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Nach Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S. 50–61, verglichen mit dem russischen Text.
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Jetzt, fünfzig Jahre nach dem Tode Gogols (1852), der sich längst vom verpönten Schriftsteller zum anerkannten „Ruhmesblatt der russischen Literatur“ wandeln konnte und offiziell, von kompetenter Seite bestätigt, in den Rang der „Väter der realistischen Schule“ erhoben wurde – jetzt über Gogol in einem flüchtigen Feuilleton schreiben, heißt den Autor der Toten Seelen zum stummen Opfer einiger Gemeinplätze und banaler Lobsprüche zu machen. Über Gogol muss man heute Bücher schreiben oder gar nichts schreiben. In der Vorstellung des durchschnittlichen russischen Lesers hat sich um den Namen Gogols ein Kranz bestimmter Begriffe und Meinungen gewoben: „ein großer Schriftsteller“, „Begründer des Realismus“, „unvergleichlicher Humorist“, „Lachen unter Tränen“ usw. Es genügt, den Namen Gogols zu nennen, schon taucht er im Bewusstsein auf, umgeben von einem kleinen, aber treuen Gefolge solcher Attribute. Deshalb sollte der Jubiläumsartikel in der Zeitung dem Leser vielleicht nicht mehr als den bloßen Namen des Schriftstellers nennen, dem er gewidmet ist.
Wozu soll man ihn überhaupt schreiben?, wird der Leser fragen. Darauf gibt es mehrere Antworten. Erstens, wie sollte man nicht des großen Schriftstellers gedenken – sei es auch mit banalen Worten –, heute, da seine Werke zum Allgemeingut der Öffentlichkeit werden? Zweitens, hat der Leser die drei, vier Schlagworte richtig im Gedächtnis behalten, mit deren Hilfe die Schule ihn mit Gogol vertraut gemacht hat? Und drittens, wenn der Leser im Trubel des Alltags diese geheiligten Epitheta nicht vergessen hat, weiß er, was sie bedeuten? Finden sie irgendein Echo in seiner Seele? Hat nicht unsere Schule sie letzten Endes ihres Sinns entleert? Wenn dem so ist, soll man nicht versuchen, sie wenigstens ein bisschen mit Leben zu füllen?
Der Leser könnte das Andenken Gogols natürlich am besten würdigen, indem er zu diesem ernsten Festtag sein ganzes Werk durchliest. Aber ich weiß nur zu gut, dass der größte Teil des „Publikums“ dies nicht tun wird. Gott sei Dank sind wir, der Leser und ich, aus dem Alter heraus, wo man sich mit Gogol „bekannt macht“. Wir erinnern uns, dass ein gewisser Major – hieß er nicht Kowalew? – vorübergegend die Nase verlor, dass Nosdrew einen sehr dünnen Backenbart besaß, dass der Dnjepr bei stillem Wetter wunderbar ist, dass der Bei von Algier direkt unter der Nase eine Beule hatte, dass Podkolesin aus dem Fenster sprang, statt zu heiraten, dass Petruschka einen besonderen Geruch hatte ... Wissen wir noch etwas mehr? O weh!
Natürlich beeilen wir uns immer, den großen Schriftsteller unserem jüngeren Bruder, dem Neffen oder dem Sohn aufs wärmste zu empfehlen, ziehen es aber selbst vor, den „Ruhm der russischen Literatur“ rein platonisch zu genießen ... Wir sind Barbaren, und wir haben keine echte, tiefe „kulturelle“ Liebe zu unseren Klassikern im Blut.
Gogol wurde am 19. März 1809 geboren. Er starb am 21. Februar 1852. Gogol lebte weniger als dreiundvierzig Jahre, viel weniger, als im Interesse der Literatur nötig gewesen wäre. Aber während seines kurzen leidvollen Lebens hat er unendlich viel vollbracht.
Vor Gogol versuchte die russische Literatur zu existieren. Seit Gogol existiert sie. Er verhalf ihr dazu, indem er sie für immer mit dem Leben verknüpfte. In diesem Sinn war er der Vater der realistischen oder „natürlichen“ Schule, Belinski war ihr Pate.
Vor diesen beiden „standen das Leben und die Einsichten, die es hervorbrachte, auf der einen, die Dichtung auf der anderen Seite. Das Band zwischen dem Schriftsteller und dem Menschen war sehr schwach. Die lebhaftesten Leute sorgten sich oft nur noch um Theorien des Stils, sobald sie als Literaten zur Feder griffen, und nicht um den Sinn ihrer Werke. „Sie dachten nicht daran, in ihrem künstlerischen Schaffen eine ,lebendige Idee‘ zu gestalten. An dieser mangelnden Verbindung zwischen den Lebensansichten und dem Werk des Autors krankte unsere gesamte Literatur, bevor der Einfluss Gogols und Belinskis sie umformte.“ [1]
Selbstverständlich war die satirische Richtung in der russischen Literatur (im weitesten Sinn) stets sehr lebendig, ehrlich und aufrichtig. Nicht in den gereimten Meditationen Lomosonows über den Nutzen des Glases, nicht im Höhenflug von Derschawins Oden oder in der Rührseligkeit von Karamsins Erzählungen, sondern in der Satire Kantemirs, in den Komödien Fonwisins, in den Fabeln und Satiren Krylows, in der großen Komödie Gribojedows finden wir lebensnahe Gedanken, mehr oder weniger verkörpert in der künstlerischen Form. Diese Richtung erreichte ihre größte Breite und Tiefe bei Gogol, in dem bedeutenden Gedicht von der Armut und Unvollkommenheit unseres Lebens.
Die Literatur wurde lebensnah und damit auch national.
Vor Gogol hatten wir unsere russischen Theokrits und Aristophanes, unsere vaterländischen Corneilles und Racines, unseren Goethe und unseren Shakespeare des Nordens. Nationale Schriftsteller hatten wir fast gar nicht. Selbst Puschkin pflegte mitunter die Kunst des Nachahmens und wurde der „russische Byron“ genannt.
Aber Gogol war einfach Gogol. Und nach ihm hörten unsere Schriftsteller auf, Duplikate europäischer Genies zu sein. Wir haben „einfach“ Grigorowitsch, „einfach“ Turgenjew, „einfach“ Gontscharow, Saltykow, Tolstoi, Dostojewski, Ostrowski. Alle leiten sie ihren Stammbaum von Gogol her, dem Begründer der russischen Erzählung und der russischen Komödie. Nach langen Lehrjahren und einer fast handwerklichen Schulung brachte unser Schrifttum mit den Werken Gogols sein Meisterstück hervor und schloss sich der Familie der europäischen Literaturen als ebenbürtiges Mitglied an.
Nachdem die nationale Eigenständigkeit unserer Literatur der schülerhaften Nachahmungskunst ein Ende gesetzt hatte, machte sie auch zugleich mit jener kindlichen Volkstümelei Schluss, die so offenkundig eine Maskerade war: diese Volkstümelei behielt ganz ihren nachäffenden Charakter, kleidete sich aber in den russischen Bauernkittel und in Fausthandschuhe.
Mit Gogol trat die Erzählung in den Vordergrund, diese „Episode aus dem endlosen Gedicht der menschlichen Schicksale.“ „Der Roman schlug alles tot, verschlang alles, und die Erzählung, die ihn begleitete, löschte sogar die Spuren von all diesem aus. Da trat der Roman selbst ehrfurchtsvoll zur Seite und gab der Erzählung den Weg frei.“ [2] Bis dahin konnten wir Oden, Tragödien, Phantastereien, Idyllen „machen“, alles, was beliebte. Es störte uns nicht, dass das Leben keinen Stoff für Tragödie und Ode hergab. Gegenüber dem Leben genoss unser „Schrifttum“ volle Autonomie.
Von nun an beginnt die Wirklichkeit ein zweites Leben zu leben – in der realistischen Erzählung und der Komödie, besonders in ersterer. Die Erzählung ist „unser täglich Brot, unser Handbuch, das wir lesen, wenn wir nachts die Augen schließen, und lesen, wenn wir sie am Morgen öffnen. [3] Marlinskij war der „Anstifter“ der russischen Erzählung, Gogol ihr Schöpfer und Belinski ihr Deuter.
Was gab der Gogolschen Erzählung die Vormachtstellung im Streit der literarischen Gattungen? Die künstlerische Treue zur Wirklichkeit. Was ist eine Gogolsche Erzählung? „Ein komisches Spiel, das mit Dummheiten beginnt und mit Tränen endet und das sich schließlich Leben nennt.“ [4] Genau das: Leben.
Eben darum hatte dieses erbitterte Aufeinanderprallen der Meinungen, Streitgespräche und Unstimmigkeiten, die sich am Namen Gogols entzündeten, einen sehr viel allgemeineren Charakter als der Kampf zwischen den Überbleibseln eines verlogenen Klassizismus und einer Pseudo-Romantik auf der einen und dem Realismus auf der anderen Seite. Aber erlauben Sie mir beiseite zu treten, um dem genialen Kritiker das Wort zu geben, der Taufvater der zeitgenössischen russischen Literatur war.
„Das ununterbrochene Gerede über die Toten Seelen und der Streit darüber in der Öffentlichkeit, diese begeisterten Lobsprüche und das erbitterte Schimpfen in den Zeitungen, geweckt durch das neue Schaffen Gogols, ist das nicht eine Lebenserscheinung, eine sowohl literarische als auch gesellschaftliche Frage? Sind nicht außerdem dieser ganze Lärm und dieses Geschrei das Resultat eines Zusammenstoßes alter Grundprinzipien mit neuen, ein Kampf zweier Epochen? Alles, was bei seinem Erscheinen auf Anhieb Erfolg hat, begrüßt und begleitet von uneingeschränktem Lob, kann nicht wichtig und groß sein: wichtig und groß kann nur sein, was die Meinungen der Menschen teilt, was im Kampf wächst und erstarkt, was sich in einem lebendigen Sieg über lebendigen Widerstand bestätigt – sei es beim Zusammenstoß der Geister einer Zeit, sei es beim Kampf der alten Prinzipien mit den neuen.“ [5]
Wir können uns nur schwer, fast überhaupt nicht vorstellen, welchen Eindruck die Toten Seelen in jener düsteren und stumpfen Zeit gemacht haben müssen.
„Plötzlich ein Ausbruch von Lachen“, schreibt Herzen in einem Brief an Ogarew, „eines seltsamen Lachens, eines schrecklichen, krampfhaften Lachens, in dem auch Scham und Gewissensbisse waren. Vielleicht nicht ein Lachen vor dem Weinen, sondern ein Weinen vor dem Lachen. Die abstoßende, hässliche, enge Welt der Toten Seelen hielt nicht stand, sie sank und begann sich zurückzuziehen“ [6] – übrigens ohne überflüssige Hast.
„Vielleicht nicht ein Lachen vor dem Weinen, sondern ein Weinen vor dem Lachen“, sagt Herzen. Das ist kein bloßes phraseologisches Manöver, dahinter steht ein Gedanke. Jetzt, da „die abstoßende, hässliche und enge Welt der Toten Seelen“ wirklich in sich zusammengesunken ist, sind wir nicht mehr so krankhaft feinfühlig in Bezug auf ihre Hässlichkeit und hören deshalb in dem großen Poem am deutlichsten das Lachen. Aber zu der Zeit, als der lebendige Sobakewitsch noch jedermann auf die Füße trat und sich durchaus nicht immer entschuldigte, da stand der tragische Charakter des Bildes im Vordergrund. Bei den besten Menschen rief es Tränen hervor, Tränen einer ohnmächtigen Empörung. Und diese Tränen gingen in ein hysterisches Lachen über. Nur für Leute vom Schlage des Generals Betrischtschew konnte Gogol der Schriftsteller für das „humoristische Ressort“ sein.
Die „abstoßende Welt der Toten Seelen“ begann sich zurückzuziehen. Aber ist sie ganz gewichen, hat sie den Platz von Abfall gesäubert für die Keime des neuen Lebens?
Die Antwort ist sehr klar. Die Leibeigenschaft, d. h. die soziale Grundlage der Welt der Toten Seelen, ist aufgehoben, aber zahllose Überreste haben sich davon in Sitten und Institutionen gehalten, breite gesellschaftliche Gruppen atmen noch ihre Luft, und eine ganze Reihe gesellschaftlicher Erscheinungen gedeiht vor unseren Augen durch die Kraft des Atavismus der Leibeigenschaft.
Wir erinnern uns, dass der unmittelbare Nachfolger Gogols, der Autor der Zeitgenössischen Idylle [7], die Gogolschen Figuren zur Personifikation unseres durch Reformen gewandelten Lebens benutzt hat. Kann man sagen, dass diese Figuren heute nur noch künstlerisch interessant sind? Wenn es nur so wäre! ... Und deswegen ist die tragische Seite des „Revisors“ und der Toten Seelen immer noch lebendig.
Wie viele Vorwürfe musste sich Gogol anhören, weil er stets die „Unvollkommenheit unseres Lebens, die Armut und nochmals die Armut“ darstellte. Wenn er bewusst den ganzen Sinn und die ganze Tragweite seines Schaffens erfasst hätte, wäre er von diesen Vorwürfen unberührt geblieben. Im Gegenteil, sie hätten ihm mehr Kraft und Sicherheit gegeben: was soll man tun, hätte er gesagt, wenn der Sklavengeist der Leibeigenschaft und der bürokratischen Willkür gerade diese „Armut und Unvollkommenheit“ hervorbringt? Aber Gogol – wir kommen später noch darauf zurück – rang sich nicht zu einer wirklich kritischen Sicht der damaligen gesellschaftlichen Struktur durch. Er lehnte sich nicht gegen ihre Grundlagen auf, ihre Prinzipien hielt er für geheiligt. Musste es ihn nicht selbst verwundern, dass aus diesen unantastbaren Grundlagen und geheiligten Prinzipien nichts als Unvollkommenheit und Armut flössen?
Daher dieser seltsame lyrische Ausbruch am Ende des ersten Bandes der Toten Seelen, wo das alte Russland mit einer ungestüm dahinfliegenden Troika verglichen wird ... Daher die totgeborenen Pläne, die in der Ankündigung zum Ausdruck kamen, ein Bild des heldenmütigen russischen Mannes und der wunderbaren slawischen Jungfrau zu zeichnen.
Als Realist bis in die kleinste Faser seines künstlerischen Nervs konnte Gogol keinen Erfolg bei der Schaffung „positiver“ Typen haben, so wie dieser Erfolg dem Leben selbst auch verwehrt war, wenigstens in Sphären, die der Literatur zugänglich waren und im Gesichtskreis der Kunst Gogols lagen. War er nicht im Voraus zum Misserfolg verurteilt, als er angesichts der deprimierenden Ärmlichkeit des Lebens beabsichtigte, den großen Helden und die ungewöhnliche Jungfrau auf seine eigenen Schultern zu heben, Gestalten, die es bei anderen Völkern auch nicht gibt? O weh! Die Tschitschikows, Manilows, Puschkins und bestenfalls Tentetnikows [8] hielten Schulter an Schulter die Stellung und gedachten sie weder im realen Leben, noch in der realistischen Literatur aufzugeben. Aus welchem Geschlecht sollte der große Held hervorgehen? Aus dem der Tschitschikows, Manilows, Puschkins, Nosdrews? Was für eine Luft sollten seine Lungen atmen? Die Luft der Leibeigenschaft? Wessen Tochter sollte die wunderbare Jungfrau sein?
Die lebende, oder richtiger, die tote Wirklichkeit gab auf diese Fragen keine Antwort. Den ruhmreichen Helden konnte man nicht künstlerisch nachbilden, man musste ihn erdichten. Und wer musste diese Aufgabe übernehmen? Gogol! – der sich gleich dem Riesen der griechischen Mythologie nur so lange unbesiegbar fühlte, bis er sich vom Boden entfernte. Deshalb die Falschheit solcher Gestalten wie Murasow, Kostanschoglo ... Wundert es, dass die gigantischen künstlerischen Pläne des Dichters in der Asche des zweiten Teils der Toten Seelen begraben liegen?
Gogol begann seinen großen Dienst an der russischen Literatur mit den Abenden auf dem Vorwerk, dieser Jugendschöpfung, heiter, rein und hell wie ein Frühlingsmorgen, diesem „fröhlichen Lied auf dem Fest des noch unerforschten Lebens“. Er erhob sich dann zur großen Komödie und dem unsterblichen Poem auf das Beamten-und Gutsbesitzerrussland und endete mit dem schwerfälligen und beschränkten Moralismus des Briefwechsels mit Freunden. Es scheint, dass es keine psychologische Brücke zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt dieses Weges gibt.
Von dem jungen „Imker“, der, das linke Auge leicht zugekniffen, mit geschäftiger Miene von Pazjuk erzählt, der mit dem Teufel verwandt ist, bis zu den Toten Seelen vollzieht sich ein normaler psychologischer Übergang: diese Momente verhalten sich zueinander wie Jugend und Reife des dichterischen Genies.
Aber wie soll man den Übergang im weiteren vollziehen: von dem Realisten Gogol zum Mystiker Gogol, von dem tief menschlichen Dichter zum engstirnigen Asketen und Moralisten? Wie ist das heitere Element seines Geistes mit jenem Zustand der letzten Lebensjahre zu verbinden, den Gogol selbst als „hohen lyrischen Aufschwung“ bezeichnete, der aber in Wirklichkeit [9] – um mit den Worten eines älteren gescheiten Artikels zu sprechen – „ein deplatzierter und plumper Idealismus“ war?
Gogol hat gründlich den psychologischen Mechanismus der untätigen Träumerei und der sentimentalen Beschränktheit studiert und uns darüber in der Gestalt des Manilow aufgeklärt. Er hat, nach den Worten von Orest Miller, „den Manilowismus in der russischen Literatur ein für allemal vernichtet.“ [A] Wie ist es nun möglich, dass Gogol in seinem unglückseligen Briefwechsel mit Freunden als Verkünder eines mystisch-moralischen Manilowismus auftritt?
Im Brustton der Überzeugung beginnt er, allen und jedem erstaunlich inhaltslose, triviale Ratschläge zu geben: der Frau des Gouverneurs, wie man die Gesellschaft durch beispielhafte Bescheidenheit in der Kleidung erneuert, dem Gouverneur, dass es zum Wohl der Bürger unumgänglich ist, gesittete Beamte in der Gouvernementsverwaltung zu haben. Dem Gutsbesitzer rät er, die bestmöglichen Beziehungen zu den Bauern herzustellen – auf der unantastbaren Grundlage der Leibeigenschaft. Wie ist es möglich, dass der Menschenkenner, der Humorist, der Realist Gogol, der die russische Gemeinheit, Borniertheit, Faulheit, den Manilowismus zur Hinrichtung geführt hat, solche beschränkten, quietistischen, manilowschen Ratschläge erteilt?
Dieser frappierende Zwiespalt zwischen dem Künstler Gogol und dem Moralisten Gogol veranlasst viele, sich der Psychiatrie zuzuwenden, um Material für Erklärung und Ausgleich der Differenzen zu erhalten. Gogol selbst hat sich beklagt, dass man ihm bezüglich des „Briefwechsels mit Freunden fast ins Gesicht sagte, er habe den Verstand verloren, und ihm Rezepte wegen geistiger Zerrüttung verschrieb.“ (Das Bekenntnis)
Auch heute werden späte Versuche unternommen, eine Diagnose der Geisteskrankheit des leidenden Schriftstellers zu machen. Man möchte die Widersprüche und Seltsamkeiten seiner Briefe und Werke, seine düstere Stimmung und die „Zwangsideen mystischen Charakters“ in die eine oder andere klinische Kategorie „depressiver Psychosen“ einordnen. [B] Wir wollen diese Versuche nicht auf ihren Gehalt prüfen, vor allem, weil sie jenseits der uns interessierenden literarhistorischen Frage liegen.
Fällt auch der Seelenzustand der letzten Lebensjahre unseres großen Schriftstellers in die Kompetenz der Psychologie oder Psychopathologie, so löst dies keineswegs das Problem: wie und warum wurde der realistische Künstler zum mystischen Prediger? Nicht der psychiatrische, sondern der sozialhistorische Blickpunkt hilft uns auf den richtigen Weg.
Denken wir nach: wie kam Gogol zu seiner moralistischen Philosophie? Kraft seiner künstlerischen Intuition zerschlug er das Bollwerk der alltäglichen Barbarei und Gräuel, der zur Gewohnheit gewordenen Verbrechen und der hartnäckigen Gemeinheit – einer Gemeinheit ohne Ende.
Alles, was sich in Jahrhunderten angehäuft hatte, von Staub bedeckt, durch Gewöhnung gestärkt und von mystischer Sanktion gekrönt wurde, Gogol wendete es um, kehrte es nach oben, entblößte es und gestaltete es zu einer Herausforderung an Verstand und Gewissen. Diese Arbeit leistete er unreflektiert und unsystematisch: sein schöpferisches Genie packte die Wirklichkeit mit nackten Händen. [C]
Als sich die „Untergrundtätigkeit“ des Bewusstseins in einer Reihe von Figuren – unsterblich wie die Wahrheit – objektivierte, standen diese vor dem Intellekt des Künstlers als objektive Fragen der Sphinx des Lebens.
Welche Rolle spielte der Intellekt Gogols? Man darf nicht vergessen, dass Gogol zu einer Zeit lebte, da sich in unserer Gesellschaft noch keine „intellektuelle“ Atmosphäre etabliert hatte, da Fragen der Weltanschauung des Bürgers der Literatur völlig unzugänglich waren und kaum einen Diskussionsgegenstand für die Zirkel darstellten. In den zwanziger Jahren, als Gogol noch ein Junge war und in der Provinz lebte, begann sich in den besten „gesellschaftlichen“ Kreisen der Hauptstadt eine Weltanschauung herauszuarbeiten, die man im heutigen journalistischen Jargon als „progressive gesellschaftliche Ideologie“ bezeichnen kann. Aber in der Mitte des Jahrzehnts wurde diese Tätigkeit auf geradezu mechanische Weise unterbrochen. In den dreißiger Jahren erschienen wieder Oasen der Intelligenz, aus denen die besten Kräfte der folgenden Epoche hervorgingen. Aber bevor Gogol zu diesen Gruppen stieß, konnte er sich schon als Autor der „Abende auf dem Vorwerk“ auszeichnen und in dem Zirkel Puschkin auftreten, der ihm eine große Stütze als Künstler war, ohne jedoch seinen gesellschaftlichen Horizont im mindesten zu erweitern. Dazu kommt, dass Gogol von 1836 an fast ständig im Ausland war, auch dort ein sehr zurückgezogenes Leben führte und nur mit wenigen Leuten in Kontakt stand, deren Ansichten zudem ebenso bar jedes kritischen Elements waren wie die seinen.
Und nun fand sich der Intellekt Gogols unvorbereitet und schlecht ausgerüstet angesichts einer Masse untereinander verflochtener Fragen, die er durch sein Schaffen selbst aufgeworfen hatte – und das empfindsame Gewissen gab dem Verstand keine Ruhe. Es musste unbedingt eine Lösung gesucht werden, und dies mit Hilfe jenes jämmerlichen Denkstils, der der Tradition entsprechend als ein geschlossener und absoluter übernommen wurde und der keine Zweifel zuließ.
Der Intellekt, in sich ohne Rückhalt, brauchte dringend eine Autorität außerhalb, um mit der zerstörerischen Arbeit des unmittelbaren Schaffens fertig zu werden. Eine solche Autorität fand sich in dem Moralkodex, der ihm in der Kindheit eingeprägt wurde und durch Erinnerungen geheiligt war. Wie man sieht, besteht gar kein Grund, das Seelenleben Gogols in zwei Hälften zu spalten und zu ihrer Überbrückung die Psychopathologie zu bemühen.
Die mystisch-moralische Haltung des großen Schriftstellers gegen Ende seines Lebens war das Ergebnis einer Entwicklung von Thesen, die ihm durch die traditionelle Erziehung eingeimpft worden waren. Sein eigenes künstlerisches Schaffen gab ihm das Bedürfnis, das Leben richtig zu erfassen. Als Antwort auf die Fragen des sensiblen Gewissens macht Gogol krankhafte Anstrengungen, alle die archaischen Prinzipien miteinander in Einklang zu bringen, die, von Generation zu Generation weitergegeben, der Mehrheit eine platonische Verehrung abnötigten, aber von niemandem auf das Leben angewandt werden.
Man kann sich vorstellen, wie falsch die Ergebnisse der künstlerischen Intuition mit dem Blick auf diesen altersschwachen Moralkodex eingeschätzt werden mussten, welche engstirnige und kindlich-naive Lösung die gesellschaftlichen Fragen erfuhren.
Nehmen wir die Komödie Der Revisor, eine Art „Poem“ auf das provinzielle Beamtentum. Skwosnik-Dmutschanowski ist ein durchtriebener Gauner und Kriecher, veruntreut Staatsgelder und ist bestechlich. Das Schlimmste ist natürlich, dass dies bei „ihm nicht einfach ein Laster ist, sondern eine moralische Entwicklung darstellt, seine höhere Vorstellung von den eigenen objektiven Pflichten“. [10] Seine moralische Verkommenheit ist die einfache logische Folge der bekannten gesellschaftlichen Voraussetzungen. Darin liegt, um die Terminologie jener Zeit zu benutzen, das „Pathos“ seiner Gestalt.
Natürlich werden in der Komödie Schlussfolgerungen und längst überholte Regeln bürgerlicher Wohlanständigkeit angeboten, die es verbieten, Bestechungsgelder anzunehmen und die Staatskasse zu plündern. Nach der ganzen Art seiner Auffassung konnte Gogol nicht den gesellschaftlichen Wert und historischen Sinn dieser Schlussfolgerungen begreifen. Er fürchtete sich vor ihnen. Resultat dieser Angst ist der Versuch einer mystisch-moralischen Deutung dieser zutiefst realistischen gesellschaftlichen Komödie. Es zeigt sich, dass die Stadt, um die es in der Komödie geht, unsere verderbte Seele ist. Die betrügerischen Beamten sind unsere gemeinen Leidenschaften. Tschlestakow ist das falsche, käufliche, weltliche Gewissen. Und der Gendarm, dieser vaterländische Deus ex machina, diese Figur der Vorsehung, die durch ihr prosaisches Erscheinen tausend Dramen und Komödien des Lebens auflöst – der Gendarm erweist sich als Bote des schrecklichen Richters, des wahren, unerbittlichen Gewissens. (Die Auflösung des „Revisor“)
Diese farblos-didaktische Interpretation verpflichtete niemanden und zu nichts. Sie hat aber auch die „gärende“ Kraft der Komödie nicht im mindesten schwächen können.
Dasselbe gilt für die anderen Werke. Sie schufen im Gesellschaftsbewusstsein ein zusammenhängendes Gedankengebäude, das weit über den gesellschaftlichen Horizont Gogols selbst hinausragte. „Hinter den abscheulichen Fratzen sehen sie (die nachdenklichen Leser) andere, wohlgestaltete Gesichter; diese schmutzige Wirklichkeit führt sie zur Schau einer idealen Wirklichkeit, und das, was ist, zeigt ihnen klarer das, was sein soll.“ [11]
Worin sieht z. B. Belinski – und mit ihm wie nach ihm der beste Teil der Gesellschaft – das ‚Pathos‘ der Toten Seelen, die Grundidee des Werks? „Im Widerspruch der gesellschaftlichen Formen des russischen Lebens mit seiner substantiellen Basis, die noch im Verborgenen liegt, die sich dem eigenen Bewusstsein noch nicht erschlossen hat und die sich nicht in Worte fassen lässt.“ [12] Wenn man diesen Satz aus der eisernen Umklammerung hegelianischer Phraseologie befreit, erhält man einen ebenso einfachen wie tiefen Gedanken: die Grundidee des Werks ist der Widerspruch der verfestigten, erstarrten Formen des russischen Lebens mit seinem fließenden Inhalt, der Probleme aufwirft, für die der alte Rahmen zu eng ist.
Die Strömung dieser „substantiellen Basis“ führte seinerzeit zur Abschaffung der Leibeigenschaft und zu einer Reihe anderer gesellschaftlicher Veränderungen und hat sich bis heute nicht erschöpft.
Das Gogolsche Werk nimmt in diesem Strom nicht den letzten Platz ein.
Mit welcher Beharrlichkeit und Aufrichtigkeit Gogol auch in der Folge wiederholte, er sei durchaus nicht dazu geboren, in der Literatur Epoche zu machen, sondern die Seele zu retten – es lässt sich nicht rückgängig machen: Gogol schuf eine Epoche, Gogol schuf eine Schule, Gogol schuf eine Literatur.
Gewiss, es ist nicht zu bezweifeln, dass der ruhmreiche Schriftsteller sich in vielem geirrt hat. Keinem der zahllosen Akaki Akakiewitsch aus dem Briefwechsel mit Freunden konnte der Mantel ersetzt werden ... und die Akaki brauchen ihn so sehr. Aber wer wird es heute wagen, den Stein der Missbilligung auf den großen Märtyrer des Gewissens zu schleudern, der so leidenschaftlich die Wahrheit suchte und zum Lohn für solche Leiden auf den Irrweg geriet?
Wenn er versucht hat, den gesellschaftlichen Aspekt der eigenen Werke herunterzuspielen, indem er ihnen eine unpersönliche, moralistische Deutung gab, so möge man es ihm nicht übel anrechnen. Wenn er durch seine Publizistik einen jener Schwachen verführt hat, so möge man ihm verzeihen!
Aber für seinen großen, unschätzbaren Dienst am künstlerischen Wort, für den hohen menschlichen Einfluss seines Schaffens sei ihm ewiger, unvergänglicher Ruhm!
A. Orest Miller, Russische Schriftsteller nach Gogol, 1886.
B. H.H. Baschenow, Krankheit und Tod von Gogol, Russkaja Mysl, Januar 1902
C. „Die erstaunliche Kraft des unmittelbaren Schaffens“, sagt Belinskij, „schadet Gogol sehr. Sie verstellt ihm sozusagen den Blick für Ideen und moralische Fragen, die unserer Zeit auf den Nägeln brennen, und zwingt ihn, seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Fakten zu lenken und sich mit ihrer objektiven Beschreibung zufriedenzugeben“ (Belinski). Der Gedanke ist frappierend: das Leibeigenenrecht, mit dessen Saft alle Scheußlichkeiten, Gräuel und Entsetzen des damaligen Lebens in Russland genährt wurden, existiert für Gogol nur als Faktum, nicht als Problem.
1. N.G. Tschernyschewski, Essays über die Gogol-Periode in der russischen Literatur, 1893, S. 250.
2. Belinski, Die russischen Romane und Erzählungen von Gogol.
3. Belinski, Die russischen Romane und Erzählungen von Gogol.
4 Ibid.
5. Belinski.
6. A. Herzen, Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von Lemke, Petersburg 1919.
7. Saltykow-Schtschedrin, Gesammelte Werke, Band XI, Petersburg 1918.
8 Gogol, Tote Seelen.
9. Werke und Briefe von Nikolai Gogol.
10. Belinski.
11. Belinski, Russische Literatur im Jahre 1841.
12. Belinski.
Zuletzt aktualiziert am 12. September 2020