Leo Trotzki

 

Das letzte Drama Hauptmanns
und Struves Erläuterungen dazu

(5. Mai 1901)


Nach Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, A. 23–34.
verglichen mit dem russischen Text, zu Hauptmanns Drama s. auch Mehring.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Im zweiten Heft der Zeitschrift Schisn (Leben) des laufenden Jahres befindet sich eine außerordentlich schlechte Übersetzung von G. Hauptmanns letztem Drama Michael Kramer. Im ersten Heft des Mir Boschij (Frieden Gottes) ist ein prätentiöses Feuilleton von Herrn Struve abgedruckt, betitelt Zu verschiedenen Themen, das sich unter anderem mit diesem Drama befasst. Ich werde mir erlauben, die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese beiden selbstverständlich nicht gleichwertigen literarischen Erscheinungen zu lenken.

Ich vermag nicht zu sagen, was Herr Struve im gegenwärtigen Augenblick eigentlich will, und ich tröste mich damit, dass es auch ihm offensichtlich nicht ganz klar ist, wenn er auch stolze Sätze über Religion, religiösen Traum und religiöses Bewusstsein wiederholt und dabei vergeblich versucht, den Bodensatz seines vagen Enthusiasmus auf den Kohlen des Mystizismus und der idealistischen Metaphysik aufzuwärmen.

Mit Sicherheit kann man nur feststellen, dass Herr Struve bei seiner tiefsinnigen Definition der sozialen Frage „Sozialfrage ist Magenfrage“ auf Schäffle zurückgeht.

„Der soziale Kampf unserer Zeit hat sich die Befreiung des Menschen von der sklavischen Unterwerfung unter materielle Bedingungen zur Aufgabe gemacht, die Befreiung von Hunger, Kalte und jeglicher Not. Wenn darin das Glück liegt, fährt er in einem Ton offensichtlichen Zweifeln fort, dann ist der soziale Kampf gewiss ein Kampf für das Glück. Jene Bedingungen, die wir unter der Bezeichnung ,materieller Wohlstand’ zusammenfassen, sagt Herr Struve weiter, sind zweifellos als Mittel für einen weiteren Aufschwung des Menschen und der Menschheit unerlässlich Die Bürgerlichkeit beginnt erst dort, wo dieses Mittel zum Kultobjekt wird, wo es sich in das oberste Ziel, den höchsten Wert verwandelt, wo es, mit einem Wort, das religiöse Bewusstsein der Menschen erfüllt. Leider stellt diese bürgerliche Kultur die charakteristischste Besonderheit, gleichsam das geistige Wesen des gegenwärtigen Menschen dar. Davon sind sowohl diejenigen betroffen, die mit unserer Zeit zufrieden sind, als auch die, die nicht von ihr befriedigt werden. Letztere müssen begreifen, dass Wohlstand ein Mittel, kein Ziel ist, dass das Ziel weiter, viel weiter entfernt ist.“ (Mir Boschij, I, 14)

In dieser dem Augenschein nach ganz ordentlichen Betrachtung konzentriert sich so viel Falschheit verschiedener Art, dass man nicht weiß, von welcher Seite man ihr beikommen soll.

Das Bestreben, „von Hunger, Kälte und jeglicher Not“ zu befreien – sogar wenn es von nichts anderem bestimmt wird und nur sich selbst genügt –, kann schon deshalb nicht bürgerlich genannt werden, weil es genetisch dem Entstehen der bürgerlichen Schicht vorausgegangen ist. Dieses Bestreben ist allgemein menschlich, mehr noch, es ist allen Kreaturen eigen. Es nimmt bürgerliche Formen an, wenn es durch den Hang zur Rente, zu Kapitalgewinn geprägt wird. Aber die „Unbefriedigten“, von denen Struve spricht, sind als gesellschaftliche Gruppe mit bestimmten geschichtlichen Tendenzen nicht vom Rentenstreben befallen. Zu sagen, dass diese „Unbefriedigten“ ihrem Geist nach bürgerlich sind, ist ein leichtfertiges Spiel mit Worten: der Terminus „Bürgerlichkeit“ hat einen ganz bestimmten historischen Sinn. Aber Struve entleert diesen Begriff seines gesellschaftlich-historischen Inhalts. Er dehnt ihn so weit aus, bis er den Umfang einer rein logischen, universellen Kategorie angenommen hat, und versucht, die ganze zeitgenössische Wirklichkeit darin zu ertränken.

Außerdem ist die Behauptung Herrn Struves entschieden falsch, der materielle Wohlstand sei für die Unbefriedigten (auch wenn er nicht die bürgerliche Form der gesicherten Rente trägt) „der höchste Wunsch“, „das oberste Ziel“, „ein Kultobjekt“. Dies zu beweisen, ist, glaube ich, nicht die Aufgabe von Leuten, denen der dichte Nebel der Metaphysik den Blick für die realen gesellschaftlich-historischen Perspektiven verdeckt.

Gewiss, der Mensch lebt nicht vom Brot allein, das ist eine heilige Wahrheit. Aber wie konnte Herr Struve sich beeilen zu vergessen, mit welchem Ziel und durch wen gerade eine solche These bei den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen ausgebeutet wird?!

Ja, wenn die „Unbefriedigten“ in ihren äußerst dringlichen Forderungen hinsichtlich des angeblichen bürgerlichen „Wohlstandes“ schon befriedigt wären und, hierüber beruhigt, einem kollektiven Quietismus verfielen – oh, dann wären wir bereit, Fichte und Nietzsche und selbst Herrn Struve zu Hilfe zu rufen, mit seinem ganzen archaischen Gesindel verschimmelter Dogmen! Aber solange im Leben der beharrliche, verschärfte Kampf um die minimalsten Bestandteile eben dieses Wohlstandes andauert, haben die Vorwürfe Struves den Charakter eines starken, unverzeihlichen Missklangs, einer groben gesellschaftlichen Taktlosigkeit, nicht der ersten und, wie man annehmen muss, nicht der letzten in dem literarischen Katalog von Herrn Struve. Gerade in diesem Punkt hätte Struve keinen Fehlschluss zu ziehen brauchen, wenn er sich zurück gewandt hätte ... zu Lassalle, zu demselben Ferdinand Lassalle, an den zu wenden er uns heute erfolglos aufruft: Lassalle wurde nämlich nicht müde zu wiederholen, dass man die Deutschen (die, unter denen er arbeitete) immer wieder aufrütteln müsse, damit sie lernen, das Fehlen eines „Wohlstandes“ bei sich zu erkennen. Und da beeilt sich Herr Struve, daran zu erinnern, dass nicht im Wohlstand das „Glück“ liegt.

Herr Struve war also augenscheinlich enttäuscht von den alten Kampfmethoden gegen die „Bürgerlichkeit“ und fordert uns auf, neuen Führern zu folgen: vor allem Nietzsche, der „nicht seinesgleichen unter den Kämpfern gegen die bürgerliche Kultur hat“. und dann Hauptmann, in dem allerdings „viel weniger Kraft und Gehalt stecken als in Nietzsche“.

Der geneigte Leser wird sich erinnern, dass wir in diesen Spalten bereits auf Nietzsche zu sprechen kamen. Sehen wir nun, was uns Hauptmann in Bezug auf den Kampf mit der Bürgerlichkeit in seinem letzten Drama bietet.

Aber zuvor in zwei Worten der Inhalt des Dramas selbst. Der Maler Michael Kramer hat einen Sohn Arnold und eine Tochter Michaline; beide sind Maler wie der Vater. Die Tochter ist ihrer Natur nach ganz der Vater; gleich ihm setzt sie sich eher aufgrund ihrer Beharrlichkeit als mittels ihres Talents durch. Der Sohn ist ein Scheusal, sowohl physisch als auch moralisch. Er besitzt ein großes Talent, dessen er nach den Worten der Schwester nicht würdig ist. Seiner seelischen Veranlagung nach ist er zärtlich, krankhaft-empfindsam, aber völlig willenlos.

Der Vater, von starker herrischer Natur, unterwirft alle seinem Einfluss, mit denen er näher zusammentrifft, ist aber außerstande, der Seele des Sohnes Herr zu werden. Der Zwist zwischen Vater und Sohn, ihr gegenseitiges Nichtverstehen und ihre Entfremdung stellen das zentrale Moment des Dramas dar.

Arnold Kramer hält sich mit Recht für sehr viel höherstehend als die Masse der abgeschmackten Bonvivants der jeunesse dorée. Dennoch unterliegt er ihren ständigen Spötteleien wegen seines unglücklichen Äußeren und seiner nicht weniger unglückseligen Armut, die ihn außerdem noch daran hindert, seinen Lebensdurst zu stillen. Dies verbittert ihn gegen alles auf der Welt, einschließlich der eigenen Familie.

Er verliebt sich in die Tochter eines Gastwirts; diese jedoch ist kaum geneigt, dem armen buckligen Jüngling ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Er rächt sich an den Stammgästen der Schenke für ihren groben Spott mit bösartigen Karikaturen.

An einem besonders unglückseligen Tag, nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem Vater und neuerlicher Abweisung durch die Wirtstochter Liese wird Arnold Kramer von einer Gesellschaft betrunkener Taugenichtse verlacht und sogar verprügelt. Einer von ihnen, der sich als Liesens Bräutigam ausgibt, zeigt dem unglücklichen Maler ein Strumpfband seiner Braut. Arnold flieht aus der Schenke und nimmt sich das Leben.

Der Vater findet auf dem Gesicht des toten Sohnes (wie, kann ich nicht sagen) jene guten Züge seines Charakters, die zu seinen Lebzeiten in ihm verborgen geblieben waren, aber jetzt durch den Tod ans Tageslicht traten. Er findet sie und versöhnt sich mit dem Sohn. Dies ist das Handlungsgerüst des Dramas.

Hauptmann verleiht dem Maler Kramer eine gewisse moralische Größe. Aber Größe wird erst dann erkennbar, wenn es die entsprechenden Taten gestatten. Im Drama Hauptmanns begeht Kramer jedoch keine Taten, die ihn als einen ungewöhnlichen Geist charakterisieren würden; statt dessen charakterisieren Kramer andere handelnde Personen in ihren Reden. Ihnen, den anderen Personen, hilft Kramer auch selbst. Er hält seinen Mitmenschen ständig Moralpredigten und schmückt seine Reden mit Worten wie „Hörn Se“, „Sehn Se“, „Verstehst du“. die offensichtlich das Ziel haben, die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf die Tiefe der Worte des alten Malers zu lenken. Es ist natürlich unnötig zu sagen, dass ein Konzept, demzufolge die Hauptperson, die dem Stück seinen Namen gibt, nicht handelt, sondern räsoniert und ihre moralischen Ansichten vor den Zuschauern hauptsächlich mit Hilfe der Reden anderer Personen erklärt, für die Bühne ungeeignet und sogar unkünstlerisch ist. Schon dieses Konzept allein ist geeignet, das Drama zum Scheitern zu bringen.

Lassen wir aber diesen groben künstlerischen Defekt beiseite und sehen wir, wie sich Michael Kramer als Ergebnis der allgemeinen Bemühungen, seine geistigen Umrisse zu zeichnen, dem Leben darstellt.

So wird der alte Maler von seinem ehemaligen Schüler, dem Maler Lachmann, in einem Gespräch mit Michaline charakterisiert:

„Überhaupt, du, wenn ich nicht ganz versumpft bin – denn wirklich, ich halte mich immer noch –, hauptsächlich verdank’ ich das nur deinem Vater. Was er einem gesagt hat und wie er’s tat, das vergisst sich nicht. Einen Lehrer wie ihn, den gibt’s gar nicht mehr. Ich behaupte, auf wen dein Vater einwirkt, der kann gar nie gänzlich verflachen im Leben [...] Er hat uns alle so durchgewalkt, uns Schüler, so gründlich, von vornherein, von innen heraus alles umgekrempelt! Die Kleinbürgerseele so ausgeklopft. Man kann darauf fußen, solange man lebt. Vaters großer Ernst,“ sagt Michaline, „mir ist er mein bester Besitz geworden. Auf fadeste Dummköpfe machte er Eindruck.“

Mit einem Wort, Sie sehen, dass Sie es bei der Figur des Kramer nicht mit einem gewöhnlichen Menschen zu tun haben. Der Autor unterstreicht das eifrig sogar durch seine Beschreibung des Äußeren Kramers, die er mit folgenden Worten beendet: „Er ist alles in allem eine absonderliche, bedeutende, nach dem ersten Blick eher abstoßende als anziehende Erscheinung.“

Nun hat Hauptmann – nach der Auslegung von Herrn Struve – in dieser Gestalt des Malers, des nicht alltäglichen, „absonderlichen, bedeutenden“ Menschen, seinen Protest gegen die „bürgerliche Kultur“ verkörpert, die die zeitgenössische Gesellschaft durch und durch prägt.

Ah! Das ist interessant und lehrreich zu hören! Erfolgreich gegen den Geist der „bürgerlichen Kultur“ kämpfen kann man nur dann, wenn ein organisierter Kampf gegen die sozialen Grundlagen dieses „Geistes“ geführt wird. Vereinzeltes Aufglimmen lyrischen Protestes mag sehr effektvoll sein, ist aber fruchtlos. Die Zählebigkeit des bourgeoisen gesellschaftlichen Organismus macht betroffen, seine Anpassungsfähigkeit ist beispiellos. Das isolierte Bemühen um eine persönliche Selbstbefreiung aus den Fesseln des bourgeoisen Systems erinnert immer an die lustige Geschichte des Baron von Münchhausen, der sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf gezogen hat. Dabei ist es gleich, von welchen dramatischen Accessoires dieses Bestreben begleitet wird.

Michael Kramer steht als Sonderling da. Und Hauptmann wie Herr Struve und, versteht sich, Kramer selbst glauben, dass darin seine Stärke besteht. Wir zweifeln nicht einen Augenblick daran, dass dies seine größte Schwäche ist.

Als der Berg nicht zu Mohammed kommen wollte, ging Mohammed zum Berg. Das gleiche geschieht mit den isolierten „Kämpfern gegen die bürgerliche Kultur“. sogar mit den aufrichtigsten und begabtesten. Außerhalb der von ihnen verneinten Gesellschaft können sie nicht leben. Da sich die bourgeoise Gesellschaft ihnen nicht unterwirft, passiert es ihnen nicht selten, dass sie sich, ohne sich dessen bewusst zu werden, der bourgeoisen Gesellschaft unterordnen. All dies illustriert Michael Kramer vorzüglich durch seine Person, wenn auch im Gegensatz zu den offensichtlichen Absichten des Autors und des Kommentars von Herrn Struve.

Beginnen wir mit Kramers Familie. Ihre Struktur ist rein kleinbürgerlich. Der Vater ist der Herr, ein mehr oder weniger uneingeschränkter Herrscher. So die Mutter: „Wir leiden auch alle unter Papa“. Der Vater schlug den Sohn, als er schon fünfzehn Jahre alt war, wahrscheinlich, um ihm nach dem bildhaften Ausdruck Lachmanns die „Kleinbürgerseele auszuklopfen“.

Die Mutter der Familie ist eine „unruhige und sorgenvolle“ Frau, die, wie es sich gehört, ständig mit den Aufgaben des Haushalts beschäftigt ist. Sie hat eine gute Seele, steht für Familie und Tugend ein, deren Wahrung ihrem Weltverständnis nach der Polizei obliegt. „Die Polizei, die duldet ja das!“, beklagt sie sich kummervoll und weist auf die allgemeine Lasterhaftigkeit hin. Dem Sohn droht sie: „Und wenn ich so’n Frauenzimmer ausfindig mache, das schwör’ ich dir zu, und Gott ist mein Zeuge: die Übergeb’ ich der Polizei!“

Offensichtlich hat Hauptmann selbst Mühe, die Beziehungen zwischen Kramer und seiner Frau darzustellen: es ist bemerkenswert, dass er sie während des ganzen Dramas nicht einmal zusammenführt.

Es scheint, dass eine solche Familie einem so außerordentlichen, hervorragenden Mann, der Kramer nach der Absicht des Autors ist, kaum Anlass zu einer Idealisierung des „Familienprinzips“ geben kann. Nichtsdestoweniger sagt Kramer zu Lachmann: „’n Mann muss Familie haben, Lachmann. Das ist ganz gut, das gehört sich so“. Warum dies nun so gut ist und warum es sich so gehört, sagt Kramer nicht, aber sein eigenes Familienleben kann dieser Behauptung nur als Gegenbeispiel dienen. Der Leser gewinnt zwingend den Eindruck, dass Kramer lediglich kleinbürgerliche Sentenzen zum Thema ,die Vorzüge der Familienbande‘ wiederholt. Wie kann man da, oh, Herr Struve, einen Kampf gegen die bürgerliche Kultur sehen?

Nicht besser sind die anderen Lehren (Kramer lehrt beständig) des alten Malers:

„Ach, hörn Se, es wird zu viel gesündigt. Immer arbeiten, arbeiten, arbeiten, Lachmann. Hörn Se, wir müssen arbeiten, Lachmann. Wir schimmeln sonst bei lebendigem Leibe [...] Hörn Se, Arbeit ist Leben, Lachmann! [...] Ich bin bloß ’n lumpiger Kerl ohne Arbeit. In der Arbeit werd’ ich zu was [...] Wäre mein Sohn ’n Schuster geworden und täte als Schuster seine Pflicht, ich würde ihn ebenso achten [...] Pflichten, Pflichten, das ist die Hauptsache. Das macht den Mann erst zum Manne, hörn Se. Die Lotterbuben von heutzutage, die denken, die Welt ist ’n Hurenbett. Der Mann muss Pflichten erkennen, hörn Se.“

Schließlich sagt Michaline Kramer, die sich die ganze Philosophie des Vaters zu eigen gemacht hat, indem sie sich auf die väterliche Autorität beruft: „Sich abfinden, Mutter, ist Menschenlos. Sich halten und zu was Höh’rem durch winden, das hat jeder gemusst.“

Erlauben Sie, erlauben Sie! All dies ist sehr wohlgesittet und verdient jeden Ansporn. Aber wo ist hier der Kampf gegen die „bürgerliche Kultur“. wo das „Ausklopfen der Kleinbürgerseele?“ Alle diese Reden haben wir zur Genüge gehört.

Spricht nicht Smiles, das gedrechselte, trübsinnige, von süßlicher Moral triefende, gesittet-muffige Orakel der Kleinkrämer, dieser erleuchtete Prophet der Kolonialwaren-, Galanteriewaren- und Farbenhändler, spricht er nicht auf Tausenden von Seiten über die heilige, große, unschätzbare, wohltuende Wirkung der Arbeit, der beständigen Arbeit? Lehrt er nicht mittels der überzeugendsten Beispiele, Analogien, Gegenüberstellungen, Texte, Beweise kleinbürgerlichen Geistes und Argumente eines philisterhaften Herzens, dass es jedem Menschen, der ein gewisses Alter erreicht hat, obliegt, eine Familie zu gründen, weil „es sich so gehört?“ Fordert nicht derselbe Smiles mit edlem bürgerlichem Enthusiasmus die Verehrung des Schusters – ja sogar des Schusters, wenn dieser ehrlich „seine Pflicht“ tut? Können Sie vielleicht behaupten, dass er, Smiles, nicht immer verkündet hat, dass „zu viel gesündigt wird“. und dass er nicht dazu aufgefordert hat, sich unverzüglich zu bessern? Hat er die Menschen nicht zur Erfüllung ihrer Pflichten aufgerufen, ihrer heiligen Pflichten gegenüber sich selbst, der Familie, den Nächsten, dem Staat und Gott? Hat er ihnen nicht empfohlen, sich immer wieder mit den Schlägen des Schicksals „abzufinden, sich zu halten und sich mit ehrlicher (unbedingt mit ehrlicher!) Arbeit zu was Höh’rem durch zu winden?“

Gewiss, vielleicht enthalten solche Reden bei Smiles und seinem geistigen Anhang eine Menge rein kleinbürgerlicher Heuchelei, während Kramer sie mit voller und tiefer Aufrichtigkeit spricht; aber der Umfang des Gedankens ist bei ihm keineswegs größer, und seine Worte sind alte, zu gut bekannte Worte, und – vergleichen Sie Struve! – sie klingen äußerst befremdlich im Munde eines „Kämpfers gegen die bürgerliche Kultur“.

Was ist das in der Tat für ein plumpes Versprechen, sogar den Schuster zu ehren, wenn er nur ehrlich „seine Pflicht tut!“ Kann man den Schuster nicht in Ruhe lassen und aufhören, angeblich im Namen einer höheren Moral mit den banalen Forderungen einer ehrlichen Pflichterfüllung an ihn heranzutreten? Man kann, so möchte es scheinen, in dieser Hinsicht beruhigt sein: die Struktur der gegenwärtigen kulturellen bürgerlichen Gesellschaft bewirkt auf dem Wege des Gesetzes von Angebot und Nachfrage und durch unerbittliche Konkurrenz rein automatisch und deswegen fehlerfrei, dass der Schuster ehrlich „seine Pflicht tut“. d. h., dass er für minimale Bezahlung ein Maximum an Energie aufbringt. Dabei kennt die Gesellschaft für Nichterfüllung dieser Pflicht eine in ihrer Wirkungskraft ausgezeichnete Repressionsmaßnahme: den Hungertod. Die Frage ist die, ob die Gesellschaft der „bürgerlichen Kultur“ hinsichtlich des Schusters ehrlich ihre Pflicht tut.

Aber der alte Kramer hat neben der Neigung zur feierlichen Verkündung längst lästig gewordener Reden noch einen für uns interessanten Zug, den wir schon nebenbei bemerkt haben und der offensichtlich geeigneter ist für seine Bestätigung als Kämpfer gegen die bürgerliche Kultur.

Kramer ist, wie wir schon sagten, ein Einzelgänger. Er gehört nicht zu jenen glücklichen Malern, die in ihrer selbstzufriedenen Einfallslosigkeit bereit sind, für entsprechende Honorierung alles mit ihrem Pinsel darzustellen, was verlangt wird: allerlei Entblößtes für solide Familienväter, moralisch Erbauliches für ihre Kinder, Schlachtengemälde in den Zeiten periodischen Aufwallens des bürgerlichen Chauvinismus, religiöse Bilder für die Augenblicke eines Anfalls bürgerlicher Scheinheiligkeit. Nein, der alte Kramer ist für so etwas untauglich! Der „Masse“, in die er auch die Bourgeoisie einbezieht, begegnet er mit aristokratischer Verachtung. So „müssen die Besten,“ sagt er, „beiseite stehn.“ „Der Ort, wo du stehst, ist heiliges Land, das muss man sich bei der Arbeit sagen. Ihr andern: draußen geblieben, verstanden? Da ist Raum genug für das Jahrmarktsgetümmel. – Kunst ist Religion.“ „Das Eigne, das Echte, Tiefe und Kräftige, das wird nur in Einsiedeleien geboren. Der Künstler ist immer der wahre Einsiedler.“ Das ist das Credo Michael Kramers als Künstler. Entrollt sich nicht hier im Bereich der Kunst der Kampf mit dem alles durchdringenden Geist der Bürgerlichkeit?

Klären wir aber zunächst einmal, welchen Ursprungs das Kramersche Glaubenssymbol ist. Auf welche Weise versucht die Kunst, eine rein gesellschaftliche Größe, sich in der Person des Kramer von der Gesellschaft zu befreien, die ihr Leben gegeben hat.

Die reine „Kunst“ erobert das Feld als Ergebnis äußerst vielgestaltiger sozialhistorischer Bedingungen; aber jene Formation, auf die sich Kramer bezieht, wuchs auf dem Boden einer durch den bürgerlichen Staat provozierten Enttäuschung der geistigen Aristokratie.

Während der Entstehungsperiode der bürgerlichen Gesellschaft war die Intelligenz ideologisch mit der Bourgeoisie verbunden; in der Folge wandte sich der beste Teil von ihr ab. Aber auch auf das übrige soziale Feld konnte die Intelligenz nicht mit Freude und Hoffnung blicken: die der Bourgeoisie entgegengesetzten Klassen waren zu unkultiviert, zu weit entfernt von Kunst, Wissenschaft, Philosophie, als dass die Intelligenz ihr eigenes Los mit deren historischem Schicksal verknüpfen konnte. So blieb eins: dem „Jahrmarktsgetümmel“ zu entfliehen und sich in der Sphäre der „reinen“ Kunst einzuschließen. Natürlich ist dies auch ein Protest gegen die alles verderbende bürgerliche Kultur; ist er aber nicht zur völligen Fruchtlosigkeit verurteilt?

Alle diese „Einsiedler“ brauchten ja unbedingt Mittel zu ihrer Existenz, die sie nur aus dem sogenannten Fonds des „nationalen Mehrwertes“ erhalten konnten. Über diesen Fonds verfügte unkontrolliert die Bourgeoisie.

Die ganze Tragik der Lage von Leuten wie Kramer besteht darin, dass sie, obwohl sie die Bourgeoisie verachten, sich gleichzeitig ihren Marktforderungen unterwerfen müssen. Das gemeine reaktionäre Kleinbürgertum zwingt ihnen direkt oder indirekt seinen Geschmack auf. Sie kommen von der Unterwerfung unter das Kleinbürgertum nicht los, denn das historische Schicksal hat diese Jünger der „reinen Kunst“ mit der tödlichen Schlinge der wirtschaftlichen Abhängigkeit fest an die Bourgeoisie gebunden.

Hören Sie, was Lachmann zu Michaline beim Anblick einer Gruppe prassender Schlemmer sagt:

„Und nähmst du Flügel der Morgenröte, so entgehst du doch dieser Sorte nicht. – Himmel, wie fing sich das alles an! – Und heut schneidet man Häcksel für diese Gesellschaft. – Kein Punkt, in dem man so denkt wie sie. Alles hüllenlos Reine wird runter gezerrt. Der schlechteste Lappen, die schmierigste Hülle, der elendste Lumpen wird heiliggesprochen. Und unsereiner muss doch das Maul halten und rackert sich doch für die Bande ab.“

Wo endet denn in solchem Fall ein künstlerisches Glaubensbekenntnis, das frei von widernatürlichen Banden mit der „Masse“ ist. In der Fiktion, der Illusion, dem Selbstbetrug.

Es kann sich wie ein Papierdrachen bis zu jenen Höhen erheben, von denen aus gesehen alle irdischen Dinge in einer grauen Bedeutungslosigkeit versinken. Aber selbst im Reich der Wolken bleibt die arme „freie“ Kunst immer an ein starkes Seil geknüpft, dessen „irdisches“ Ende die Faust des Kleinbürgers fest umklammert.

Aber uns erwartet noch eine kuriose Überlegung von Herrn Struve.

„Wir stellen uns vor,“ sagt er, „dass Hauptmann in Deutschland Gott weiß wie populär ist, indessen ist sein neues Stück bei der ersten Aufführung durchgefallen, und bei der zweiten war das nicht sehr große ‚Deutsche Theater‘ nicht einmal voll. Hauptmann, so scheint es, wird“ (beachten Sie: wird!) „uninteressant für das hiesige Publikum. Ich glaube, das ist ein schlechtes Zeichen für das Publikum, nicht für Hauptmann, bemerkt der Kritiker tiefsinnig und erläutert: Dieses verehrte Publikum ist offensichtlich zu stumpfsinnig für solche Dinge.“

Man kann nicht sagen, dass es von großem kritischem Scharfsinn zeugt, wenn man den Misserfolg des Stückes mit dem Stumpfsinn des Publikums erklärt: in dieser Erklärung wird vielmehr ein Fauxpas der verletzten Eigenliebe Struves selbst sichtbar. Das zeitgenössische russische „Publikum“ ist offensichtlich wenig geneigt, Herrn Struve zu folgen, der das Steuer verloren hat und von Marx zu Kant, von Kant zu Lassalle und Fichte, von Fichte zu Nietzsche schwenkt, und dies, wie sich zeigt, natürlich unter Gesichtspunkten, die man ebenfalls stumpfsinnig nennen kann. Aber diese simplifizierende kritische Methode, so schmeichelhaft für die verletzte Eigenliebe des Autors, ist völlig fruchtlos, wenn es darum geht, die Schicksale literarischer Werke zu erläutern.

Nein, nicht der Stumpfsinn des Publikums ist Grund des Misserfolges von Hauptmanns Drama oder von Struves jetzigen Äußerungen.

Das Publikum hat seine Gründe: das verehrte Kleinbürgertum hegt naturgemäß keine besonders zärtlichen Gefühle gegenüber dem hochtalentierten dramatischen Schriftsteller, der in seinen Webern ein so erschütterndes Bild der kapitalistischen Akkumulation der vierziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts zeichnete, ein Bild, das seine Bedeutung auch für das Leben unserer Tage noch nicht verloren hat. Das Publikum der „unbefriedigten“ gesellschaftlichen Gruppen aber kann und darf Hauptmann nicht verzeihen, dass er von jenem rühmlichen Weg abgewichen ist, den er einst mit dem genannten Stück betrat.

„Das Publikum hat doch gesunde Zähne, in seiner Seeleneinfalt beißt es die härtesten Nüsse auf! Segne, Herr, die menschliche Dummheit! Kühn ist es! Man ängstigt es nicht mit lauten Worten; es hält Berge für kleine Hügel und legt so meisterhaft dumm ein Sandkorn auf den Weg, dass der Kluge kopfüber zu Boden fliegt!“ (T. Hedberg, Gerhard Grimm, 1899, III, 182)

Als Hauptmann seine Weber schuf, schlug sein Herz teilnahmsvoll für die besten Gefühle der arbeitenden Masse. Dann enttäuschte ihn offensichtlich diese Masse, er drehte ihr den Rücken zu und begann, sich in die Aspekte des Seelendramas eines Helden zu vertiefen, der der Menge unverständlich war („Die versunkene Glocke“, „Michael Kramer“), und kam in der Person des alten Kramer zu der Überzeugung, dass der „Künstler der wahre Einsiedler“ ist.

Zu Beginn seiner noch kurzen literarischen Karriere suchte Herr Struve ein Betätigungsfeld für seine schriftstellerische Tätigkeit ungefähr an der gleichen Stelle wie Hauptmann, aber äußerst schnell kam er zu der Entdeckung, dass sogar die „Unbefriedigten“ vom „Wohlstandskult“ und von der „bürgerlichen Kultur“ befallen sind.

Hauptmann sucht Erholung für seine Seele in der „Kunst als Religion“, die vom Dichter ein völliges Einsiedlerdasein fordert. Herr Struve fand Ruhe, vielleicht zeitweise, in den Höhensphären der idealistischen Metaphysik.

Hier endet allerdings die Verwandtschaft. Die außerordentliche künstlerische Kraft Hauptmanns und das von ihm durchgemachte innere Drama, künstlerisch verkörpert in seinen Werken, sind imstande, zeitweise die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln.

Wir werden weder wie Hauptmann auf dem Gebiet der von der Wirklichkeit suspendierten Kunst ein Wirkungsfeld für den Kampf mit der „bürgerlichen Kultur“ suchen, noch in der Metaphysik des Transzendenten, wo die enttäuschte Seele Struves in der Gesellschaft einiger vergilbter absoluter Begriffe zeitweise Ruhe fand. Wir finden dieses Wirkungsfeld innerhalb der Gesellschaft selbst und werden uns unsere Waffen nicht aus den Arsenalen der Metaphysik besorgen.


Zuletzt aktualiziert am 12. September 2020