Leo Trotzki

 

Auf dem Hinweg

(aus Privatbriefen)

(Januar/Februar 1907)


Nach dem Buch Russland in der Revolution, Druck und Verlag von Kaden & Comp., Dresden 1910, S. 298–318.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Ein paar Stunden sind verflossen, seitdem man uns ins Verbanntengefängnis gebracht hat ... Ich muss gestehen, dass ich mit einer gewissen nervösen Unruhe von meiner Zelle im Untersuchungsgefängnis Abschied genommen habe. Sie war mir so vertraut geworden, diese kleine Zelle, wo ich doch wenigstens die volle Möglichkeit hatte, zu arbeiten. Hier aber, im Verbanntengefängnis – das wussten wir im Voraus – wird man uns alle in einen gemeinsamen Raum zusammenpferchen –, eine Qual, wie sie schwerer und ermüdender kaum gedacht werden kann. Und dann wird die mir so gut bekannte Etappenstraße folgen, mit ihrem entsetzlichen Schmutz und ihrer heillosen Verwirrung. Wer weiß, wie lange es dauern wird, bis wir den Bestimmungsort erreichen? Und wer kann sagen, wann wir zurückkehren? Wäre es nicht besser, wie bisher, in der Zelle Nr. 462 zu bleiben und bei Lesen und Schreiben – abzuwarten? Für mich ist es Schon, wie Sie wissen, eine moralische Heldentat, aus einer Wohnung in die andere umzuziehen – und nun gar ein Umzug von dem einen Gefängnis in das andere! Neue „obrigkeitliche Personen“, neue Reibereien, neue Mühen, damit nicht allzu entwürdigende Beziehungen eintreten –, steht uns doch ein ununterbrochener Wechsel der behördlichen Personen bevor, von der Verwaltung des Verbanntengefängnisses bis zum Polizeiwächter am Verbannungsort in Sibirien. Ich habe diese Reiseroute schon einmal durchkostet und vermag daher der Wiederholung keinen Geschmack abzugewinnen.

Ganz plötzlich, ohne vorherige Ankündigung, wurden wir heute hierher gebracht. Im Empfangsraum kleidete man uns in die graue Arrestantentracht –, eine Prozedur, der wir uns mit der Neugier von Schulbuben unterzogen. Es war ganz interessant, die Freunde in grauen Hosen, grauem Kittel und grauer runder Mütze vor sich zu sehen. Das klassische Karo-Ass auf dem Rücken fehlte aber, auch durften wir unsere eigene Wäsche und unser Schuhzeug behalten. Eine lärmende erregte Schar, stürzten wir im Schmucke unserer neuen Tracht in die Kammer ... Allen Schauermären über das Verbanntengefängnis entgegen, durfte man die Haltung der Gefängnisbehörde uns gegenüber anständig, ja, in mancher Beziehung sogar zuvorkommend nennen. Allerdings ist Grund zur Annahme vorhanden, dass von oben her die Parole ausgegeben war: scharf anfassen, doch Konflikte vermeiden!

Der Tag der Abfahrt selbst bleibt nach wie vor in tiefstes Dunkel gehüllt –, augenscheinlich befürchtet man Straßendemonstrationen, ja, sogar den Versuch gewaltsamer Befreiung auf dem Transport. Man hat Furcht und trifft deshalb die nötigen Vorkehrungen. Unter den obwaltenden Umständen aber wäre ein derartiger Versuch heller Unsinn.

* * *

Den 10. Januar.

Ich schreibe Ihnen, während der Zug sich in voller Fahrt befindet. Verzeihen Sie daher die launische Schrift ... Es ist gegen 9 Uhr morgens. Um halb vier Uhr nachts wurden wir plötzlich vom Oberaufseher geweckt – die meisten von uns waren eben nach einem Abend leidenschaftlichen Schachspiels zur Ruhe gegangen – und wir vernahmen die Nachricht, dass man uns um sechs Uhr von hier fortbringen werde. Wir hatten lange die Stunde der Abfahrt erwartet und waren alle des Harrens bereits müde geworden, so dass uns diese Ankündigung jetzt wie etwas ganz Unerwartetes überraschte.

Das Weitere spielte sich in der gewohnten Weise ab. In der größten Eile und Hast packten wir unsere Sachen. Dann begaben wir uns in den Empfangsraum, wohin man inzwischen auch die „freiwillig folgenden ... Frauen mit den Kindern gebracht hatte. Die Konvoimannschaften nahmen uns in Empfang und durchsuchten eilig unser Gepäck. Der verschlafene Gehilfe des Gefängnisdirektors händigte dem Konvoioffizier unser Geld aus, worauf wir in Gefangenenwagen gesetzt und unter verstärktem Schutzgeleite zum Nikolaus-Bahnhof gebracht wurde. Wohin die Fahrt gehen sollte, wussten wir noch immer nicht.

Bemerkenswert war, dass man unsere Kouvoimannschaften extra zu diesem Zwecke aus Moskau hatte kommen lassen. Scheinbar traute man den Petersburgern nicht recht. Der Offizier war beim Empfang sehr liebenswürdig, hatte aber auf alle unsere Fragen nur ein einfaches „Weiß es nicht ... zur Antwort. Seinen Worten zufolge stehen wir alle, unter dem unsichtbaren Kommando eines Gendarmerieobersten, von dem alle Instruktionen ausgehen; er, der Offizier, habe nur den Befehl, uns zur Bahn zu bringen, mehr wisse er selbst nicht. Es ist möglich, dass die Vorsicht des Ministeriums sich wirklich soweit erstreckt; es ist aber andererseits auch nicht ausgeschlossen, dass unser Offizier nur mit diplomatischer Schlauheit den Unwissenden spielt. Schon sind Wir eine ganze Stunde unterwegs, und noch immer wissen wir nicht, ob es nach Moskau oder Wologda geht. Die Soldaten können uns auch nichts sagen.

Wir haben einen separaten Wagen dritter Klasse zu unserer Verfügung; jeder von uns hat seinen eigenen Schlafplatz. Das Gepäck ist in einem besonderen Wagen untergebracht, in dem, wie unsere Konvoisoldaten erzählen, zehn Gendarmen unter dem Befehl eines Obersten mitreisen. Mit dem Gefühle von Leuten, denen es vollkommen gleichgültig ist, in welcher Richtung die Fahrt geht, machten wir es uns im Wagen bequem – man wird uns schon an den Bestimmungsort bringen ...

Es zeigt sich, dass wir nach Wologda fahren; einer von den Unsrigen hat es an den Benennungen der Stationen festgestellt. In vier Tagen werden wir also in Tjumen sein.

Wir sind alle lebhaft erregt –, die Fahrt nach der dreizehnmonatigen Gefängnishaft hat unsere üble Laune verscheucht. zwar sind die Wagenfenster vergittert – aber gleich dahinter fühlt man das freie Leben, die Bewegung ... Ob wir so bald auf demselben Schienengeleise zurückkehren werden?

Adieu, liebster Freund!

* * *

Den 11. Januar.

Wenn schon der Konvoioffizier uns gegenüber höflich und zuvorkommend ist, so ist das Verhalten der Soldaten erst recht über alles Lob erhaben: sie sind alle über unsern Prozess vorzüglich unterrichtet und bringen uns die größte Sympathie entgegen. Eine interessante Einzelheit: bis zum letzten Augenblick wussten sie nicht, wer transportiert werden sollte und wohin die Reise ging. Den Vorsichtsmaßregeln entsprechend, unter denen man sie so plötzlich aus Moskau nach Petersburg versetzte, waren sie der Ansicht, dass sie dazu ausersehen seien, uns nach Schlüsselburg zur Hinrichtung zu geleiten. Im Empfangsraum des Verbanntengefängnisses machte ich die Wahrnehmung, dass die Soldaten äußerst aufgeregt und auffaltend dienstbeflissen waren. Erst hier, im Zuge, erfuhr ich den wahren Grund .... Wie erfreut waren sie, als sie hörten, dass wir die „Arbeiter-Deputierten ... seien und dass man uns nur zur Verbannung nach Sibirien verurteilt habe!

Die Gendarmen, die den Über-Konvoi bilden, lassen sich in unserm Wagen gar nicht blicken. Sie besorgen den äußern Schutz, umringen den Wagen auf den Stationen, halten Wache draußen vor der Wagentür usw. Hauptsächlich aber scheint ihre Aufgabe in der Überwachung unserer Konvoisoldaten zu bestehen.

Die Versorgung mit Trink- und Teewasser, Mittagessen usw. geschieht auf telegraphischem Wege, In dieser Beziehung erfreuen wir uns des größten Komforts. Nicht umsonst hat doch der Restaurateur auf einer der Stationen uns respektvoll durch die Konvoisoldaten dreißig Stück Austern angeboten. Diese Episode erregte stürmische Heiterkeit in unserm Wagen, aber auf die Austern mussten wir doch verzichten.

* * *

Den 12. Januar.

Immer größer und größer wird die Entfernung, die uns trennt.

Gleich am ersten Tage verteilte sich unsere Reisegesellschaft in mehrere Familien- und Freundschaftsgruppen und, da es im Wagen sehr eng ist, müssen diese Gruppen abgesondert von einander leben. Nur der Doktor schließt sich keiner einzigen fest an: mit aufgeführten Ärmeln eilt er unermüdlich hin und her und handhabt die Leitung über alle und alles.

Wie Sie wissen, haben wir vier Kinder mit uns. Sie betragen sich ideal, dass heißt so, dass man ihre Anwesenheit total vergisst Mit den Konvoisoldaten verknüpfen sie die intimsten Freundschaftsbande. Diese ungeschlachten Kerle können im Umgang mit den Kindern von rührender Zärtlichkeit sein ...

... Wie wir bewacht werden? Auf jeder Station wird der Wagen von Gendarmen umringt, auf den größeren kommen sogar noch Polizeisoldaten dazu. Außer ihrem Karabiner auf dem Rücken haben die Gendarmen noch einen Revolver, mit dem sie jeden bedrohen, der zufällig oder aus Neugier dem Wagen zu nahe kommt. Eines solchen Schutzes erfreuen sich zurzeit nur zwei Kategorien von Personen: besonders schwere „Verbrecher... und besonders „berühmte ... Minister.

Die Taktik uns gegenüber ist ganz genau vorgezeichnet; sie wurde uns schon im Verbanntengefängnis vollkommen klar: auf der einen Seite – schärfste Wachsamkeit, auf der anderen – zuvorkommende Korrektheit in den Grenzen des Gesetzes. In dieser Taktik tut sich das konstitutionelle Genie Stolypins kund. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass dieses feingesponnene Netz doch einmal einen Riss bekommen wird – es fragt sich nur, ob in Bezug auf die Wachsamkeit oder in Bezug auf die Korrektheit? ...

Eben sind wir in Wjatka angelangt. Welch glänzender Empfang seitens der Bürokratie von Wjatka! Ich wünschte, Sie hätten das Bild gestehen! Zu beiden Seiten unseres Wagens je eine Halbkompanie Soldaten im Spalier. Dahinter eine zweite Reihe: die Landpolizisten mit ihren Karabinern auf dem Rücken. Dicht vor dem Wagen, wie üblich, die Gendarmen. Der Offizier, der Isprawnik, die Pristaws – mit einem Worte, eine regelrechte militärische Demonstration. Das ganze Arrangement scheint ein Originalbeitrag des hiesigen Gewalthabers Fürsten Gortschakow zu den Petersburger Instruktionen zu sein. Die Unsrigen fühlten sich durch das Fehlen von Artillerie sehr zurückgesetzt. – Es ist in der Tat schwer, sich etwas vorzustellen, was dieser unsinnigen Feigheit auch nur entfernt gleichkäme. Eine treffendere Karikatur der „zielbewussten Gewalt ... hätte man sich nicht wünschen können, und wir hatten wahrlich Grund, stolz zu sein: denn noch im Grabe scheint ihnen der Deputiertenrat heillose Angst einzuflößen.

Feigheit und Dummheit! Wie oft sind sie die Kehrseite von Wachsamkeit und Korrektheit. Um unsere Reiseroute zu verheimlichen – was doch ganz unmöglich ist – hat man uns verboten, unterwegs Briefe zu schreiben. So lautet der Befehl des unsichtbaren Obersten auf Grund aus Petersburg erhaltener Instruktionen. Aber gleich am ersten Tage unserer Reise sündigten wir gegen dieses Verbot, in der Hoffnung, dass sich Gelegenheit bieten werde, unsere Briefe weiterzubefördern. Und in der Tat irrten wir uns in dieser Annahme nicht, denn wir waren rings von guten Freunden umgeben, und mit ihnen hatte die „Instruktion“ nicht gerechnet.

* * *

Den 16. Januar.

Wir befinden uns in einem kleinen Dorfe, zwanzig Werst von Tjumen entfernt. Es ist Nacht. Auf der Diele einer niedrigen schmutzigen Bauernstube lagern die Mitglieder des Arbeiterdeputiertenrats, und sie lagen so eng aneinander, dass von der Diele kein Fleckchen zu sehen ist. Man schläft noch nicht, Gespräche werden geführt, dazwischen schallt lautes Lachen ...

In Tjumen blieben wir drei Tage. Auch hier wurden wir – für uns keine Überraschung mehr – von einem kolossalen Truppenaufgebot zu Pferde und zu Fuß empfangen. Die Reiter tummelten ihre Streitrosse und trieben die Straßenbuben auseinander. Der Weg vorn Bahnhof zum Gefängnis wurde zu Fuß zurückgelegt. Wir werden mit noch größerer Zuvorkommenheit als vordem behandelt. Gleichzeitig aber werden auch die Vorsichtsmaßregeln immer schärfer, so dass man bisweilen von abergläubischen Vorstellungen heimgesucht wurde. So wurden uns hier zum Beispiel auf telefonische Bestellung aus allen Läden Waren zur Auswahl zugesandt. Während man die üblichen Spaziergänge auf dem Gefängnishof kurzerhand untersagte. Das erste ist eine Aufmerksamkeit, das zweite eine Ungesetzlichkeit. Von Tjumen ging es weiter auf Wagen, wobei auf uns 14 Gefangene sage und schreibe 52 (zweiundfünfzig) Konvoisoldaten kamen – den Kapitän, den Pristaw und den Urjadnik nicht mit einbegriffen Das ist etwas Dagewesenes! Alle, die Soldaten der Kapitän, der Pristaw und der Urjadnik [A] staunten selbst darüber. Aber so lautet die „Instruktion“ wir fahren jetzt nach Tobolsk. Die Reise geht sehr langsam vonstatten: heute zum Beispiel haben wir den ganzen Tag über nicht mehr als 20 Werst zurückgelegt. Um 1 Uhr mittags erreichten wir den Etappenpunkt. Statt weiter zu reisen, halten Wir, und der Grund heißt wieder einmal: die Instruktion! Um eine Flucht zu vereiteln, lässt man uns abends nicht reisen, diese Maßnahme hat freilich einen Schimmer von Berechtigung für sich. So kommt es, dass wir am Tage nur 3–4 Stunden fahren und die übrigen 20 Stunden halten. Auf diese Weise werden wir ganze 10 Tage für die 250 Werst bis Tobolsk brauchen und dort am 25. oder 26. Januar eintreffen. Wie lange wir dort bleiben, wohin und wann man uns weitertransportiert, weiß niemand, oder vielmehr will uns niemand sagen. Unser Zug besteht aus ungefähr 40 Schlitten. Vorne fährt unser Gepäck, dann folgen wir „Deputierte ..., je zwei Mann in einem Schlitten, und jedem Paar sind zwei Soldaten beigegeben. Der Offizier und der Pristaw fuhren an der Spitze des Zuges in einer gedeckten „Koschewa“ ... [B] Den Abschluss bilden eine Reihe von Schlitten, die mit Soldaten vollgepfropft sind. Wir fahren im Schritt. Von Tjumen wurden wir ein paar Werst weit von 20–30 berittenen „Jägern... geleitet. Kurz und gut: zieht man in Betracht, dass alle diese unerhörten Vorsichtsmaßregeln auf Verfügung von Petersburg aus getroffen sind, kommt man zu dem Schlusse, dass man uns sicher und um jeden Preis an ein recht einsam gelegenes Plätzchen bringen will, denn es ist nicht gut anzunehmen, dass dieses große königliche Gefolge nichts anderes als eine bloße Kanzleimarotte bedeutet. ... Das kann uns in Zukunft große Schwierigkeiten bereiten. Doch warten wir ab.

Rings um uns ist alles in Schlaf versunken. Durch die offenstehende Buchentür steht man den wachhabenden Unteroffizier. Hinter dem Fenster erschallen die schweren Tritte der Schildwache. Draußen ergießt der Mond sein bläuliches Licht über die schneestarrende Nacht. Welch sonderbares phantastisches Bild: diese in unruhigem Schlaf auf dem Boden hingestreckten Gestalten, die Soldaten vor der Türe und den Fenstern, diese blassblaue Nacht und diese unendliche Weiße Flur – so herrlich! – so nah! – und so unerreichbar

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Das Gefängnis zu Tjumen beherbergte in seinen Mauern eine Menge „Politischer ..., hauptsächlich administrativ Verschickter. Während des Spaziergangs versammelten sie sich vor unserem Fenster, sangen uns zu Ehren ein Lied und entfalteten sogar eine rote Fahne mit der Aufschrift: „Es lebe die Revolution!“ Sie sangen nicht übel: offenbar sitzen sie schon lange hier und haben fleißig geübt. Die Szene war recht imposant, und wenn Sie wollen, sogar in ihrer Art rührend. Ich richtete an sie durch die Fensterluke ein paar Worte des Grußes und des Dankes im Namen der Genossen.

In demselben Gefängnis überreichten uns die Strafgefangenen eine ellenlange Bittschrift, in der sie uns, „die hoch mögenden Revolutionäre aus Petersburg..., in Prosa und Versen anflehten, ihnen in ihrer Not zu Hilfe zu kommen. Wir wollten den bedürftigsten unter den Politischen – manche darunter hatten keine Wäsche und warme Kleidung – eine kleine Summe zukommen lassen, erhielten aber von der Gefängnisverwaltung eine kategorische Absage. Die „Instruktion“ untersagt nämlich jegliche Beziehungen zwischen den „Deputierten“ und den anderen Politischen.

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Pokrowskoje, den 18. Januar.

Ich schreibe Ihnen vom dritten Etappenpunkt. Die langsame Fahrt hat uns alle vollends matt gemacht. Sechs Werst die Stunde und am Tage nicht mehr als drei bis vier Stunden Fahrt! Es ist nur ein Glück, dass die Kälte mäßig ist, 25 bis 38 Grad Celsius. Erst vor drei Wochen zeigte hier das Thermometer –52 Grad Reaumur. Was hätten die Kleinen ausstehen müssen, die wir mit uns haben!

Bis Tobolsk haben wir noch eine Woche vor uns. Keine Briefe, keine Zeitungen, keine Nachrichten ...

Aber im Grunde genommen sind dies lauter Nichtigkeiten. Wir sind alle warm gekleidet und atmen mit Entzücken die herrliche Frostluft nach der fürchterlichen Atmosphäre der Einzelkammer. Sie mögen sagen, was sie wollen, aber mir scheint, dass der menschliche Organismus zu der Zeit als er sich bildete, keine Gelegenheit gehabt halb, sich den Bedingungen der Einzelhaft anzupassen.

Heine schrieb noch 1843 in seinen Pariser Briefen:

„In Frankreich ... in diesem Lande der Soziabilität, wäre die Absperrung in Zellen, die pennsylvanische Methode, eine unerhörte Grausamkeit, und das französische Volk ist zu großmütig, als dass es je um solchen Preis seine gesellschaftliche Ruhe erkaufen möchte. Ich bin daher überzeugt, selbst nachdem die Kammer eingewilligt, kommt das entsetzliche, unmenschliche, ja unnatürliche Zellulargefängniswesen nicht in Ausführung, und die vielen Millionen, die die nötigen Bauten kosten, sind, gottlob verlorenes Geld. Diese Burgverliese des neuen Bürgerrittertums wird das Volk ebenso unwillig niederreißen, wie es einst die adelige Bastille zerstörte. Wie furchtbar und düster dieselbe von außen gewesen sein mochte, so war sie gewiss nur ein heiteres Kiosk, ein sonniges Gartenhaus, im Vergleich mit jenen kleinen, schweigsamen amerikanischen Höllen, die nur ein blödsinniger Pietist ersinnen und nur ein herzloser Krämer, der für sein Eigentum zittert, billigen konnte ...“ (Paris, Juli 1843, Gefängniswesen und Strafgesetzgebung)

Alles in Sibirien ist so geblieben, wie es vor fünf bis sechs Jahren war, und doch hat sich zugleich alles verändert. Nicht nur die sibirischen Soldaten – und bis zu welchem Grade! – haben sich geändert, sondern auch die sibirischen „Tscheldonen“ (Bauern), die über politische Themen diskutieren und sich danach erkundigen, ob „das alles... bald ein Ende nehmen werde. Unser Kutscher, ein Junge von dreizehn Jahren – nach seiner Versicherung ist er schon fünfzehn Jahre alt – singt den ganzen Weg aus vollem Halse: „Steh’ auf, erhebe dich, Arbeitervolk! Steh’ auf zum Kampfe, hungerndes Volk!“ C Mit sichtlichem Wohlwollen drohen die Soldaten dem Sänger mit einer Anzeige bei dem Offizier; aber der kecke Bube begreift sehr wohl die allgemeine Sympathie und fährt fort, das „Arbeitervolk“ zum Kampfe aufzurufen. ...

Die erste Haltestelle, von der ich Ihnen schrieb, war eine armselige, schmutzige Bauernhütte. Die beiden folgenden waren Kronsetappenhäuser, nicht minder schmutzig, aber um vieles bequemer, mit zwei Abteilungen – für Männer und Frauen – und einer Küche. Wir schlafen auf hölzernen Pritschen. Auf Sauberkeit kann man natürlich nur sehr geringe Ansprüche machen. Dies ist und bleibt die unangenehmste Seite unserer Reise.

Nach den Etappenhäusern kommen Bauern und Bäuerinnen mit Milch, Quark, Ferkeln, Kartoffelfladen und sonstigen Esswaren. Sie erhalten Zutritt zu uns, obgleich dies dem Sinne der „Instruktion“ zuwiderläuft, die jeglichen Verkehr mit „Unbeteiligten“ verbietet. Aber der Konvoi wüsste sich sonst gar keinen Rat um uns und sich selber mit der nötigen Speise zu versehen.

Für Zucht und Ordnung in unseren Reihen sorgt unser souveräner Ältester F., den alle – wir, der Offizier, die Soldaten, die Polizei, die Dorfhökerinnen – einfach den „Doktor“ nennen. Er legt eine unglaubliche, unerschöpfliche Tatkraft an den Tag: besorgt sämtliche Einkäufe, fertigt selbst die Speisen an, füttert uns, wacht über unser Gepäck, betätigt sich noch daneben als Gesangslehrer – mit einem Worte: er ist der Leiter und die Seele unserer Gruppe. Zu seiner Unterstützung werden jeden Tag zwei „Dejourierende“ abkommandiert, die sich alle in der Beziehung ähneln, dass sie fast nichts tun. ... Soeben, da ich schreibe, wird das Abendessen zubereitet, wobei es recht laut und lebhaft zugeht. Nach dem Abendessen wird auf den Pritschen Tee herumgereicht. Für den Tee haben wir Damen als Dejourierende: so ist der von unserem Doktor festgesetzte Brauch.

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Den 23. Januar.

Wir baden die vorletzte Haltestelle vor Tobolsk erreicht. Das Etappenhaus ist neu, geräumig und sauber, eine wahre Erholung für Leib und Seele nach dem Schmutz der letzten Etappenhäuser. Noch sechzig Werst, und wir sind in Tobolsk. Wenn Sie wüssten, wie wir uns in der letzten Zeit nach einem „echten“ Gefängnis sehnen, wo man sich gehörig waschen und ausruhen könnte! Hier wohnt nur ein einziger Politischer, ein ehemaliger Schnapsladenangestellter aus Odessa, der wegen Propaganda unter dem Militär vom Gericht zur Verschickung verurteilt wurde. Es gelang ihm, sich mit einem Korbe Esswaren zu uns ins Etappenhaus durchzuschleichen und wir erfuhren von ihn viele Einzelheiten über das Leben im Gouvernement Tobolsk.

Der größte Teil der Politischen, sowohl der auf gerichtlichem, als auch administrativem Wege Verschickten wohnt in den umliegenden Dörfern von Tobolsk, in einem Umkreise von 150 bis 160 Werst. Aber auch im Kreise Beresow gibt es Verschickte. Die Lebensbedingungen dort sind bei weitem schwerer und die Not größer. Fälle von Flucht gehören zu den alltäglichen Dingen, denn die Polizei ist außerstande, eine genügende Aufsicht auszuüben. Die Flüchtlinge werden hauptsächlich in Tjumen, der ersten Bahnstation, und überhaupt auf der Eisenbahnlinie wieder eingefangen. Doch ist der Prozentsatz der missglückten Fluchtversuche nur sehr gering. Das alles klingt sehr tröstlich, nicht wahr? Aber jede Erzählung dieser Art wird mit dem Kehrreim geschlossen: „Ja, so geht es mit den gewöhnlichen Sterblichen –, wer weiß aber, wie es mit Ihnen gehen wird?“

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Über mangelnde Aufsicht können wir uns bis jetzt nicht beklagen. Der Kapitän hat die Konvoimannschaften durch die verschärften Nachtwachen, die sich nicht nur auf das jeweilige Etappenhaus, sondern gleich aus das ganze Dorf erstrecken, schon ganz krank gemacht. Und doch kann man, je weiter wir nach Norden vorrücken, ein allmähliches Nachlassen des „Regimes“ konstatieren: man erlaubt uns bereits, unter Aufsicht die Kramläden zu besuchen, wir dürfen truppweise im Dorfe spazieren gehen und sprechen auch hier und da bei einem der Politischen vor. Die Soldaten leisten uns dabei nach Kräften Vorschub, uns eint die gemeinsame Opposition gegenüber dem Kapitän. Am heikelsten dabei ist die Lage des Unteroffiziers, der das Bindeglied zwischen Offizier und Mannschaften bildet.

„Nein, meine Herren“, sagte er einmal zu uns im Beisein der Soldaten, „der Unteroffizier von heute ist nicht mehr der von ehemals ...“ „Ja, es gibt auch jetzt noch manchen, der es wie früher haben möchte“, erscholl es aus der Gruppe der Soldaten, „aber man zieht ihm eins über, dann wird er so weich, wie Seide ...“

Alle lachten laut auf, und auch der Unteroffizier stimmte in das allgemeine Lachen mit ein –, aber man sah wohl, dass er es mit sehe gemischten Gefühlen tat.

* * *

Im Gefängnis von Tobolsk, den 26. Januar.

Auf der vorletzten Haltestelle vor Tobolsk empfing uns der Gehilfe des Isprawniks –, einerseits um die Überwachung zu verschärfen, andererseits um die Liebenswürdigkeit und Ritterlichkeit zu verdoppeln. Die Wachen wurden verstärkt, das Herumschlendern in den Dorfstraßen hörte auf, zugleich aber wurden den Familien bequeme verdeckte Reiseschlitten zur Verfügung gestellt.

Etwa zehn Werst vor Tobolsk kamen uns zwei Politische entgegen, der Offizier hatte sie noch kaum bemerkt, als er schon seine „Maßnahmen... traf: er eilte an die Spitze des Zuges und ließ die Soldaten aus den Schlitten steigen. Sie mussten nun die ganzen 10 Werst mit geschultertem Gewehr zurücklegen. Natürlich gedachten sie dabei des Kapitäns in nicht gerade sehr freundschaftlicher Weise.

Ich muss hier meine Schilderung unterbrechen: Der „Doktor“, den man als unseren Ältesten in die Kanzlei beorderte, teilte uns mit, dass wir alle unter militärischer Eskorte mit einer Geschwindigkeit Von 40 bis 45 Werst täglich nach Obdorsk geschafft werden sollen. Von hier bis Obdorsk sind über 1.200 Werst Schlittenweg – wir werden also günstigstenfalls, das heißt, wenn immer Pferde zum Wechseln vorhanden sind und keine Stockungen während der Reise eintreten, über einen Monat brauchen, um an unseren Bestimmungsort zu gelangen. Keine Kleinigkeit in dieser Jahreszeit, zumal, wenn man kleine Kinder mit sich führt! Es heißt, dass die Reise von Beresow bis Obdorsk mit Rentieren zurückgelegt wird. Denjenigen unter uns, die mit Familie reisen, wurde es ein wenig ungemütlich. Die schlimmsten Zeitungsgerüchte bewahrheiteten sich also –, man hatte tatsächlich den nördlichsten Punkt des Gouvernements für uns als Wohnsitz auserkoren. Interessant ist, dass dieselbe „Gleichheit“, die sich im Urteil aussprach, auch jetzt, bei der Ansiedlung, in Anwendung kam: wir waren samt und sonders an ein und denselben Ort verbannt.

Hier in Tobolsk hat man von Obdorsk genau die gleiche unheimliche Vorstellung wie Ihr in Petersburg. Man weiß nur soviel, dass dieser Ort sich irgendwo jenseits des Polarkreises befindet ... Es entsteht jetzt die ernste Frage: wird man ein spezielles Kommando zu unserer Überwachung in Obdorsk errichten oder nicht? Eine solche Maßregel wäre doch nur konsequent.

Wird sich überhaupt eine Flucht bewerkstelligen lassen? Oder werden wir zwischen Nordpol und Polarkreis die weitere Entwicklung der russischen Revolution und eine Änderung der gesamten politischen Lage abwarten müssen? Ich habe Grund zu der Besorgnis, dass die Rückkehr aus einer Frage der Technik eine Frage der Politik machen dürfte ...

Nun wohl, wir werden also in Obdorsk sitzen und warten. Und werden arbeiten. Schicken Sie nur Bücher und Zeitungen, Zeitungen und Bücher.

Wer weiß, welchen Gang die weiteren Ereignisse nehmen werden? Wer weiß, wie hoch die Rechnung zu stehen kommen wird? Vielleicht, dass dieses Jahr, das wir in Obdorsk bleiben müssen, überhaupt die letzten Revolutionsferien bildet, die wir von der Geschichte geschenkt bekommen, um die Lücken in unserem Wissen ausfüllen und unsere Waffen schärfen zu können.

Finden Sie eine solche Ansicht zu fatalistisch? Liebster Freund, wenn man unter Konvoi nach Obdorsk reist, kann es gar nicht schaden, wenn man sich ein bisschen zum Fatalismus bekehrt.

* * *

Den 29. Januar.

Zwei Tage sind vergangen, seitdem wir Tobolsk verlassen haben. Wir werden von 30 Soldaten unter Anführung eines Unteroffiziers eskortiert. Am Montag wurden wir in große, mit drei Pferden bespannte Koschewas gesetzt. Kaum zum Tore des Gefängnisses hinaus, hatten wir auch schon die Stadt hinter uns, die Pferde jagten, wie vom Teufel besessen, davon. Der Morgen war herrlich, sonnig und frostig. Ringsum dichter Nadelwald; regungslos stand er in seinem weißen Gewande von Reif da und hob sich von dem klaren Himmel ab. Nicht der geringste Laut in der Luft! Es schien, als ob alte Lautwellen in der Natur für ewig erfroren wären. Eine märchenhafte Umgebung!

Bei der Ausfahrt aus der Stadt erwarteten uns die hiesigen Politischen in einer Gruppe von vierzig bis fünfzig Personen. Viele Grüße, Tücherschwenken und hastige Versuche, uns zu erkennen. Wir jagten aber mit Windeseile an ihnen vorbei ... Jetzt liegen zwischen uns und ihnen hundert Werst.

Unter der hiesigen Bevölkerung hat sich ein wahrer Legendenkreis um unsere Personen gebildet. Die einen hatten uns für fünf Generäle und zwei Gouverneure, die zur Verbannung verurteilt sind; eine zweite Version besagt, ein hoch mögender Graf, von seiner Familie begleitet, werde nach Beresow eskortiert; die dritte, dass wir Abgeordnete der ersten Duma seien, die in die Verbannung folgen. Zuguterletzt richtete die Wirtin, bei der wir heute rasteten, an den „Doktor“ die Frage, ob wir „auch von der Politik“ wären, und meinte, als der Doktor diese Frage bejahte: „Dann werden Sie wohl die Obrigkeit von der ganzen Politik sein?“

Von Tobolsk ab gibt es fast in jedem Dorf Politische, hauptsächlich sogenannte „Agrarniki“, das heißt wegen Agrarunruhen verurteilte Bauern; ferner Soldaten, Arbeiter und auch – in sehr beschränkter Anzahl – Intellektuelle. In zwei Dörfern, welche wir passierten, fanden wir von den Politischen organisierte Genossenschaftswerkstätten vor. Überhaupt sind wir bis jetzt auf äußerste Not nicht gestoßen. Das Leben in diesen Gegenden ist nämlich überaus billig, die Politischen wohnen gewöhnlich bei Bauern, wo sie für sechs Rubel monatlich Wohnung und volle Kost erhalten. Diese Summe ist von der örtlichen Verschicktenorganisation als Minimalsatz festgelegt. Für zehn Rubel monatlich kann man schon „ganz komfortabel“ leben. Je weiter aber nach Norden, desto teurer wird der Unterhalt und umso geringer die Aussicht, irgend einen Nebenerwerb zu finden.

Die Verschickten bleiben nirgends lange an einer und derselben Stätte, so dass unter ihnen ein ewiges Kommen und Gehen, ein unaufhörliches Wandern herrscht. Es wird mit uns auch ohne behördliche Erlaubnis gewandert. Die auf dem Ob-Flusse verkehrenden Dampfer befördern die Politischen unentgeltlich. Die zahlenden Passagiere kauern in den Winkeln herum, und unsere Zugvögel bemächtigen sich der besten Plätze. Sie wundern sich vielleicht darüber, bester Freund, aber ich kann Sie versichern, dass dies eine fest eingewurzelte Tradition ist. Unsere Kutscher und auch die Soldaten äußern sich über unsere Verbannung nach Obdorsk in folgender Weise: „Nun, es ist sowieso nicht auf lange Zeit. Im Frühjahr kommen Sie mit dem ersten Kronsdampfer zurück.“ – „Was hat es dann aber für einen Zweck, uns jetzt nach Obdorsk zu bringen?“ – „Ja, was soll man denn mit ihnen anfangen?“

Zufällig begegneten wir einem Genossen, der in Obdorsk gewohnt hatte. Nach seiner Beschreibung ist unsere künftige Wohnstätte gar nicht so übel. Ein. großes Dorf mit über tausend Einwohnern, zwölf Läden, hübschen Wohnhäusern. Zwischen Berghügeln eingebettet, hat es ein sehr gesundes Klima. Die Arbeiter, die unter uns sind, würden Verdienst finden; man kann auch Stunden bekommen. Das Leben ist zwar ziemlich teuer, aber die Löhne sind dafür auch hoch. Nur einen Fehler hat dieser entzückende Ort: er ist von der ganzen Welt so gut wie abgeschnitten. Bis zur Eisenbahn anderthalbtausend Werst; bis zur nächsten Telegraphenstation – achthundert. Die Post kommt alle zwei Wochen einmal, und in der Zeit der schlechten Wege, im Frühling und Herbst, steht sie ihre Tätigkeit anderthalb bis zwei Monate überhaupt ein. Wenn in Petersburg schon längst eine provisorische Regierung am Ruder ist, wird in Obdorsk noch immer der Stanowoj [D] am Ruder sein. Diese Abgeschiedenheit von der großen Tobolsker Trasse ist auch scheinbar der Grund des verhältnismäßig regen Lebens in Obdorsk, das sich zu dem selbständigen Zentrum eines weit ausgedehnten Gebietes aufgeschwungen hat.

Obdorsk! Ein winziges Pünktchen auf dem Globus – und seinen Bedingungen wirst Du vielleicht mehrere Jahre hindurch Dein ganzes Leben anpassen müssen! Bisweilen vermögen selbst meine fatalistischen Kombinationen nicht, mir Trost und Beruhigung zu gewähren. Und dann sehnte ich mich mit fest auseinander gepressten Lippen nach dem Licht einer elektrischen Straßenlaterne, nach dem Geläute der Trambahn und nach dem Schönsten, was die Weit überhaupt bieten kann – nach dem Duft der Druckerschwärze eines frischen Zeitungsblattes!

* * *

Jurowskoje, den 1. Februar.

Heute bis auf i-Tüpfelchen genau dasselbe wie gestern und vorgestern: Reiseschlitten und Konvoisoldaten. Neben mir saß ein Soldat, der mich mit Erzählungen aus dem russisch-japanischen Kriege unterhielt, Unsere Soldaten gehören zum sibirischen Regiment; es hatte furchtbar gelitten und musste nach dem Kriege vollkommen erneuert werden. Ein Teil desselben steht in Tjumen, der Rest in Tobolsk. Die Tjumer Soldaten, die uns bis Tobolsk begleiteten, waren, wie ich schon oben geschildert habe, sehr zuvorkommend, nicht so die Tobolsker, die viel roher sind. Das kommt wohl daher, weil kein Offizier dabei ist und so die ganze Last der Verantwortung auf ihnen selbst ruht. Außerdem befindet sich unter ihnen eine beträchtliche Anzahl „bewusster“ Schwarzhundertler. Es ist nicht ausgeschlossen, dass in den Tobolsker Kasernen reaktionäre Propaganda getrieben wird. Unser Konvoi, wie das ganze Regiment, besteht aus Kleinrussen, Polen und Sibiriern. Das einheimische Element ist das rückständigste. Aber auch unter ihnen findet man manche prächtige Burschen. Jedoch schon nach zwei Tagen wurde der neue Konvoi etwas milder. Das ist bei einer solchen Reise nicht zu unterschätzen: diese plumpen Marssöhne sind Herren über unser Leben und Tod.

Mein Begleiter ist voller Entzücken über die chinesischen Frauen: „Es gibt verteufelt schöne Weiber darunter. Der Chinese ist klein und kann sich mit einem echten Manne überhaupt nicht messen. Aber die Chinesin ist schön: weiß, weich und saftig“ ...

„Hatten denn unsere Soldaten Umgang mit den chinesischen Frauenzimmern?“ fragte unser Kutscher, auch ein gewesener Soldat.

„Ja, so leicht kommt man an sie nicht heran“ Erst werden die Weiber fortgebracht und dann erst öffnet man den Soldaten die Tür. – Einmal aber bekamen die unseren eine Chinesin im hohen Gaoljan [E] zu fassen und naschten nach Herzenslust“ Der eine ließ aber seine Mütze im Grase liegen. Die Chinesen legten die Mütze dem Kommandeur vor und dieser ließ das ganze Regiment in Reih und Glied aufmarschieren: „Wem gehört die Mütze?“ Natürlich meldete sich niemand, denn jeder war sich darüber klar, dass es sich um mehr als die Mütze handelte. So verlief die ganze Geschichte im Sande „Aber die Chinesinnen sind doch fein .... zum Fingerablecken“ ...

Wir hatten Tobolsk auf Troikas verlassen, aber schon auf der zweiten Station wurden sie durch Zweigespanne ersetzt, weil der Weg immer schmäler wurde. In den Dörfern, wo wir die Pferde wechselten, standen schon angespannte Schlitten für uns bereit. Das Umsteigen wird vor dem Dorfe, auf freiem Felde, ausgeführt, Gewöhnlich strömte die ganze Bevölkerung hinaus, um uns zu sehen. Es entwickelten sich lebhafte Szenen. Während die Frauen die Pferde am Zaume festhalten, verstauen die Bauern unter Aussicht des „Doktors... unser Gepäck und die Kinder laufen und springen freudig erregt um uns herum, Gestern wollten uns die Politischen in einem Dorfe photographieren, sie hatten vor dem Amtshause mit ihrem Apparate Posto gefasst, wir jagten aber so rasch vorbei, dass eine Aufnahme unmöglich war. – Bei der Einfahrt in das Dorf, wo wir heute übernachten, empfingen uns die örtlichen Verschickten mit einer roten Fahne. Es sind hier ihrer 14 Mann, darunter 10 Grusier. Beim Anblick der roten Fahne gerieten unsere Soldaten ganz außer sich. Sie drohten mit Bajonetten und schrien sogar, dass sie schießen würden ... Schließlich wurde die Fahne herab geholt und die Demonstranten zurückgedrängt.

Unter unseren Konvoisoldaten befindet sich eine Gruppe, die sich um den Gefreiten, einen Altgläubigen, schart. Dieser Gefreite ist ein unglaublich rohes und grausames Subjekt, der kein größeres Vergnügen kennt, als einem unserer Kutscherjungen Rippenstöße zu versetzen, ein des Wegs kommendes Tatarenweib tödlich zu erschrecken, oder mit vollster Wucht das Pferd mit dem Gewehrkolben zu schlagen. Das ziegelrote Gesicht, das halboffene Maul mit dem blutleeren Zahnfleisch und der stiere Blick verleihen ihm das Aussehen eines Idioten. Wo es gilt, eine rote Fahne herab zu holen oder einem Politischen, der unserem Schlitten zu nahe gekommen ist, einen Stoß vor die Brust zu versetzen, da ist der Gefreite, an der Spitze seiner Bande, sofort zur Stelle. Dem Unteroffizier, der unsern Zug befehligt, macht er, wo es nur angehe, schärfste Opposition, weil dieser nach seiner Meinung uns gegenüber zu wenig Entschlossenheit zeigt. Wir müssen uns die größte Mühe geben, einen scharfen Konflikt zu vermeiden, denn in solchem Fall hätten wir von dem Unteroffizier, der den Gefreiten wie das Feuer fürchtet, nicht den geringsten Schutz zu gewärtigen.

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Demjanskoje, den 2. Februar.

Obgleich gestern Abend bei unserer Einfahrt in Jurowskoje die rote Fahne abgenommen worden war, flatterte heute früh, als wir das Dorf verließen, eine neue Fahne, die in einem Schneehaufen steckte, lustig im Morgenwinde. Diesmal ließ man den frechen Störenfried ungeschoren, denn die Soldaten waren zu faul, um aus den Schlitten zu klettern, und wir defilierten an dem Schneehaufen ohne weiteres vorbei. Ein paar hundert Schritte weiter, als sich der Weg zu dem Flusse hinab senkte, erblickten wir auf der einen Seite des Schneeabhangs in mächtigen Buchstaben die Inschrift: „Es lebe die Revolution!“ Mein Rosselenker, ein achtzehnjähriger Bursche, lachte lustig auf, als ich die Worte mit lauter Stimme ablas. „Wissen Sie denn, was diese Worte bedeuten?“ fragte ich ihn. „Nein, das weiß ich nicht“, antwortete er nach einigem Nachdenken, „ich weiß nur, dass man so schreit: Es lebe die Revolution.“ Aber an seiner verschmitzten Miene konnte man sehen, dass er mehr wusste, als er zu sagen für gut hielt.

In Demjanskoje – einem großen Dorf, wo wir jetzt ausruhen – kamen wir um 1 Uhr nachmittags an. Wir wurden von einer Menge Politischer empfangen, deren hier über sechzig wohnten. Wieder einmal geriet ein Teil unserer militärischen Begleitung in große Verlegenheit, und der Gefreite versammelte schon seine Getreuen um sich, bereit, nötigenfalls loszuschlagen. Glücklicherweise aber lief alles sehr friedlich ab. Wir wurden schon seit langem und mit nervöser Ungeduld erwartet Man hatte einen speziellen Ausschuss gewählt, der unseren Empfang würdig vorbereiten sollte. Ein großartiges Mittagessen stand bereit und ein komfortables Zimmer in der hiesigen „Kommune“ sollte uns gastlich aufnehmen. Aber dieses Zimmer bekamen wir nicht einmal zu sehen, und das Essen wurde uns in einer sehr bescheidenen Bauernhütte serviert. Man ließ uns gar keine Gelegenheit, mit den Genossen ein Gespräch anzuknüpfen, nur in ganz kleinen Gruppen von zwei bis drei Mann gelang es ihnen, sich zu uns durchzuschmuggeln, indem sie verschiedene Bestandteile unseres Mittagsessens herbei trugen. Außerdem gehen wir der Reihe nach unter Konvoi in den Kramladen, um unterwegs ein paar hastige Worte mit den Genossen zu wechseln, die den ganzen Tag über auf der Straße verharren. Eine der hiesigen Verbannten schlich sich als Bauernfrau verkleidet zu uns unter dem Vorwande, Milch zu verkaufen. Sie spielte ihre Rolle sehr gut, aber unser Wirt erkannte sie und zeigte den Betrug an, worauf sich die Genossin unverzüglich entfernen musste.

Es kam mir in Erinnerung, wie wir uns seinerzeit in Ust-Kut (an der Lena) zum Empfange der vorbeiziehenden Verschickungstransporte rüsteten, Kohlsuppe kochten, Fleischpasteten buken, mit einem Worte, genau dasselbe taten, wie heute unsere Genossen in Demjanskoje. Die Durchreise eines großen Verschickungstrupps ist ein großes Ereignis für die längs des Weges wohnenden Politischen, die vor Ungeduld vergehen, etwas Neues aus der fernen Heimat zu vernehmen.

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In den Jurten von Zingalinsk, den 4. Februar, 8 Uhr abends.

Der Pristaw hatte sich auf unsere dringende Forderung an die Administration von Tobolsk mit der Anfrage gewandt, ob das Tempo unserer Reise nicht etwas beschleunigt werden könnte. Tobolsk setzte sich mit Petersburg in Verbindung, das Ergebnis war, dass dem Pristaw freie Hand gelassen wurde. Wenn man annimmt, dass wir von nun an im Durchschnitt Siebzig Werst täglich machen werden, so dürften wir in Obdorsk am 26. bis 28. Februar eintreffen. Natürlich sind das nur mutmaßliche Berechnungen.

Wir befinden uns zurzeit in den Jurten von Zingalinsk. Eigentlich sind das keine Jurten, sondern Bauernhütten, aber die Einwohnerschaft besieht zum größten Teile aus Ostjaken. Diese letzteren sind ein scharf ausgeprägter fremdvölkerlicher Typus. Aber ihre ganze Lebensart und ihre Ausdrucksweise sind rein bäuerlicher Natur. Nur dass sie noch mehr dem Trunke ergeben sind als die sibirischen Bauern. Schon am frühen Morgen hebt bei ihnen das Saufen an und um die Mittagszeit kann keiner mehr gerade auf den Beinen stehen.

Der heutige Tag bildet allerdings eine Ausnahme. Als sie – so erzählte uns einer der hiesigen Politischen, ein gewesener Lehrer – hörten, dass sich geheimnisvolle Personen nähern, die mit der größten Feierlichkeit empfangen werden sollten, erschraken sie so sehr, dass sie ganz gegen ihre Gewohnheit nichts tranken und sogar allen vorrätigen Schnaps versteckten. Daher trafen wir fast alle in nüchterner Verfassung an, aber gegen Abend war unser Wirt vollkommen betrunken – offenbar hatte der Zauber, der von uns ausging, nicht sehr lange bei ihm vorgehalten.

Die Gegend, durch die wir jetzt fahren, ist sehr fischreich. Der obenerwähnte Lehrer hat unter den Bauern und Verschickten eine Fischfanggenossenschaft organisiert, kauft große Zugnetze ein, leitet als ältester den Fischfang und fährt selbst nach Tobolsk, wo er die Fische verkauft. Im vergangenen Sommer kam auf jedes Mitglied über hundert Rubel Reingewinn. Sie sehen, man passt sich hier den Verhältnissen an; allerdings hat sich der Lehrer einen Leistenbruch zugezogen.

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Samarowo, den 6. Februar.

Gestern machten wir 65, heute 73 Werst. Morgen werden wir ebenso viel zurücklegen. Die Ackerbauzone haben wir bereits hinter uns. Die hiesigen Bauern – sowohl die Russen als auch die Ostjaken – leben ausschließlich vom Fischfang.

Wie dicht das Gouvernement Tobolsk von Politischen bevölkert ist! Es gibt buchstäblich kein noch so entlegenes Dörfchen, in dem nicht Verschickte zu finden sind. Der Besitzer des Semstwo-Amtshauses, in dem wir rasten, berichtete uns, seither habe es hier überhaupt keine Politischen gegeben, aber nach dem Manifest vom 30. Oktober sei eine wahre Überschwemmung des Gouvernements mit Politischen ausgebrochen. „Da fing es erst an.“ So hat sich hier die konstitutionelle Ära geäußert. An vielen Stellen treiben die Politischen zusammen mit den Ansässigen Geschäfte: sammeln und reinigen Zedernzapfen, fangen Fische, sammeln Beeren, treiben Jagd usw. Die größeren Unternehmungsgeist besitzenden gründen kooperative Werkstätten, Fischfanggenossenschaften, Konsumgeschäfte und ähnliches. Die Beziehungen zwischen Bauern und Politischen sind die denkbar besten. So räumten zum Beispiel in Samarowo – einem großen Handelsdorfe – die Bauern den Politischen unentgeltlich ein warmes Wohnhaus ein, und als die ersten Verschickten bei ihnen eintrafen, schenkten sie ihnen ein Kalb und zwei Säcke Mehl. In den Läden werden den Politischen nach fest eingewurzeltem Brauch alle Produkte billiger verabfolgt als den Bauern. Ein Teil der hiesigen Politischen wohnt in Gütergemeinschaft, und vom Dache ihres Hauses weht ungehindert eine rote Fahne. Versuchen Sie einmal in Paris, Berlin oder Genf eine rote Fahne herauszuhängen! ...

En passant will ich Ihnen einige Beobachtungen mitteilen, die ich in Bezug auf das Verbannungswesen gemacht habe.

Auf die Tatsache, dass die „politische“ Bevölkerung der Gefängnisse und Sibiriens sich ihrer sozialen Zusammensetzung nach immer mehr demokratisiert, wurde seit den 90er Jahren unzählige Male hingewiesen. Immer größer und größer wurde der Prozentsatz der Arbeiter, die schließlich die Standarte der revolutionären Intelligenz weit hinter sich ließen. Diese letztere war von jeher gewohnt, die Peter-Paulsfestung, das Kreuz-Gefängnis und Kolymsk als ihr Monopol, etwa wie ein Majorat, zu betrachten. Noch in den Jahren 1900–1902 traf ich im Gouvernement Irkutsk verschickte „Narodowolzi“ und „Narodoprawzi“ [F] die fast verächtlich die Achseln zuckten beim Anblick der mit Wilnaer Schornsteinfegern oder Minsker Zuschneidern angefüllten Arrestantenwagen. Aber der verbannte Arbeiter von damals war in der Mehrzahl der Fälle Mitglied einer revolutionären Organisation und stand politisch und moralisch auf einer gewissen Höhe. Fast alle Verschickten – außer denen, die aus dem südlichen Ansiedlungsrayon kamen – hatten vorher das Sieb des Gendarmerieverhörs passieren müssen, und so grob dieses Sieb auch sein mag, es wusste doch den Weizen von der Spreu zu sondern, so dass nach Sibirien fast nur die wirklich fortschrittlichen Arbeiter kamen und daher die Kader der Verschickten stets auf einem gewissen Niveau blieben.

Einen ganz anderen Charakter weisen die Verschickten der „konstitutionellen“ Epoche unserer Geschichte auf. Keine Organisierten mehr, sondern elementare Massenbewegung; keine Voruntersuchung, wenn auch von Seiten der Gendarmen, sondern einfach Straßenrazzien en masse. Nicht nur in die Verschickung, sondern auch unter die Kugeln der Maschinengewehre kam in der Regel nur die ganz gewöhnliche graue Masse. Nach der Unterdrückung einer ganzen Reihe von Volksaktionen beginnt die Periode der „Partisan“aktionen, der Expropriationen zu revolutionären Zwecken oder bloß unter revolutionärer Flagge, der maximalistischen Abenteuer und endlich der ganz gewöhnlichen Hooliganerraubzüge. Wen man nicht an Ort und Stelle hängen konnte, der wurde nach Sibirien abgeschoben. Selbstverständlich gab es denn nicht wenig uns gänzlich fern stehender Personen, die mit der Revolution nur sehr oberflächlich in Berührung gekommen waren, es waren vielfach nichts weiter als Straßengaffer und nicht selten gewöhnliche Typen aus dem großstädtischen Nachtleben, die in der „großen Schlägerei“ mit gefangen und mit gehangen wurden. Wie dies auf das Niveau der Verschickten wirken musste, leuchtet ohne weiteres ein.

Noch einen Umstand gibt es, der verhängnisvoll in derselben Richtung wirkt: ich meine die Fluchtversuche. Es entfliehen natürlich die besten Elemente, die aktivsten und vorgeschrittensten – und sie entfliehen ja doch nur, um sich von neuem der Partei und den Parteiarbeiten hinzugeben. Wie groß dieser Prozentsatz ist, kann man aus dem Umstände ermessen, dass in einem gewissen Bezirk des Gouvernements Tobolsk von 450 Verschickten 350 mit Erfolg Fluchtversuche unternommen hatten. Zurück bleiben müssen nur die Faulen, und so kommt es, dass das Gros der Verbannten aus unscheinbaren, politisch nicht klassifizierbaren, zufälligen Elementen besteht. Jene vereinzelten fortgeschrittenen und politisch entwickelten Elemente, die aus diesem oder jenem Grunde nicht fliehen konnten, haben es zuzeiten recht schwer: nolens volens sind sie in den Augen der Bevölkerung mit den unsicheren Kantonisten durch ein gemeinsames Band verknüpft.

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In den Jurten von Karymkrinsk, den 8. Februar.

Gestern haben wir 75, heute 90 Werst zurückgelegt. Machen wir abends Rast, so sind wir sehr abgespannt und gehen zeitig zur Ruhe. Wir halten in einem Ostjakendorf, in einer elenden Bauernhütte. In der schmutzigen Küche drängen sich zusammen mit den betrunkenen Ostjaken unsere vor Kälte Zitternden Konvoisoldaten. In der zweiten Wohnhälfte ertönt das Blöken eines Lammes. In dem Dorfe wird eine Hochzeit gefeiert – wir sind jetzt gerade mitten in der Periode der Hochzeiten –; die Ostjaken sind natürlich alle betrunken und taumeln von Zeit zu Zeit in unser Zimmer.

Es ist schwer, sich auch nur annähernd die Unsumme von Mühe vorzustellen, die auf unseren Transport verwendet wurde. Unser Zug besteht aus zweiundzwanzig Schlitten und etwa fünfzig Pferden. Soviel Pferde auf einmal gibt es nur selten in den hiesigen Dörfern, und so mussten sie von weit her herbeigeschafft werden. Auf manchen Stationen trafen wir Pferde, die man aus einer Entfernung von hundert Werst hergetrieben hatte. Und da die Distanzen gewöhnlich nicht mehr als zehn bis fünfzehn Werst betragen, so mussten die Ostjaken hundert Werst ihre Pferde abrackern, um schließlich zwei Mitglieder des Arbeiterdeputiertenrats ganze zehn Werst (bis zur nächsten Haltestelle) zu befördern! Außerdem waren die Zeiten für unsere Ankunft nicht immer genau angegeben, sodass mancher Jamschtschik, der aus weiter Ferne hergekommen war, zwei Wochen lang auf uns warten musste. Nur in einem einzigen Falle war nach ihrer Erinnerung der gleiche Aufwand getrieben worden: das war, als der Gouverneur selbst jene Gegend bereiste ...

Ich habe schon oben jene Sympathie erwähnt, die von der hiesigen Bauernschaft den Politischen im Allgemeinen, und uns im Besonderen, entgegengebracht wird. Ein interessanter Fall, der hierfür beredtes Zeugnis ablegt, sei hier wiedergegeben. Er ereignete sich in dem kleinen Dorfe Bjelogorje, das schon im Kreise Beresow liegt. Eine Gruppe der dortigen Bauern arrangierte uns zu Ehren auf gemeinsame Kosten Tee und Zakuska (Imbiss) und sammelte sechs Rubel, die unter uns verteilt werden sollten. Das Geld lehnten wir natürlich ab, aber den Tee wollten wir trinken. Leider widersetzte sich dem unser Konvoi, so dass wir auf den Tee verzichten mussten. Der Unteroffizier hatte zwar nichts dagegen, aber der Gefreite schlug Lärm und drohte ihm mit einer Anzeige. Wir mussten das Haus, wo der Tee für uns serviert war, wieder unverrichteter Sache verlassen. Das ganze Dorf gab uns das Geleite, so dass eine regelrechte Demonstration zustande kam.

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Dorf Kandinskoje, den 9. Februar.

Wieder hundert Werst zurückgelegt. Am elften werden wir in Beresow sein. Heute fühle ich mich sehr ermüdet: während der neun- bis zehnstündigen Fahrt bekommt man nichts zu essen. Wir fahren die ganze Zeit längs des Obflusses, oder der Obflüsse, wie sich unsere Jamschtschiks manchmal ausdrücken. Der Fluss ist breit. Das rechte Ufer ist bergig und bewaldet; das linke bildet eine Niederung Das Wetter ist windstill und warm. Zu beiden Seiten des Weges sind kleine Tannen in den Schnee gesteckt, um den Weg zu bezeichnen.

Die Kutscher sind meistenteils Ostjaken. Wir fahren zwei- oder dreispännig; die Pferde sind eins vor das andere gespannt, denn der Weg wird immer schmäler und schlechter. Unser Zug ist daher sehr ausgedehnt. Die Jamschtschiks haben lange Peitschen und lassen von Zeit zu Zeit schrille Rufe ertönen. Dann stürmen die Pferde wie toll los (ná-masch, wie es hier heißt). Dichter Schneestaub wirbelt auf, dass einem der Atem vergeht, die Schlitten fahren auf einander auf, und eine schnaubende Pferdeschlange schiebt sich von hinken vor, den Reisenden mit ihrem heißen Atem umgebend. Hinten kippt jemand um, oder bei einem der Jamschtschiks geht etwas am Schlitten entzwei, so dass der ganze Zug stehen bleiben muss. Von der langen Fahrt fühlt man sich wie hypnotisiert. Ringsherum Stille. Die Jamschtschiks wechseln mit einander kurze Worte in der kehligen Ostjakensprache ... Dann geht es wieder ná-masch vom Flecke los. Die häufigen Haltestellen sind sehr lästig und lassen den Jamschtschiks keine Gelegenheit, ihre volle Kunst zu entfalten. Wir machen in der Stunde nur fünfzehn Werst, während man hier unter richtiger Fahrt achtzehn bis zwanzig und selbst fünfundzwanzig versteht. Das schnelle Fahren ist in Sibirien üblich und in gewissem Sinne bei den gewaltigen Entfernungen auch notwendig. Eine solche Fahrt aber, wie jetzt, habe ich selbst an der Lena nicht gesehen.

Wenn wir zur Station kommen, stehen schon hinter dem Dorfe angespannte Schlitten und Ersatzpferde bereit. Zwei Schlitten sind bei uns bis Beresow „durchgehend“: darin reisen nämlich die Familien. Wir steigen rasch um, und die Fahrt geht weiter.

Die Jamschtschiks sind wahre Akrobaten: um sich auf einem solchen Sitz festzuhalten, bedarf es keiner geringen Kunst. Ganz vorne am Schlitten ist der Quere noch ein Brett angeschlagen, die sogenannte Laube. Auf dieser Laube, einem kahlen Brett, sitzt nun der Jamschtschik, indem er seitwärts die Beine über den Schlittenrand baumeln lässt. Während die Pferde im Galopp hin stürmen und der Schlitten bald aus der einen, bald auf der andern Seite fast senkrecht hochfliegt, stellt der Jamschtschiks mit seinem eigenen Körper das Gleichgewicht her und stößt sich stellenweise mit den Füßen vom Erdboden ab ...

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Im Gefängnis zu Beresow, den 12. Februar.

Vor fünf bis sechs Tagen – ich schrieb es Ihnen nicht, um Sie nicht unnötigerweise zu beunruhigen – fuhren wir durch eine Gegend, die durchweg vom Fleckentyphus verseucht war. Jetzt liegt diese Gegend weit hinter uns. In den Jurten von Zingalinsk, die ich in einem meiner letzten Reisebriefe erwähnte, waren 30 von 60 Häusern infiziert, und genau dasselbe Bild in den übrigen Ansiedlungen. Zahlreiche Todesfälle. Fast jeder unserer Jamschtschiks wusste von dem Tode eines Angehörigen zu berichten. Die Beschleunigung unserer Fahrt und die Abänderung der ursprünglichen Reiseroute stehen in Verbindung mit dem Typhus: der Pristaw hatte seine telegraphische Anfrage durch die Notwendigkeit motiviert, die verseuchten Orte möglichst rasch zu passieren.

Jeden Tag kommen wir um 90 bis 100 Werst, das heißt fast um einen Breitengrad, dem Norden näher. Dank der ununterbrochenen Fortbewegung wird das Abnehmen der Kultur – wenn man hier von Kultur überhaupt sprechen darf – immer augenfälliger. Mit jedem Tage steigen wir eine Stufe tiefer in das Reich der Kälte und Unkultur hinab. Erst sieht man wohlhabende russische Bauern. Dann russifizierte Ostjaken, die dank den gemischten Ehen einen Teil ihrer mongolischen Rasseeigentümlichkeiten verloren haben. Als die Ackerbauzone hinter uns war, folgte der Jagd und Fischfang treibende Ostjake, ein kleines zottiges Wesen, das nur mit großer Mühe russisch spricht, Pferde wurden immer seltener und schlechter, denn das Fuhrgewerbe spielt hier keine große Rolle, und der Jagdhund steht höher im Werte als das Pferd. Auch der Weg wurde immer schlechter: schmal, ohne Spuren. Und doch sind nach der Versicherung des Pristaws die an der „Trasse“ wohnenden Ostjaken kulturell hochentwickelt zu nennen im Vergleich zu ihren an den Nebenflüssen des Ob wohnenden Stammesgenossen.

Die hiesige Bevölkerung weiß gar nicht, wofür sie uns halten soll. Wir sind für sie ein Rätsel –, es hat den Anschein, als ob man uns für zeitweilig in Ungnade gefallene hohe Würdenträger hält.

Einer der Ostjaken fragte heute: „Wo ist denn Euer General? Zeigt mir den General ... Den möchte ich gerne sehen, ich habe noch nie in meinem Leben einen General gesehen“ ...

Als einer der Ostjaken ein schlechtes Pferd vorspannte, rief ihm ein anderer zu: „Wirst du wohl ein besseres nehmen? Denkst wohl, das ist für einen Pristaw? ...

Allerdings war auch ein zweiter entgegengesetzter Fall zu verzeichnen, einzig in seiner Art, wo ein Ostjake, gleichfalls in Bezug auf das Gespann, die Äußerung fallen ließ: „Na, so große Vögel sind’s wohl nicht.“

Gestern Abend langten wir in Beresow an. Sie werden hoffentlich nicht verlangen, dass ich Ihnen die „Stadt“ beschreiben soll. Sie gleicht Wercholensk, Kirensk und vielen anderen Städten, in denen es etwa 1.000 Einwohner, einen Isprawnik und ein Rentamt gibt. Übrigens zeigt man hier – allerdings ohne Garantie für die Echtheit – das Grab Ostermanns und den Ort, wo Menschikow begraben liegt. Die anspruchslosen Ostjaken zeigen auch noch eine alte Frau, die Menschikow zum Kostgänger gehabt haben soll.

Wir wurden sofort nach unserer Ankunft ins Gefängnis gebracht. Vor dem Eingange stand im Spalier die ganze Garnison von Beresow, etwa 50 Mann. Es stellte sich heraus, dass man das Gefängnis für unseren Empfang einer gründlichen Reinigung unterzogen, nachdem man die Insassen desselben vorher emittiert hatte. In einer der Kammern fanden wir einen gedeckten Tisch, Wiener Stühle, ein Spieltischchen, zwei Leuchter und eine Tischlampe.

Hier bleiben wir etwa zwei Tage, dann geht es weiter ... Ja, weiter ... aber ich habe mich noch nicht entschieden, in welcher Richtung ...

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Anmerkungen

A. Wachtmeister der Landpolizei.

B. Sibirischer Reiseschlitten.

C. Die Anfangsworte der sogenannten russischen Marseillaise, deren Text vom berühmten russischen Emigranten Lawrow verfasst wurde.

D. Stanowoj = Bezirkskommissar.

E. Gaoljan = Maisstroh.

F. Revolutionäre Parteien der 70er und 80er Jahre.


Zuletzt aktualiziert am 5. Dezember 2024