Leo Trotzki

 

Über Arthur Schnitzler

(18. Mai 1902)


Nach Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S. 62–74, verglichen mit dem russischen Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I

Es fließen ineinander Traum und Wachen,
Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.
Wir wissen nichts von anderen, nichts von uns:
Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.
Schnitzler

Arthur Schnitzler gewinnt in unserer Literatur allmählich ein festes Profil. Seine Trilogie erschien in drei verschiedenen Ausgaben, von denen eine wirklich gar nichts taugt; aber so sind ja allgemein die Übersetzungen unseres Vaterlands. Im Dezember des vergangenen Jahres 1901 brachte der Mir Boschij eine Übersetzung von Schnitzlers Schauspiel in drei Akten Freiwild, das 1896 geschrieben wurde. In diesem Jahr stellte dieselbe Zeitschrift ihren Lesern Schnitzlers große Erzählung Sterben vor, die schon sieben Jahre zuvor im WestnikInostrannoj Literatury (Bote der ausländischen Literatur) veröffentlicht worden war. Neben den Übersetzungen, die über mehrere Zeitschriften verstreut sind, besitzen wir eine Ausgabe der Novellen Schnitzlers. Kürzlich erschienen als Büchlein seine vier Einakter Lebendige Stunden, von denen drei schon vorher als Übersetzungen im Feuilleton der Moskauer Zeitung Kurier erschienen waren. Der Wiener Schriftsteller hat also Ansehen bei uns erworben.

Arthur Schnitzler ist für europäische Verhältnisse ein noch junger Autor: er ist vierzig Jahre alt (1862 geboren). Wie unser Tschechow ist er seiner Ausbildung nach Arzt und übt diesen Beruf zum Teil auch aus. Wenn wir dem hinzufügen, dass Schnitzler ein sehr talentierter Schriftsteller ist, so ist dies wohl auch alles, was ihn mit Tschechow verbindet. Eine große Popularität umgibt Schnitzler neuerdings in Europa.

Wir begannen im letzten Jahr auf den begabten Wiener aufmerksam zu werden, zur Zeit der berühmten Affäre um den tapferen österreichischen „Leutnant Gustl“, dessen Stolz Schnitzler mit seiner Feder verletzt hatte.

Vielleicht erinnern Sie sich, wie vortrefflich der verstorbene G.I. Uspenskij das Berlin der Kriegszeit charakterisiert.

„Auf Schritt und Tritt, in jedem Augenblick sieht man schwere Degen, Sporen, Helme, zwei Finger an der Mütze, unter der im steifen Kragen die selbstzufriedene Physiognomie des Siegers hervorschaut: hier wird salutiert, da ist Wachablösung, dort fuchtelt jemand wie verrückt mit dem Gewehr und entfernt sich sodann stolzen Blickes ... In den Auslagen der Geschäfte findet man den Sieger in vielerlei Gestalt: wie er dem Franzosen den Bauch aufschlitzt und dann, nach Hause zurückgekehrt, seine Familie umarmt; die Backenbärte der Helden sind ganz und gar nicht nach der richtigen Seite gekämmt. Bei manchen Figuren ist allein das Gesicht ein Arschin groß (aus Marmor oder Metall), wobei der Schnurrbart einen wie Stierhörner aufspießen und auf der Stelle töten möchte [...] Aber das Wesentlichste ist der feste Glaube an die eigene Sache, die Überzeugung, dass Stierhörner anstelle von Schnurrbärten eine reinere Schönheit darstellen als die der schönen Helena.“

In Wien ist das Bild nicht viel anders. Die gleichen „Stierhörner“ statt Schnurrbarte (nur ein bisschen dünner) und die gleiche Überzeugung von ihrer absoluten Unwiderstehlichkeit. Die kleine Bombe Schnitzlers rief in diesem Milieu eine schreckliche Erschütterung hervor. Die Empörung hatte kein Ende. Der Ehrenrat lud den unverschämten Schriftsteller, der im Offiziersrang stand, vor, damit er Rede und Antwort stehe. Schnitzler erschien nicht. Er musste angenommen haben, dass der Rang eines österreichischen Offiziers seinen Trägern keineswegs die Rechte und Pflichten der Literaturkritik auferlegt. Die Schamlosigkeit des Schriftstellers wurde bestraft; man erkannte ihm den Offiziersrang ab, den er nicht zu ehren gelernt hatte.

Sicher irren wir nicht, wenn wir sagen, dass dieses so geräuschvolle Zusammenprallen der „natürlichen Rechte“ des Künstlers mit den despotischen Forderungen einer Kaste bei uns sogleich die Chancen des Wiener Schriftstellers steigen ließ. Wir sind vielleicht noch weiter gegangen und haben die Weltanschauung des jungen Autors mit uns sympathischen bürgerlichen Farben ausgemalt. Wir haben uns geirrt. Schnitzler ist ein Ästhet und nichts als ein Ästhet. Wenn er gegen die Korporationsehre der Leute vom Schlage des Leutnant Gustl auftrat, so vor allem als Künstler: es ist für ihn nicht akzeptabel, dass die prätentiösen Stierhorn-Schnurrbärte nur Stierhorn-Schnurrbärte sind und keinerlei Schönheit in sich tragen. Man nehme zum Beispiel eben diesen Leutnant Gustl mit seiner herrlichen Verachtung für die Zivilisten, für all jene kleinkarierten „Sozialisten“, die „am liebsten gleich’s ganze Militär abschaffen möchten; aber wer ihnen dann helfen möcht’, wenn die Chinesen über sie kommen, daran denken sie nicht. Blödisten!“ Schnitzler schickt den tapferen Leutnant auf einen Spießrutenlauf durch ein Spalier humoristischer Betrachtungen, in denen sich die Hitzigkeit des jungen Kriegers mit den Vorstellungen der Kastenehre und der sehr „zivilen“ Feigheit angesichts des Todes vermischen.

Viel ernster werden die Fragen der Kastenehre in dem früher geschriebenen Schauspiel Freiwild berührt. Da ist der Leutnant Vogel, der mit allen Zivilisten „mit leichter, etwas ironischer Herablassung“ spricht. Da ist der Oberleutnant Karinski, der schon in der bloßen Existenz des „zivilen“ Teils der Welt einen Anschlag auf seine Offiziersehre sieht, der spricht, um zu beleidigen, und beleidigt, um zu töten. Der beste unter ihnen ist Oberleutnant Rohnstedt, der nur in den aller pathetischsten Augenblicken fähig ist, sich ein wenig über den Horizont des Korporationsgeistes zu erheben („Lassen Sie uns einfach als Menschen zueinander sprechen“, schlägt er vor). Das sind die Vertreter der Kaste. Das Duell ist höchste moralische und philosophische Instanz; der Pistolenschuss ist Argument – so ist die Atmosphäre. Das absurde, unsinnig grausame Töten ist tragisches, aber natürliches Finale.

Es scheint, die Fesseln der soldatischen Kastenmoral sind für Arthur Schnitzler das einzige gesellschaftliche Objekt seines Protestes als Künstler. Wenn Schnitzler diesem Problem zwei Werke widmet, so deshalb, weil es zu deutlich jenes Milieu beherrscht, in dem er lebt und atmet. In allem Übrigen, was aus seiner Feder fließt, geht er nicht über individuell-psychologische Probleme hinaus.

Halbe Liebe mit den darauf gedeihenden ästhetischen Kombinationen; Kunst als Selbstzweck im Dienste der Schönheit; Furcht vor dem Tode, die allen Freuden des Daseins eine besondere, fast krankhafte Intensität verleiht – das ist die Dreieinigkeit des künstlerischen Glaubensbekenntnisses von Arthur Schnitzler. Und wenn dies ausreicht, das dekadente Kunstschaffen zu kennzeichnen, dann kann man die Behauptung von Bartels bejahen, wonach Arthur Schnitzler unzweifelhaft ein Dekadentist.

Schnitzler betrachtet das Leben mit den Augen eines feinnervigen, kultivierten „Bonvivant“: er sucht Genüsse, vor allem Genüsse. Aber er ist ein Mann von hoher, wenn auch widernatürlicher Kultur des Geistes. Auf die sogenannten „einfachen“, „gesunden“ Freuden des kleinbürgerlichen Herzens und des kleinbürgerlichen Magens reagiert er mit dem legitimen Ekel des aristokratischen Ästheten (s. z. B. Paracelsus in der Trilogie). Mit dem Mystizismus hat er längst Schluss gemacht und sich kritisch folgerndes Denken angeeignet. Er glaubt nicht an die geheiligten Grundpfeiler der bürgerlichen Zivilisation, weil er es versteht, sie mit Abstand zu betrachten und ihres aus Egoismus und Heuchelei gewebten Paraderocks zu entkleiden. Er kennt den Wert der verlogenen kleinbürgerlichen Tugend, denn er hat den verseuchten psychologischen Grund bloßgelegt, der sie hervorbrachte. Aber er nimmt nicht den Kampf auf, weder gegen den Mystizismus, noch gegen die bürgerlichen Fundamente oder die kleinbürgerliche Tugend. Wozu?

„Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.“ Und Schnitzler ist „klug“. Er möchte sein Spiel angenehm und schön spielen, das ist alles. Andere Aufgaben stellen sich ihm nicht. Zum Leben steht er wie zu der Geliebten und zur Geliebten wie zum Leben nur recht viel Genuss, Freude, Schönheit! Möglichst viele kapriziöse Variationen auf immer das gleiche alte, aber nie seinen Reiz verlierende Thema der Liebe! Wozu unerfüllbare Forderungen erheben und nicht zu beantwortende Fragen stellen??! „Das hübscheste Mädchen Frankreichs kann nicht mehr geben, als es hat.“ Genauso ist das Leben. „Wer es weiß, ist klug.“

Und dann – vergesst den Tod nicht, den Tod, der unseren Genüssen einen besonderen tragischen Glanz gibt, der sie noch zauberhafter und wahnsinnig begehrenswert macht! Durst, unstillbares Verlangen nach den Zärtlichkeiten einer Frau und dem Rausch der schöpferischen Ekstase – „das ist eine Welt, das ist deine Welt!“

Ist dies nun die Philosophie des Quietismus? Ja, solange vom Schicksal der Nation, der Gesellschaft, der Menschheit die Rede ist. Aber in den vier Wänden der persönlichen Existenz erklärt diese „Metaphysik“ eine äußerst lebendige Aktivität. Zünde die Zigarre deines Lebens von zwei Seiten an, lehrt sie die Eingeweihten. Runde den Besitz deiner Gefühle ab! Fürchte dich nicht vor begrenzenden Fiktionen, die nur für Sklavenseelen Wirklichkeit haben! Moral, Recht, Religion? Spiel, einzig und allein Spiel! Noch einen Schritt nach unten, und wir betreten das Reich des Lumpenproletariats und stimmen ein in seinen Schlachtruf „Plündert das Leben!“. Einen Schritt nach oben, und wir sind befreit von allem Menschlich-Allzumenschlichen und erweisen uns als die Geisteskinder Zarathustras. Das ist kein zufälliges Zusammentreffen: hier sieht man den Finger des sozialen Schicksals.

Das ganze Werk Schnitzlers spiegelt die Haltung des gebildeten „Aristokraten“, des europäischen Intellektuellen. Wer ist der Held der Schnitzlerschen Werke? Der Schriftsteller, der Schauspieler, der Maler, der Professor, der Schriftsteller und nochmals der Schriftsteller; kurzum: eine Persönlichkeit, der die besondere Beschaffenheit ihrer Gehirnwindungen das „Recht“ gibt, mit dem gleichen intellektuellen und ästhetischen Ekel auf die Gipfel der Plutokratie wie in die sozialen Niederungen zu blicken. Die einen wie die anderen sind ungeachtet ihrer Gegensätzlichkeit zu grob, zu konkret in ihren gesellschaftlichen Forderungen, um sich zur raffiniert-wollüstigen Sicht des Lebens als „Spiel“ aufzuschwingen (oder zu ihr hinabzustürzen?). Die antimoralische Moral Nietzsches ist die Philosophie der gleichen „Intellektuellen“, nur widernatürlich verzerrt im Hohlspiegel eines kranken Bewusstseins.
 

II

Das Leben ist ein Schaukelspiel unbeständiger Kräfte. „Gut und böse und Lust und Leid und Ich und Du“, hätte Schnitzler mit den Worten Zarathustras sagen können, „farbiger Rauch dünkte mich’s vor schöpferischen Augen.“ Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ein Spitzengewebe aus Traumvisionen. Die Wahrheit? Wo ist sie? Wozu wäre sie nütze? Es gibt etwas Wichtigeres als die Wahrheit, sagt uns Schnitzler-Paracelsus, das ist der Reiz, der dem Augenblick genügt. „Nur der Augenblick ist unser – und der flattert schon davon. Bedenkt dies Eine nur: dass jede Nacht uns zwingt hinabzusteigen in ein Fremdes, entledigt unsrer Kraft und unsres Reichtums, und alles Lebens Fülle und Verdienst von weit geringerer Macht sind als die Träume, die unserm willenlosen Schlaf begegnen.“ (Paracelsus)

Dieser Philosophie tritt mit glühendem Protest der Waffenmeister Cyprian entgegen, der den kleinbürgerlichen Rationalismus verkörpert. Er ist überzeugt, fest überzeugt, dass Paracelsus' Reden eine Verleumdung des Universums sind. Traumvisionen? Aber sie suchen uns doch nur in der Nacht auf; und am Tage, wenn Gottes Sonne scheint, ist alles so klar, so sicher. Dieses Haus – es geht nun schon drei Jahrhunderte von Generation zu Generation über und gehört jetzt ihm, Cyprian. Ist das nicht etwas Sicheres? Ist er, Cyprian, nicht etwa ein guter Meister, ein guter Bürger und ehrenvolles Mitglied des Baseler Magistrats? Oder Justina, ist sie ihm nicht eine Frau, dankt sie nicht täglich dem Himmel für ihre Wahl? „Ja! Euresgleichen“, sagt er zu Paracelsus, „möchte freilich gern die Grenzen löschen zwischen Tag und Nacht und uns in Dämmerschein und Zweifel stellen.“ Aber Cyprian ist zu tief der Wirklichkeit verhaftet. Er fürchtet sich nicht vor Erinnerungen oder Träumereien. Er und seine Frau leben nur in der Gegenwart, der klaren, deutlichen, untrügerischen Gegenwart ... Wirklich?

Um die ganze Gespenstigkeit der Beziehungen aufzudecken, die sich im Hause Cyprians gebildet haben, greift Schnitzler – wie wir sehen werden, nicht zum ersten Mal – zu einem heroischen Mittel: der Hypnose. Unter der suggestiven Einwirkung Paracelsus’ behauptet Justina, eine Nacht in den Armen des jungen Adligen Anselm verbracht zu haben. Ihre Worte sind so überzeugend, dass Paracelsus selbst zu schwanken beginnt: was, wenn er diese Wahrheit nur in ihrem Herzen wachgerüttelt hat? Der Ehemann ist entsetzt ... Eine neue Seance. Dem Hypnotiseur gehorchend, beginnt Justina die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Sie erzählt, wie leidenschaftlich sie Paracelsus geliebt hat, der damals noch der Student Hohenheim war, wie lange sie von diesen Erinnerungen lebte, wie sehr sie in ihren Träumen lebt. Sie, die ehrenwerte und scheinbar so ausgeglichene Frau des Waffenmeisters, hat in Wirklichkeit noch nicht mit Anselm gesündigt, aber sie war so nahe, so nahe daran. Unter der ersten Suggestion durch Paracelsus verwandelte sich für sie nur das in Wirklichkeit, was in ihr als nahe Möglichkeit lebte. „Es fließen ineinander Traum und Wachen, Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends. Wir wissen nichts von anderen, nichts von uns.“

Der vergessene Journalist Rademacher (Lebendige Stunden: Die letzten Masken) ruft im Sterben seinen ehemaligen Freund zu sich ins Krankenhaus, den berühmten Dichter Weihgast, um ihm eine ganze Salve von Beleidigungen und Enthüllungen ins selbstzufriedene Gesicht zu schleudern, um ihm die Leere seiner Seele deutlich zu machen, seine Ohnmacht als Künstler, und um ihm zu sagen, dass sein trügerischer Ruhm zusammen mit den Zeitungsblättern verschwinden wird, die ihm Lob singen, und dass schließlich sein Familienglück ein Mythos ist, denn seine Frau war die Geliebte Rademachers. Der zu dem Wiedersehen erscheinende Dichter wirft die Maske der Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit ab und zeigt sich als kläglicher, unglücklicher Mensch. Die schrecklichen Worte der Entlarvung ersterben auf den Lippen Rademachers ... Was wissen wir über die anderen?

Professor Pilgram (Die Gefährtin) wusste von dem Verhältnis seiner Frau mit Doktor Alfred Hausmann. Da er ein echtes Gefühl vermutete, bemühte sich der Professor mehr als einmal, seiner Frau die Freiheit zu geben, und wartete nur auf das erste Wort von ihr. Nur zufällig, nach dem plötzlichen Tod der Frau erfährt er, dass Hausmann verlobt ist, dass die verblichene „Gefährtin“dies wusste, dass es kein echtes Gefühl gab, dass alles auf ein Liebesspiel hinauslief. Im Laufe vieler Jahre betrog sich der Professor selbst hinsichtlich seiner Frau, um sie weiter zu lieben und um ihretwillen zu leiden. Wie viel Energie wurde verbraucht für den Traum des Herzens, für die Illusion! ... Was wissen wir von den anderen? Was können wir von ihnen wissen? Nichts wissen wir! Wollen wir wenigstens wissen?

Darauf antwortet uns der Held des „graziösen“, um nicht zu sagen, oberflächlichen Werkes, mit dem Schnitzler so erfolgreich debütierte (Anatol). Anatol liebt seine Cora keineswegs platonisch, aber auf jeden Fall heiß und innig, was ihn nicht daran hindert, im zweiten Dialog Bianca zu lieben, im dritten auf der Szene Annie und hinter der Szene eine Namenlose, im vierten Ilona, von der er für eine Stunde fortläuft, um sich im Vorbeigehen trauen zu lassen. Vergessen Sie nicht, dass wir nichts von den Zwischenakten wissen ... Mit einem Wort, es ist die gleiche, allen Helden Schnitzlers gemeinsame „Liebe“, um deren rein sexuelle Basis oberflächlich ästhetische Verzierungen drapiert werden. Hier spielen keinerlei psychologische Momente höherer Ordnung mit. Wenn die Frau für einige Helden Schnitzlers nicht den „Inhalt des Lebens darstellt, so war sie in einem gewissen Sinne,“ sagt Professor Pilgram, „mehr als der Inhalt – der Duft [...] aber gerade der Duft musste sich natürlich verlieren.“Daher jener Reigen, in dem die wunderbare namenlose Nachfolgerin Coras ihren Platz an Ilona abtritt. Wie soll man sich nicht wieder an Zarathustra erinnern: „Zweierlei will der echte Mann: Gefahr und Spiel. Deshalb will er das Weib als das gefährlichste Spielzeug.“

Nun also, Anatol liebt seine Cora. Er will herausfinden, ob sie ihn betrügt. Hat sich denn irgendeine Frau mit den Worten „Ich habe dich betrogen“ an den Geliebten gewandt? Aber schon ist das Mittel gefunden: die Hypnose! Anatol hat sie schon mehr als einmal bei anderen angewandt, zum Vergnügen. Nun versucht er sie, dem Rate seines Freundes folgend, an seiner Geliebten, um das ihn quälende Rätsel zu lösen. „Man könnte ein Zauberer sein,“ruft er begeistert aus, „man könnte sich ein wahres Wort aus einem Weibermund hervor hexen“ Aber als Cora schon in hypnotischen Schlaf versunken ist, bringt Anatol nicht den Mut auf, die entscheidende Frage zu stellen. „Tage- und nächtelang quälst du dich,“ sagt ihm sein Bekannter, der scharfsinnige Max, „dein halbes Leben gäbst du hin für die Wahrheit, nun liegt sie vor dir, aber du bückst dich nicht, um sie aufzuheben! [...] weil dir deine Illusion doch tausendmal lieber ist als die Wahrheit.“ Wir wissen nichts, wir wollen nichts über die fremde Seele wissen. Aber was wissen wir über unsere eigene?

Pauline und ihr Verehrer (Lebendige Stunden: Die Frau mit dem Dolche) stehen in einer Gemäldegalerie vor einem Bild aus dem XVI. Jahrhundert, das die „Frau mit dem Dolche“ darstellt, die nach einer Liebesnacht ihren zufälligen Geliebten getötet hat. Der Ehemann und Maler hat, getroffen von der tragischen Schönheit der Geste, sogleich die Gemahlin auf die Leinwand transponiert. Pauline unterwirft sich der Macht des Vergangenen, das sie beinahe hypnotisiert. Sie ist ja auch die Frau eines Malers und Schriftstellers, der auf ihr Leben wie auf eine Quelle ästhetischer Eindrücke blickt, wie auf Material für sein Schaffen. Auch sie hat einen Verehrer, der vergeblich um ein Wiedersehen fleht ... Vergeblich – bis zu diesem Augenblick. Aber jetzt, da das ferne, fremde Vergangene in einem nahen Traumbild mit ihrer eigenen Gegenwart zusammenfließt, sagt sie: „Ich komme!“ Wusste sie vor einer halben Stunde etwas von dieser Entscheidung? Das ganze Leben ist Spiel. Wirklichkeit und Phantasiegespinste verflechten sich in unerwarteten, wundersamen Kombinationen. Wie soll man sich in ihnen zurechtfinden?

Eine höhere Verkörperung erreicht dieser Gedanke in der dramatischen Groteske Der grüne Kakadu. In den anderen Werken Schnitzlers dient die Seele des Einzelnen als Rahmen für das „Spiel“; in Der grüne Kakadu ist die Arena der gesellschaftlichen Kollisionen das die Bastille erstürmende Paris. Schnitzler materialisiert sozusagen das Spiel des Lebens, indem er es aus der Seele auf den öffentlichen Platz verlegt. Dies scheint das einzige Werk Schnitzlers zu sein, in dem wir das Leben der Masse sehen, die Stimmen der Straße hören, gesellschaftliche Zusammenstöße beobachten. Aber auch hier beschäftigen die Ereignisse die Aufmerksamkeit des Künstlers nicht wegen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung; sie sind nur die geeignete Leinwand, auf die effektvolle Kombinationen von Spiel und Wirklichkeit projiziert.

Der Wirt der Kneipe Zum grünen Kakadu, Prospère, ist ein ehemaliger Theaterdirektor. Die Schauspieler und Schauspielerinnen seiner früheren Truppe spielen in der Kneipe Mörder, Diebe, Prostituierte und Zuhälter. Der Hofadel kommt dorthin mit seinen abgestumpften Nerven, um sie sich in der Gesellschaft der ausgekochtesten „Lumpen“ von ganz Paris auf zu kitzeln. Prospère nennt die Prostituierten seiner Kneipe Herzoginnen und verkehrt mit berühmten Besuchern wie mit Clochards. Er wirft ihnen Grobheiten an den Kopf, den giftgetränkten Hass des Kleinbürgers auf den Aristokraten, und sie nehmen diese Ausfälle mit einem Lächeln hin, denn es sind ja nur pikante „Späßchen“, während auf der Straße dieselben Worte ernst genommen werden. Hinzu tritt ein Kommissär, der in den Schauspielern echte Verbrecher vermutet. Als er einen Clochard trifft, hält er ihn für einen Schauspieler. Der aus dem Gefängnis entlassene Gauner bekommt in Prospères Truppe den noch warmen Platz eines Schauspielers, der wegen echten Diebstahls ins Gefängnis geraten ist. Der Besucher aus der Provinz hält die „Schauspielerin“ für eine Dame der Gesellschaft und die Marquise von Lansac für eines von Prospères fröhlichen Mädels. Im letzten Falle irrt er gar nicht einmal so sehr ... „Spiel geht in Wirklichkeit über, Wirklichkeit in Spiel.“ Hier im Grünen Kakadu „spielt“ man zur Belustigung der Aristokraten Aufstand, während dort auf der Straße die Volksmassen schon die Bastille erstürmt und das Haupt Delaunays auf eine Stange gespießt haben. In der Kneipe werden blutige Monologe deklamiert, begleitet vom Straßenlärm der revoltierenden Menge. Der Schauspieler Henri, der einen Mörder aus Eifersucht spielt, tötet wirklich den Liebhaber seiner Frau, den Herzog von Cadignan; und die von der Straße eingedrungene Menge begrüßt zusammen mit den Schauspielern die Ermordung des Aristokraten mit Hochrufen auf die Freiheit ... So versucht Schnitzler kühn aus einer Reihe von Quiproquos, die einem Vaudeville Ehre gemacht hätten, ein Drama von der größten gesellschaftlichen Umwälzung zu schaffen. Das vaudeville-ähnliche Gemisch von Spiel und Wirklichkeit, das sich in der Kneipe „Zum grünen Kakadu“ zusammenbraut, ist nur ein Echo der Ereignisse auf den Straßen von Paris. Oder eher umgekehrt. Die Bewegung der aufgebrachten Masse, der Straßenkampf, das ist das gleiche atemberaubende Schauspiel, nur in größerem Maßstab. Wir mussten die Meinung einer Persönlichkeit von hohem künstlerischen Geschmack anhören, nach der in diesem Werk ein Pinselstrich spürbar sei, der Shakespeares würdig gewesen wäre. Das mag sein. Aber es ist ein Shakespeare des dramatischen Feuilletons. Wie viel Kühnheit oder, genauer gesagt, Zynismus ist nötig, um sich eine solche „übermenschliche“Sicht der grandiosen Ereignisse der europäischen Geschichte zu gestatten. [A] Das ist eine Schmähung der Menschheit und ihrer Geschichte.

Das Leben ist Spiel. Und der Tod? Oh, Schnitzler weiß nur zu gut, dass der Tod nicht zu spielen beliebt. Die Angst vor dem Tode durchzieht das ganze Werk Schnitzlers wie ein Ätherhauch. Aber in furchtbarer Weise kondensiert, stellt dieses Gefühl die Grundlage der Novelle Sterben dar.

Sie erinnern sich an die Erzählung von Edgar Poe (Die Grube und das Pendel), die die Methoden der Hinrichtung durch die Inquisition schildert. Das unglückliche Opfer ist auf einem Bett fest gebunden. Von der Zimmerdecke senkt sich langsam ein pendelndes Messer, das das Ausmaß seiner Schwingungen ständig verlängert und beschleunigt. Strich für Strich, Zoll und Zoll nähert sich die stählerne Sichel dem Opfer, langsam und unabwendbar, und quält dessen Ohren mit drohendem Pfeifen. Das Opfer wartet. Es wartet und fixiert mit geschwollenen Augen die glänzende Klinge.

Machen Sie jetzt dieses Pendel unsichtbar, aber nicht weniger unerbittlich, dehnen Sie die wahnsinnigen Qualen des Wartens auf ein Jahr, ein ganzes Jahr aus, stellen Sie neben den Verurteilten seine Geliebte, die keine Möglichkeit hat, ihm zu helfen – und Sie haben den Inhalt der Novelle Sterben.

Dem jungen schwindsüchtigen Schriftsteller bleibt nicht mehr als ein Jahr zu leben. Er und seine Geliebte wissen darum. Und nun verbringen sie in Erwartung des sich ständig nähernden Todespendels ein ganzes Jahr, Tag für Tag, Monat für Monat.

Mit erstaunlich feinen Nuancierungen schildert Schnitzler alle Schwankungen ihrer Stimmung, das Kommen und Gehen der Hoffnung, alle Geistesanstrengungen dieses unermüdlichen Sophisten, das Gefühl mit dem Gedanken der Unausweichlichkeit des Unausweichlichen zu versöhnen. Was für ein feines Gewebe von Überlegungen spinnt der Verstand aus sich selbst, um den grausam wütenden Lebensinstinkt zu umgarnen! Aber es genügt der Ausbruch eines unkontrollierten Gefühls, und von dem logischen Gespinst bleibt keine Spur.

Im Grunde ist doch die ganze Welt einzig und allein von Todeskandidaten bevölkert! Das ist eine der Finten des wachsamen Sophisten. Eine Finte? Nur eine Finte? Ist es in der Tat nicht so? Schwingt nicht über uns allen, ja allen, die blinde Sichel des Todes? Immer näher, näher, näher. Wir wissen nur nicht, wann sie ihren letzten, fatalen Streich ausführt. Aber doch wird es geschehen, wird es geschehen ...

Mit welcher Ausdruckskraft gab Böcklin diesen Alptraum des Wartens in seinem Selbstporträt wieder! Den Pinsel in der Hand, lauscht der Künstler im Augenblick der schöpferischen Ekstase der Melodie, die ein Skelett vor seinem Ohr auf der einzigen Saite einer Geige spielt. Das Symbol ist in entsetzlicher Weise klar. Das äußere, launenhafte, vielgestaltige, verlockende und abstoßende Leben fließt in den Momenten der schöpferischen Arbeit wie in den banalen Begegnungen des banalen Alltags dahin, aber das Bewusstsein lebt ewig ein doppeltes Leben, indem es mit mystischem Entsetzen der eintönigen Melodie des Todes lauscht. Noch ein Strich des Bogens, vielleicht noch zwei, drei, die gespannte Saite schwingt zum Schluss in einem Gefühl angenehmer Mattigkeit und reißt ... Dunkelheit ... Nichts.

Die Todesangst erscheint als unmittelbarer „Held“ einer kleinen Erzählung Schnitzlers: Um eine Stunde. Es ist eigentlich keine Erzählung, sondern ein philosophisches Märchen, zu künstlich, um künstlerisch zu sein. Aber sie ist charakteristisch für Schnitzler, und wir wollen sie lesen. Eine junge Frau stirbt. Ihr Geliebter, als dessen Frau sie drei Jahre gelebt hat, bittet den Todesengel, seinem Opfer wenigstens noch eine Stunde Lebens zu schenken. Erst jetzt begreift er, wie er die Tote geliebt hat; sollte sie von ihm gehen, ohne davon zu erfahren? Der Todesengel antwortet: „Was du von mir verlangst, kann ich nur von einem anderen Menschen für dich erbitten, dem eben noch eine Stunde des Lebens und nicht mehr beschieden ist.“ Die Zeit hält für die Kranke in ihrem Lauf inne, und der Jüngling begibt sich mit dem Engel auf die Suche nach einer Stunde. Sie treffen einen Einsiedler-Philosophen, der sein ganzes Leben lang das Nichts für den einzig wünschbaren Zustand des Menschen hielt. Aber er lehnt ab; vielleicht gelingt es ihm gerade in der letzten Stunde seines Lebens, das Rätsel des Universums zu lösen. Und außerdem – wozu sich beeilen? „Die Ewigkeit mag selbst für den erfreulichsten Zustand, der den Menschen gegönnt ist, eben lang genug sein.“ Es ist die Todesangst, die in ihm mit so heuchlerischer Zunge spricht. Dem Jüngling lehnen auch ab ein Sterbender, dem noch eine Stunde voller Qualen verblieb, eine gebrechliche, blinde, von allen verlassene Alte, ein zum Tode verurteilter Verbrecher, den man in einer Stunde aufs Schafott führt, und schließlich eine junge Frau in den Armen des Geliebten. Als Antwort auf den letzten Vorschlag des Engels erklärt sich der Jüngling bereit, sein ganzes restliches Leben für eine Lebensstunde seiner Geliebten zu geben. Aber sie ist schon tot. „Engel des Todes, warum hast du mich betrogen?“, schreit der Unglückliche in Verzweiflung. Aber der Engel betrog ihn nicht: unter den Schichten von Liebe und Leid, auf dem Grunde der Seele, wo die echten Gefühle bohren, hat der Engel den wahren, nur zeitweise unterdrückten Wunsch erblickt: leben, leben, leben ... Moral der Geschichte? Nichts kann von der Todesangst heilen: weder die Philosophie, noch die Qualen des Lebens, noch die Liebe.

Dies ist gewiss, solange sich der Mensch im stickigen Verlies seiner animalisch-sexuellen Emotionen und eines unverbindlichen Ästhetizismus einschließt. Die Angst vor dem Nichts ist gleichsam ein Korrektiv, das die „weise Natur“ dem Leben des eng-persönlichen Genusses auferlegt hat. Wenn ein scharfer Verstand, wie das Pferd an der Leine, nur um die Fragen des individuellen Seins läuft, dann stößt er unweigerlich bei jedem Umlauf auf das Gespenst des fatalen Endes.

Nur wenn man das Fenster zur breiten Welt der kollektiven Haltung der Aufgaben der Masse, des sozialen Kampfes weit aufgestoßen hat, kann man die Alpträume des Wartens auf die Sichel des Todes abschütteln.

* * *

Anmerkung

A. Ist es nicht kurios, dass der Grüne Kakadu von den sowjetischen Bühnen zum revolutionären Repertoire gezählt wird – überall führt man ihn als echtes revolutionäres Stück auf! – Juni 1922. L.T.


Zuletzt aktualiziert am 12. September 2020