. Sie ist faul und liebt die Hypnose der Routine „In der Gewohnheit steckt eine gewaltige Kraft“ – sagt Godunow – „die Gewohnheit ist der Menschen Geißel oder Zügel“ (Tod Iwans des Schrecklichen). Und gäbe es keine aufrührerischen Fakten, wäre die Trägheit des Gedankens die beste Garantie für die Ordnung. Aber die aufrührerischen Fakten haben ihre eigene innere Logik. Unser träges Denken widersetzt sich ihrer Anerkennung bis zum letzten Augenblick. Seine dünkelhafte Beschränktheit hält es für äußerste Nüchternheit. Bedauernswert! im Endergebnis rennt es sich immer den Kopf an den Tatsachen ein. „Ein Realismus, der sich auf die eigene Nasenspitze beschränkt“ – schrieb einmal Dostojewski – „ist gefährlicher als die unsinnigste Phantasterei, weil er blind ist“. ...
Die Herren Reaktionäre irren. Wenn unser kollektives Schicksal lediglich vom Mut unseres Gedankens abhinge, würden wir uns bis zum heutigen Tage in Gesellschaft des Kaisers Nebukadnezar von Gras ernähren. Nicht der Gedanke hat uns auf die Hinterbeine gestellt, nicht er hat uns in dörfliche, städtische und staatliche Herdengemeinschaften getrieben, nicht er hat die Präfekten in ihre geheiligten Kanzleien gebracht und nicht er wird sie – wie man das hinzufügen darf – wieder von dort herausführen. Die großen Ereignisse, jene, die mit großen Steinsäulen die Wendepunkte des geschichtlichen Weges markieren, entstehen als Ergebnis einer Überschneidung großer Ursachen. Letztere bilden sich unabhängig von unserem Willen im Prozess unseres gesellschaftlichen Seins heraus. Darin liegt auch ihre unüberwindliche Kraft.
Nicht wir machen die Ereignisse. Bestenfalls können wir sie vorhersehen: Die ganze Welt hat mit Staunen ihren Blick in dem Augenblick nach Osten gewandt, als ein Wirbel erschütternder Ereignisse über ihn hinwegfegte.
Glaubten denn viele an sie, als diese Ereignisse noch wie ein Kind im Mutterschoß lautlos im sozialen inneren bebten?
Heute beben große und drohende Ereignisse vor Spannung in den sozialen Tiefen der gesamten „kultivierten“ Menschheit. Wer es unternimmt, ihre Gesamterscheinung einzufangen und sie beim Namen zu nennen, den wird die offizielle Weisheit für einen Phantasten halten. Sie preist die Kriecherei vor dem Unrat als politischen Realismus der Alltäglichkeit.
1. Im Original deutsch geschrieben.
A. Das heißt, von den Sozialdemokraten. Im Jahr 1914 haben sie sich radikal gebessert. VI. 22 – LT.
Zuletzt aktualiziert am 7. Dezember 2024