Leo Trotzki

Zur Verteidigung der Partei

* * *

5. Die kritischen Sozialisten
von der Kadetten Gnaden


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 212–252.


Mein Widersacher erreicht den Gipfel der Komik, wenn er erklärt, dass

„die Richtung der Sozialdemokratie, die bis in jüngste Zeit beherrschend war, keine Ursache hat, mit den Erfolgen ihrer Taktik zu prahlen und sich mit ihnen uns, den Kritikern gegenüber zu brüsten.“

Ich gebe diese Zeilen kursiv wieder, weil sie eine solche Hervorhebung fürwahr verdienen; ich habe Mühe, diesem Widersacher zu widersprechen – einfach aus dem Grund, weil ich nicht weiß, absolut nicht weiß, mit welchen „Erfolgen“ der Kritiker man die Erfolge unserer Taktik vergleichen müsste. Ich spreche hier vollkommen ernsthaft. Ich erinnere mich an den Herrn Struve, den Führer der „Kritiker“: Natürlich wage ich es nicht, seine Erfolge in Zweifel zu ziehen – aber soweit ich mich entsinne, bestehen diese Erfolge in einem absolut zweitrangigen Amt. Um das zu tun, was Herr Struve tut, braucht man kein „kritischer Sozialist“ zu sein, es reicht völlig aus, Herr Kutler zu sein. Herr Tugan-Baranowski? Herr Bulgakow? Das sind doch wiederum Kadetten. Wer bleibt dann noch? Herr Prokopowitsch und noch einige Journalisten von Nascha Schisn? Wo muss man aber ihre politischen Erfolge suchen? Noch vor ganz kurzer Zeit hielt sich diese Gruppe von Kritikern im „Bund der Befreiung) auf, und als der sich dann in die kadettische Partei transformierte, trat sie aus dieser aus. Es ist eine sehr lustige Geschichte, wie scharfgesichtige kritische Hähne aus den Eiern des „Bundes der Befreiung“ bürgerliche Gänse ausbrüteten – und als sie fertig gebrütet hatten, selbst erschrocken mit den Flügeln klatschten, auf eine literarische Hühnerstange flogen, die Federn aufplusterten und sich bislang nicht von ihr herunterwagten. Hat Herr Prokopowitsch diese Erfolge der kritischen Sozialisten bei der Schaffung einer bürgerlichen Partei im Sinn? Weshalb rannte er dann aber selbst vor diesen Erfolgen davon? Nehmen wir jedoch an, dass die Flucht Herrn Prokopowitschs vor den Erfolgen der Taktik des „Bundes der Befreiung“ eine Sache seines persönlichen Geschmacks ist, und lassen das beiseite. Doch fragen wir uns bei all dem: Kann man unsere sozialistische Arbeit in den Reihen des Proletariats mit der Arbeit der „Sozialisten“ vergleichen, die sich mit dem Rücken zum Proletariat wendeten und sich an Dienstleistungen für die Semstwo-Opposition machten?

Hätte die sozialdemokratische Intelligenz sich seinerzeit diese primitive „kritische“ Taktik zu eigen gemacht, gäbe es jetzt mehr als 20.000 oder 30.000 Kadetten, aber das politische Bewusstsein des Proletariats stünde auf einer unvergleichlich niedrigeren Stufe. Herr Prokopowitsch wird vielleicht einwenden, er habe nicht diese Arbeit im Sinn, die im Grunde weder kritisch noch sozialistisch, sondern einfach vulgärer Liberalismus ist. Was aber hat er dann im Sinn? Was genau stellt er unserer Partei entgegen?

Über den Teil der Kritiker, die politisch keinen rechten Platz gefunden haben, schrieben wir in unserem Vorwort:

„Ohne Partei, ohne Programm, ohne Taktik, ohne Einfluss, ohne Namen, „ohne Titel“, fanden sie abseits bei den Kadetten an einem literarischen Katzentischchen Platz, nähren sich von den Brosamen von der Kadetten Tisch, meckern gegen ihre liberalen Mäzene und kritisieren zugleich überheblich die Sozialdemokratie in ihrem revolutionären Utopismus.“

Nachdem Herr Prokopowitsch einen Teil dieses Satzes zitiert und um der besseren Wirkung willen noch rasch hinzu geflunkert hat, er habe „die Verbalinjurien ausgelassen“, urteilt er folgendermaßen:

„Wir seien kraftlos; wer ist dieses „Wir“? Eine politische Partei? Aber eine politische Partei der Revisionisten existiert nicht in Russland. Eine literarische Richtung? Aber inwiefern hat eine literarische Richtung eine politische Taktik? Offensichtlich nimmt uns Herr Trotzki für etwas, was wir niemals waren. Natürlich kann eine nicht existierende politische Partei weder Kraft noch Einfluss besitzen.“ [F]

Das ist alles sehr überzeugend und ausdrucksvoll. Aber erlauben Sie: Sie sagten uns doch soeben, dass die Sozialdemokraten keine Ursache hätten, sich mit den Erfolgen ihrer Taktik gegenüber den Kritikern zu brüsten. Jetzt zeigt es sich, dass es bei den Kritikern selbst nicht nur keine Erfolge gibt, sondern auch keine Taktik, und dass nicht einmal ein Bedürfnis danach besteht. Wie es Ihnen beliebt – doch ist das seltsam; offensichtlich hat die Sozialdemokratie, wie klein ihre Erfolge auch sein mögen, genügend Grund, sich wenigstens mit dem Umstand zu brüsten, dass sie nicht die Position des Revisionismus einnahm, die unter den Bedingungen von Ort und Zeit nicht nur keine Erfolge erlaubt, sondern nicht einmal irgendein Bedürfnis nach Erfolgen zeigt. Die Sozialdemokratie allerdings, meine Herren, ist keine Zeitungsredaktion und kein politischer Familienklub, sie ist eine Partei.

Und deshalb ist es dummes Zeug, wenn Sie fragen: „Inwiefern hat eine literarische Richtung eine politische Taktik?“ Sprechen wir etwa von einer Richtung auf dem Gebiet der literarischen Ästhetik? Nein, wir sprechen von einer politischen Richtung, die ihren literarischen Ausdruck in Ihnen sucht. Und wenn diese literarisch-politische Richtung unter den Tatsachen der Realität keinen Platz gefunden hat, so heißt das nur, dass sie irreal ist. Oder treffen Sie selbst vielleicht irgendwelche Präventivmaßnahmen, damit aus der Berührung Ihrer literarischen Richtung mit der lebendigen Realität ja nicht etwas Reales entstehe? Seltsamer politischer Malthusianismus! Wurde in diesem Falle das Erscheinen von Bes Saglawija etwa deshalb eingestellt, weil sein Erfolg den Revisionismus in eine politische Kraft zu verwandeln drohte?

Nein, meine Herren „literarische Richtung“! Keine Minute nahm ich Sie „für etwas, das Sie niemals waren“ – ich nahm Sie für ein Blatt Zeitungspapier, nicht mehr und nicht weniger. Herr Prokopowitsch gibt jedoch zu verstehen, dass dieses Blatt Zeitungspapier irgendeine größere „literarische“ Bedeutung besitze. „Wenn wir auch als literarische Richtung schwach und ohne Einfluss sind“, schreibt er, „dann natürlich ist unsre Lage äußerst schwierig.“ Wir werden den Einfluss von Nascha Schisn, vor allem in der vor-„konstitutionellen“ Periode ihrer Existenz, natürlich nicht negieren, wir nehmen jedoch an, dass das ein politischer, kein literarischer Einfluss war und als solcher völlig im Dienst des bürgerlichen Liberalismus stand. In gewissem Sinn hatte Nascha Schisn ihre „Taktik“ – die Taktik der Sammlung der Intelligenz um die Semstwo-Fahne. In der Periode der ersten Wahlen war Nascha Schisn das Organ der kadettischen Wahlagitation. All das bedeutet, dass die Herrn kritischen Sozialisten objektiv nur insoweit Einfluss besitzen, als sie Liberale sind, dass sie sich in der Tat von den politischen Brosamen von der Kadetten Tisch nähren. Die Liberalen duldeten und dulden sie gnädig in der Sphäre ihres politischen Einflusses. Weshalb? Deshalb, weil der „Sozialismus“ des Herrn Prokopowitsch ihnen auf der linken Seite Deckung bot; dieser „Sozialismus“ nämlich hat seine kritische Spitze ganz und gar gegen die Sozialdemokratie gewendet, nicht jedoch gegen den Liberalismus.

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Anmerkung

F. kursiv von uns.


Zuletzt aktualiziert am 14. November 2024