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Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.
Insbesondere anlässlich meines Buches [A] schreibt ein Rezensent, meine Kritik der bürgerlichen Demokratie werde allein unter dem Gesichtspunkt des unmittelbaren Kampfes um die Macht zwischen Bourgeoisie und Proletariat klar und verständlich; da jetzt jedoch in Wirklichkeit der Kampf zwischen bürgerlicher Opposition und Absolutismus stattfinde, „verliere“ meine Kritik „ihren Wert“ in bedeutendem Maße.
Ich weiß nicht, ob hier vom Ton meiner Kritik gesprochen wird – der Rezensent notiert ihre „Leidenschaftlichkeit“ – oder von ihrer Methode: von letzterer, wie es scheint, denn anders wären seine Folgerungen sinnlos. Aber wenn ich gedanklich meine Kritik der bürgerlichen Demokratie von diesem Gesichtspunkt aus rasch noch einmal durchgehe, so komme ich zu dem Schluss, dass der Rezensent unrecht hat. Sage ich etwa meinen Lesern, dass die bürgerliche Demokratie eine der Freiheit feindliche Kraft sei? Rufe ich die Massen auf, der bürgerlichen Demokratie den Rücken zuzukehren? Das ist nicht der Fall! Ich sage in meiner Kritik, dass die bürgerliche Demokratie, wenn sie sich auf die breiten Massen stützen will, ein demokratisches Programm und eine konsequente revolutionäre Taktik entwickeln müsse. Ich kritisiere das Bestreben der Demokratie, den liberalen Semstwo der Gutsbesitzer zur Achse der Opposition zu machen („Do dewjatogo janvarija“) [1]; ich rufe die Demokratie auf, ihr biederes Wohlwollen dem kapitalistischen Liberalismus gegenüber durch ständiges Misstrauen zu ersetzen, ich kritisiere insbesondere das Programm der Oswoboschdentsi vom Standpunkt ihres eigenen Demokratismus aus und stelle meiner Kritik die Aufgabe, die Massen gegen die Idee der Souveränität einer einzigen Person, gegen die zwei Kammern, gegen das stehende Heer und gegen die bürokratische Investitur aufzurufen („Konstituzija ,oswoboschdenzew‘“). [2] Hat diese Kritik vielleicht den Vorabend der Diktatur des Proletariats zur Bedingung? Kann sie vielleicht nicht zur Gänze in den Rahmen des Widerspruchs zwischen dem Russland der Selbstherrschaft und Fronarbeit und dem demokratischen Russland eingespannt werden? Ich zeige auf, dass die Kampagne für die (Erste) Reichsduma unter dem Zeichen einer revolutionären Massenorganisation hätte geführt werden müssen; ich kritisiere die kadettische Agitation, die die Erwartung verbreitete, die Duma werde die Revolution allein auf sich nehmen und ihre grundsätzlichen Aufgaben auf schmerzlosem Wege lösen; ich zeige die Unvermeidlichkeit des Konflikts zwischen Duma und Regierung auf und fordere, dass die Taktik in ihrer Gesamtheit auf der Vorhersehbarkeit dieses Konflikts hätte aufgebaut werden müssen („G. Petr Struve w politike“). [3] Baut sich eine solche Kritik vielleicht auf der Voraussetzung des unmittelbaren Kampfes der Sozialdemokratie um die Macht auf? Bildet den Ausgangspunkt meiner Kritik etwa der Gedanke, dass die vollständige Volksherrschaft eine große Fiktion sei, da in der kapitalistischen Gesellschaft die Souveränität des Volkes lediglich die äußere Form der Exploitation von Klasse durch Klasse ist? Nein, ich gehe von dem weit ursprünglicheren Gedanken aus, dass eine aufrechte und konsequente demokratische Bewegung, die nicht Angst vor der Masse hat und nicht mit ihren jahrhundertealten Feinden herum scharwenzelt, die Fahne der unbeschränkten Volksherrschaft erheben würde. Liegt meiner Kritik etwa der Gedanke zugrunde, dass Miliz und gewählte Gerichte in der gegenwärtigen Gesellschaft notwendigerweise Organe der Klassenherrschaft der Bourgeoisie würden? Nein, ich gehe von dem viel einfacheren Gedanken aus, dass eine umfassende demokratische Erneuerung des Landes ohne Miliz, ohne gewählte Verwaltung und gewählte Gerichte undenkbar ist. Ist das etwa ein Programm der Diktatur des Proletariats? Offensichtlich nicht. Warum ist dann dem Rezensenten meine Kritik ohne den Rahmen eines unmittelbaren Kampfes für eine Arbeiterregierung unverständlich? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es einfach die Folge seiner persönlichen Begriffsstutzigkeit.
Es ist ganz richtig: Aus der Analyse der sozialen und politischen Verhältnisse komme ich zu der Schlussfolgerung, dass ein entscheidender Sieg des demokratischen Russland über das Russland der Leibeigenschaft das Ruder in die Hände des Proletariats legen muss, dass die Realisierung aller grundsätzlichen Losungen der Demokratie durch eine Organisation vollbracht werden wird, die sich unmittelbar auf die städtischen Arbeiter und durch sie auf die ganze plebejische Nation stützt.
Meine Analyse mag falsch und meine Prognose unrichtig sein [B]; vielleicht kräftigt die weitere revolutionäre Entwicklung die bürgerliche Demokratie so weit, dass sie die Macht in ihre Hände zu nehmen und damit das Proletariat in die Opposition zu treiben in der Lage ist. Aber würde eine solche Perspektive etwa nicht von uns eine beharrliche und unversöhnliche Kritik der bürgerlichen Demokratie verlangen – unter dem Blickwinkel ihrer demokratischen und revolutionären Bereitschaft? Ich denke, dass eine solche Kritik nicht nur nicht das Wachstum der oppositionellen Kräfte behindert, sondern ihm im Gegenteil sogar unersetzliche Hilfestellung erweist, weil sie beständig den linken Flügel der Demokratie gegen ihren rechten unterstützt.
Ich begreife vollkommen (wie ich meinem Rezensenten zu beteuern wage), dass ein politisches Hindernis literarisch zu überspringen nicht bedeutet, es praktisch zu überwinden. Ich meine absolut nicht, dass man der bürgerlichen Demokratie, wenn man sie gehörig vor dem Volk beschimpft, die staatliche Macht vor der Nase wegziehen kann. Genau diese Taktik jedoch schreibt mir allem Anschein nach der Rezensent zu, wenn er sagt, dass meine Kritik außerhalb des Rahmens des unmittelbaren Kampfes um die Macht unverständlich sei. Er will wahrscheinlich ausdrücken, dass meine Angriffe deshalb so unverschämt seien, weil ich auf diese Weise die Demokratie beiseite zu schieben und das Feld für die Arbeiterregierung freizumachen hoffte. Aber er irrt sich. Meine „uferlosen Phantasien“ von einer Arbeiterregierung basieren auf viel ernsthafteren Überlegungen, deren Kritik ich – ich wiederhole es – erst noch erwarte. Und was meine Polemik mit den bürgerlichen Parteien betrifft, so kann sie als Bestandteil der gesamten agitatorischen Tätigkeit unserer Partei die bürgerliche Demokratie nur stärken.
Natürlich stärkt sie zugleich auch die Sozialdemokratie, indem sie die Selbstbestimmung des Proletariats fördert. Aber tritt mein sozialistischer Kritiker nicht gerade dagegen auf? Man kann die Geometrie der Beziehungen beider Kräfte in der Periode, in der die Revolution das alte Regime endgültig beseitigt, verschieden darstellen. Aber diese Voraussicht kann unsere Kritik und die Einschätzung der Losungen wie der Taktik der bürgerlichen Demokratie in naher Zukunft nicht verändern – unter der einen Voraussetzung allerdings, dass wir nicht glauben, der Klassenkampf innerhalb der bürgerlichen Nation werde die bürgerliche Revolution verlangsamen. Kämen wir freilich zu einer solchen Schlussfolgerung – derer ich allerdings meinen Rezensenten nicht zeihe – dann müssten wir aufhören, Sozialdemokraten zu sein, weil unter solchen Bedingungen offensichtlich nur die Annullierung einer selbständigen Politik des Proletariats es der bürgerlichen Demokratie ermöglichen würde, die Macht zu erobern.
Selbstannullierung – das ist es, was der Liberalismus von uns fordert.
A. Nascha revoljuzija, SPb 1906, isd. [Edition] N. Glagolewa.
1. Bis zum 9. Januar (20. Dezember 1904 und 20. Januar 1905).
2. „Die Konstitution der Oswoboschdenzy (1906).
3. Herr Peter Struve in der Politik (2. Februar 1906).
B. Ich erwartemit Ungeduld eine Auswahl des zu diesem Thema geschriebenen Artikels Ergebnisse und Aussichten in dem soeben zitierten Buch. Allerdings glaube ich nicht, dass mein verehrter Rezensent sich für diese Arbeit interessieren wird.
Zuletzt aktualiziert am 4. Dezember 2024