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Leo Trotzki

Auf dem Weg zur zweiten Duma


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.


VIII

Wie man sieht, flößt der parteilose Normalbürger, oder besser noch die Idee vom parteilosen Normalbürger, einer ganzen Reihe von Intellektuellen, die zwischen den Parteien stehen, außergewöhnliches Selbstvertrauen ein; kaum brüstet sich Herr Bogutscharski gehörig mit dem Nichtvorhandensein irgendwelcher Zeichen von Jungfräulichkeit, als auch schon zwischen den Parteien stehende Dunkelmänner auftreten mit dem unverhohlenen Bestreben zu zeigen, dass sie bei dieser Rechnung keineswegs die Rolle von Dummköpfen spielen.

Sie versuchen gar nicht zu überreden – sie drohen geradezu: Der Normalbürger in der Masse sei parteilos, aber oppositionell gestimmt. Er wolle die Vertreter aller Parteien, die der herrschenden Macht feindlich seien, in der Duma haben. Auf diesen Normalbürger besitze die parteilose Intelligenz einen gewaltigen Einfluss. Wenn die Kadetten nicht ihren Eigensinn bereuten und den Linken entgegenkämen, die auf einer gemeinsamen Plattform sich zu einigen bereit seien, dann werde für sie der Normalbürger ebensowenig sichtbar wie ihre eigenen Ohren!

Hört man diesen parteilosen Politikern zu, so könnte es scheinen, als seien sie längst in ein Abkommen mit dem „Normalbürger“ (wer ist das?) getreten und bildeten gar insgeheim mit ihm eine Partei zwischen den Parteien. Der Ton der parteilosen Führer dieser zwischenparteilichen Partei ist äußerst selbstbewusst, und niemand würde glauben, dass sich diese Leute von jeher am Schwanze der Kadetten einher schleppen. Die Kadetten selbst jedoch scheinen sie ein wenig zu fürchten. Und so entspann sich folgender Dialog:

Nachdem die Kadetten in so glänzender Weise die Frage zurückgegeben haben, beginnen sie, ausgelassen in ihren Bart zu kichern. Und die parteilosen „Sieger“ murmeln verlegen: Nun vortrefflich, die Kadetten haben kapituliert, sie sind völlig damit einverstanden, dass die Sozialdemokraten die Agitation mit kadettischen Losungen führen. Also ist eine Position erobert.

Damit kam – am 3. dieses Dezembers – der Dialog vorläufig zum Stillstand. Womit er seinen Abschluss finden wird, ist freilich leicht vorherzusehen. Die Herren Parteilosen werden an die „Eroberung“ der zweiten Position gehen und bei den Sozialdemokraten anklopfen. Wenn diese sich kadettischen Charmes und kadettischen Weitblicks erfreuten, würden sie auch ihrerseits zur Antwort geben: Wie können Sie an unserer Bereitschaft zweifeln, in ein politisches Bündnis mit den Liberalen zu treten? Verzeihen Sie: Nur müssten die Kadetten sich verpflichten, keine gefährlichen Illusionen über die Lösung der grundsätzlichen historischen Aufgabe der Nation zu verbreiten, und sie müssten damit einverstanden sein, die Agitation auf der Grundlage unserer programmatisch-taktischen Losungen zu führen. Dann kommen wir natürlich ihnen und Ihnen entgegen.

Nach diesen Worten würden unsere parteilosen Einfaltspinsel endgültig verschwinden. Beide Seiten sind einverstanden, folglich gilt es nur noch, die programmatischen und taktischen Losungen der liberalen Bourgeoisie und des sozialdemokratischen Proletariats in Übereinstimmung zu bringen, und Frau Kuskowa wird sagen können: Requiescat in pace.

Freilich steht zu vermuten, dass die Sozialdemokraten den stupiden parteilosen Heiratsvermittlern wesentlich direkter und entschiedener Antwort erteilen und darauf verweisen werden, dass ihre Vorschläge gänzlich unangebracht seien. Natürlich wird dann die gesamte Verantwortung für das Nicht-Zustandekommen eines Bündnisses auf die Köpfe dieser Wböswilligen Fanatiker“ geschoben werden. Dass es Frau Kuskowa nicht gelingen wird, Unvereinbares zu vereinen, wird dann nicht mit ihrem überaus naiven und unhaltbaren Utopismus begründet werden, nicht mit der Klassennatur des Liberalismus und nicht einmal mit der Klassennatur der Sozialdemokratie, sondern allein mit dem bösen Willen der sozialdemokratischen Doktrinäre. C’est simple comme bonjour – das ist klar wie Gottes Tag. Und dieselbe parteilose Intelligenz, die scheinbar von dem Vorhaben ausging, die Chancen der Partei des Proletariats auf Repräsentation in der Duma zu erhöhen, wird sich damit begnügen, mühsam hinter den Kadetten her zu kriechen und zu versuchen, nach Maßgabe ihrer Kräfte den parteilosen „Normalbürger“ anzulocken.

Nur breite Konkurrenz zwischen den Parteien kann die Kräfte des Volkes tatsächlich um die Duma zusammenschließen. Es stellt sich jedoch die Frage: Erlauben unser empörendes Wahlgesetz und seine Ergänzung durch die im Geiste Stolypins abgegebenen Erklärungen des Senats eine Vertretung der Arbeitermassen, die ihrer tatsächlichen Bedeutung in irgendeiner Weise entsprechen würde? Und wenn nicht (und es ist klar, dass nicht), kann diese unnormale Situation dann nicht behoben werden durch ein allgemeines Übereinkommen wenigstens der Parteien, die das Prinzip des allgemeinen und gleichen Wahlrechts anerkennen?

Einige Publizisten des Towarischtsch setzen sich offen dafür ein. Sie versuchen die Kadetten davon zu überzeugen, sie seien als Demokraten verpflichtet, ein wenig beiseite zu rücken und den Vertretern des Proletariats auch dann Raum zu geben, wenn unser Wahlsystem sie, die Kadetten, im Petersburger oder Moskauer Wahlmännerkollegium zu Herren der Situation mache.

Wer die Berechnungen des Genossen Losizki kennt, der weiß, welch empörende Ungleichheit das Wahlsystem vom 6. August bis 11. Dezember schafft. Mehr als alle anderen ist das Proletariat beeinträchtigt, und die Sozialdemokratie ist infolgedessen unter die schlechtesten Bedingungen gestellt. Auch die Senatserklärungen lasten mit all ihrem Gewicht auf Proletariat und Bauernschaft. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass die Kadetten als einzelne Partei, nicht jedoch als Bestandteil der Opposition, in vielen Fällen unmittelbaren Vorteil aus den Senatserklärungen ziehen, die in der Stadt beinahe ausschließlich die Sozialdemokratie benachteiligen und auf dem Land die Trudowiki. Es ist keineswegs unmöglich, dass in Petersburg, wo der Rat der Arbeiterdeputierten nicht weniger als die Stimmen von 200.000 erwachsenen Arbeitern auf sich vereinigte, kein einziger Vertreter des Proletariats einen Sitz in der Duma erhalten wird. Dafür würde genügen, dass die Kadetten im Wahlmännerkollegium die relative Mehrheit hätten und damit von der Notwendigkeit befreit wären, die Unterstützung der sozialdemokratischen Wahlmänner zu suchen. Wenn uns aber kein anderes Mittel als die Hoffnung auf das demokratische Gewissen der Kadetten zur Verfügung stünde, wären die Chancen für eine Arbeitervertretung denkbar niedrig. Sie würden natürlich in keiner Weise durch die wohlmeinende Einmischung der Mittler vom Towarischtsch verbessert, die auf beiden Seiten recht wenig Autorität besitzen. Allerdings haben wir ein wirksameres Mittel: Es besteht in der Ausweitung der Wahlkampagne über den Rahmen hinaus, den das offizielle System setzt. Natürlich werden wir als Bevollmächtigte, als Wahlmänner und als Abgeordnete keine Personen durchsetzen können, die den Anforderungen des Gesetzes nicht genügen, und wir werden dabei die Grenzen nicht überschreiten können, die vom Gesetz und seinen offiziellen Falschauslegern festgesetzt sind. Was wir jedoch tun können und müssen, das ist die Sammlung einer möglichst hohen Anzahl „nichtoffizieller“ Stimmen um jeden offiziellem Wahlmann und Abgeordneten. Die Arbeiter der Industrieunternehmen, die weniger als hundert Hände besitzen, sind des Wahlrechts beraubt. Wir müssen sie zur Beteiligung an den Abstimmungen heranziehen. Sie können ihre Stimmen den Bevollmächtigten größerer Betriebe übertragen oder eigene Bevollmächtigte wählen, die natürlich nicht in die offiziell bestimmten Kollegien eintreten werden, denen jedoch offizielle Bevollmächtigte trotz alledem die Möglichkeit geben werden, auf den Ausgang der Kampagne Einfluss zu nehmen, indem sie ihre Stimmen bei der Bestimmung der Wahlmänner berücksichtigen. Dasselbe gilt für die Eisenbahnarbeiter, die Arbeitslosen, die Handelsangestellten, die Hilfsarbeiter, die Fuhrleute und die Dienstboten. Alle Stimmen müssen registriert werden; die fortgeschrittensten Arbeiter müssen die Masse zur Ausarbeitung von Instruktionen für ihre Bevollmächtigten und Wahlmänner zur Weiterleitung an den Abgeordneten aufrufen, und zu diesen Instruktionen müssen Unterschriften gesammelt werden, die weit über die Arbeiter der mit „Rechten“ versehenen Industriebetriebe hinausgehen.

Eine solche Kampagne kann nicht nur auf die proletarischen Massen beschränkt werden. Das Kleinbürgertum, die Intelligenz und die Studentenschaft müssen in Gestalt ihrer linken Elemente zur Stimmabgabe für die sozialdemokratischen Abgeordneten verpflichtet werden. Je weiter wir diese Kampagne entwickeln, desto weniger werden wir von dem demokratischen Wohlwollen irgendwelcher Kadetten abhängen.

Welche Bedeutung können die wohlmeinenden Petitionen für das Proletariat durch die Literatengruppe des Towarischtsch, an die Kadetten gerichtet, gewinnen – gegenüber dem Druck des gleichen Proletariats auf die Kadetten? Wir müssen die Masse mit einer selbständigen und durch nichts beschränkten Agitation um die Sozialdemokratie zusammenschließen — nicht um die „Opposition“ im Allgemeinen, sondern um unsere Partei. Dann werden die Pforten der Duma vor den Vertretern des Proletariats geöffnet. Wir werden den kadettischen Wahlmännern zehntausende, hunderttausende für uns abgegebener Stimmen entgegenstellen – und mögen die Kadetten danach sechs Kutler schicken. Sollen sie das wagen! Wir werden sehr gelassen zusehen können, wie die liberalen „Volksvertreter“, mit dem Rücken zu den Volksmassen gewandt, zu den Sesseln der Duma schleichen. Und sollte es sich herausstellen, dass wir aus Petersburg keinen einzigen Abgeordneten schicken, dann werden unsere Wahlmänner ihre Instruktionen einem Sozialdemokraten übergeben, der von einem anderen Ort gewählt wurde. Wie klein auch die sozialdemokratische Dumafraktion sein möge, die Arbeitermassen werden mit uns vereint sein, und jeder unserer Abgeordneten wird, wie ich im Organ der Drucker schrieb, von sich sagen können: „In meinem kleinen Finger habe ich mehr Stimmen des Volkes als zehn adelige oder bürgerliche Abgeordnete zusammen.“

Ich ziehe Schlussfolgerungen:

  1. Um die Gefahr reaktionärer Wahlen, wo eine solche Gefahr besteht, zu bannen, reicht ein Wahlabkommen rein praktischen Charakters vollkommen aus. Um zusammen mit den Kadetten Krusewan zu vertreiben, muss man nicht von einer einheitlichen Wahlplattform phantasieren. Mehr noch: Es besteht keinerlei Notwendigkeit, unsere Kritik an den Kadetten zu mildern.
     
  2. Besser ein Übereinkommen im zweiten als im ersten Stadium. Aber besser ein Übereinkommen im ersten Stadium als Krusewan.
     
  3. Je breiter und tiefer der Wahlkampf, desto leichter eine vorläufige Berechnung der Kräfte, desto geringer das Risiko, falls man ein Übereinkommen bis zum zweiten Wahlstadium aufschiebt.
     
  4. Um zum Teil wenigstens die empörende Ungleichheit des Wahlrechts zu paralysieren und dem Proletariat in der Duma, wenn keine Vertretung, so doch einen Einfluss zu garantieren, der seiner Kraft in irgendeiner Weise entspricht, gibt es für uns nur einen Weg: Ausweitung des Wahlkampfes über die offiziellen ständischen Grenzen hinaus, Druck auf die liberalen Wahlmänner durch die Kraft der rechtlosen und der nur mit halben Rechten versehenen Volksmassen, die um die Fahne unserer Partei vereint sind. Ein Übereinkommen mit den Liberalen auf der Grundlage einer allgemeinen Plattform wäre deshalb unsererseits ein bereitwilliger Selbstmord.

Zuletzt aktualiziert am 4. Dezember 2024