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Wostotschnoje Obosrenije, Nr. 117, 30. Mai/12. Juni 1901.
Übersetzung von Sozialistische Klassiker.
Nach dem russischen Text bei MIA.
Quelle: Sotschinenija, Band 4, Moskau-Leningrad 1926.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Über Dorfärzte klagt man bei uns sehr häufig sowohl mit Gründen als auch ohne ausreichende Gründe. Ärzte aber klagen über ihr Schicksal selten (zumindest in der Presse), doch indessen gibt es darüber zu klagen.
Ein intelligenter Mensch, der nicht selten gerade erst aus dem sogenannten Tempel der Wissenschaft hervorging, wird in eine wilde Einöde geworfen, in die Tiefe der Taiga, wo es keine intellektuellen Menschen, keine Bücher gibt, wo die Bevölkerung bis zum Extrem ungebildet und feindselig gegenüber der Nicht-Dorfmedizin ist, wo die Unzulänglichkeit der Mittel (Arzneien, Instrumente ...), die zur Hand sind, täglich und stündlich zwingt, in kränkende Geschäfte mit dem eigenen medizinischen Gewissen einzutreten.
Bei jenen riesigen Gebieten, die unseren Dorfärzten zugewiesen sind, die außerdem mit der Erledigung von gerichtsmedizinischen Funktionen belastet sind, müssen sie (die Ärzte) natürlich auch überaus vereinfachte Methoden der Heilpraxis ausarbeiten. Der ganze wissenschaftliche „Ballast“ verschwindet zur Zeit einer dringenden Abreise in entlegene Taigaansiedlungen allmählich, es bleiben bloß die elementarsten praktischen Methoden und Mitteilungen. Zu einer solchen selbstverständlich überaus unerwünschten „Demokratisierung“ der Dorfmedizin trägt ein sehr wesentlicher Umstand bei.
Ein Stadtmensch, der an alle „Momente“ der Lebenslage, auch einschließlich der Medizin, gesteigerte Ansprüche stellt, verlangt vom Arzt sowohl eine Diagnose als auch eine Prognose der Krankheit; dieser Umstand zwingt den Arzt immer „auf der Hut“ zu sein, weil eine auf eine falsch gestellte Diagnose begründete unrichtige Prognose natürlich die Selbstliebe des Arztes verletzt und dessen Reputation untergräbt.
Der eingeborene Dorfpatient – der Muschik – ist unvergleichlich einfacher als der Stadtpatient. Anders als der letztere interessiert er sich beinahe niemals, was für eine Krankheit er hat, und bloß in seltenen Fällen fragt er nach der Wahrscheinlichkeit ihres Ausgangs, wobei er durchaus von einer Antwort dieser Art befriedigt ist: „Es geschieht nach Gottes Willen“ ...
Auf solche Weise droht einem jungen Arzt, der in die Lebensbedingungen eines Dorfarztes versetzt wird, unumgänglich die Gefahr, zu „fallen“, sowohl in der Sphäre der medizinischen Theorie als auch im Gebiet der medizinischen Praxis zurückzubleiben. Infolge des Fehlens von äußeren seine Energie ermunternden Stimuli, entfaltet sich bei ihm eine gewisse moralische Schlamperei; das Bewusstsein sittlicher Verantwortung stumpft und klingt allmählich ab.
Die allgemeinen Bedingungen, in welche die Dorfmedizin gestellt ist – die Armut und Unkultiviertheit der Bevölkerung – sind offensichtlich nicht solcher Art, dass man sie durch irgendwelche speziellen Maßnahmen ändern könnte. Aber manche Korrekturen könnte man ungeachtet dessen, will ich meinen, zur Hand haben.
Solchen Korrekturen könnten zuallererst Kongresse der Bereichsärzte dienen.
Man muss natürlich nicht viel darüber sagen, dass derartige periodisch einberufenen Kongresse außerordentlich vielseitige und sehr günstige Resultate hätten. Der Umgang mit Menschen von gleichen wissenschaftlich-beruflichen Interessen, das Verlesen von Referaten, Debatten, – alles das würde auf den Dorfarzt außerordentlich wohltuenden gesellschaftlich-sittlichen Einfluss haben, würde für ihn die Rolle einer belebenden seelischen Erschütterung spielen, würde diesen sozusagen zwingen, „sich hochzuziehen“ und würde diesen auf solche Weise in beträchtlichem Maße vor demoralisierenden Einflüssen jener Bedingungen retten, welche ihm erlauben, aber ihn manchmal wirklich zwingen, eine Diagnose nach den Worten dritter Personen zu stellen, aber anstelle einer Prognose sich auf den Vorschlag zu beschränken, auf die Gnade Gottes zu vertrauen ...
Außer diesen allgemeinen, sich einer exakten Beachtung entziehenden Einflüsse hätte der Kongress sehr viele partielle, rein praktische Resultate. Es ist selbstverständlich möglich und notwendig, der vereinfachten Medizin für den Muschik, diesem „vereinfachten“ Menschen par excellence (schlechthin) entgegenzutreten, aber da der Dorfarzt in ein „vereinfachtes“ Milieu gestellt ist und mit „vereinfachten“ Mitteln ausgestattet ist, muss mit diesem Faktum gerechnet werden – zuallererst, natürlich, vom Arzt selbst. Und er erwägt: er versucht, ohne geeignete Arznei zu behandeln (aus Mangel an ihr); wegen dem Fehlen der erforderlichen Zahnarztinstrumente zieht er Patienten Zähne mit solchen Verfahren, welche, will ich meinen, schon zu den Zeiten von Hippokrates als veraltet erachtet wurden – allgemein versucht er auf jede Art und Weise, die unnachgiebige medizinische Theorie an den Haaren in eine noch weniger nachgiebige Dorfumgebung zu ziehen. Das erfolgreichste Resultat solcher Anstrengungen, d. h. der glücklichste Kompromiss zwischen der strengen medizinischen Theorie und den wahrlich jämmerlichen verfügbaren Mitteln der dorfmedizinischen Praxis, der Kompromiss, zu welchem in dem einen oder anderen partiellen Fall irgendeiner der Ärzte kam, würde auf dem Kongress Allgemeinbesitz.
Die Schaffung einiger Feldscherstationen in verschiedenen Orten des Gebiets; die zweckmäßigere Verteilung der Bereiche selbst; die relativen Vorteile von „stationären“ und „antistationären“ Systemen und ihre günstigsten Kombinationen in Abhängigkeit von örtlichen Bedingungen und Besonderheiten; eine rationellere Regelung der Dorf-Pockenimpfung; annehmbare und unter den örtlichen Bedingungen zugängliche Verfahren des Kampfes mit Epidemien; vollkommenere Verfahren der Lieferung von Medikamenten anstelle der Verfahren, die jetzt praktiziert werden und vollkommen unbefriedigend sind [1] – alle diese und viele andere Fragen erhielten, will ich meinen, auf den Gouvernements- und Kreis-Kongressen der Bereichsärzte die richtigste Formulierung und kompetenteste Lösung.
Steuerinspektoren, bäuerliche Leiter, Geistliche, Lehrer von Kirchengouvernements- und ministeriellen Schulen kommen zusammen – Ärzte aber werden aus irgendwelchen Gründen auf sich selbst, auf ihre persönlichen Erkenntnisse und praktische Findigkeiten gestellt.
Soweit wir gehört haben, gibt es im Kreis der Ärzte, zumindest im Irkutsker Gouvernement durchaus die Anerkennung der äußersten Wichtigkeit, man kann sagen der dringlichen Notwendigkeit einer gemeinsamen Erörterung gewisser herangereifter Fragen – und das bedeutet, dass die ganze Sache einer kompetenten Initiative überlassen bleibt.
Wenn man bei irgendeinem Teil-„Defekt“ des Dorfmechanismus durchaus eine bestimmte „kompetente Initiative“ zur Hilfe rufen kann (selbst wenn diese auf den Ruf nicht reagieren sollte), dann gibt es hier dennoch einen Teil Trost. Aber die Dorfwirklichkeit bietet viele solche düsteren Erscheinungen, vor denen die aufgeklärte Initiative der Aufgeklärtesten des Amtes ohnmächtig wird – hier ruft sogar nicht mal jemand. Und einer der düstersten Flecken auf dem düsteren Kolorit bleibt nach wie vor das Schicksal der bäuerlichen Frau. Die Hand rührt sich nicht, darüber zu schreiben, weil das bedeutet, sich zu wiederholen und zu wiederholen – aber warum, warum wiederholt sich das so erbarmungslos-quälend im Leben selbst?!
Bereits seit langem lernten wir auswendig:
Schicksal du, russisches Frauenschicksal! |
und weiter:
der trug kein Herz in der Brust, |
Diese Verse deklamieren wir auch, und unterlegen sie mit Musik, aber wir verlernten, denke ich, wirklich zu verstehen, dass sich hinter den Lauten der bekannten Wörter und in der seit langer Zeit bekannten Melodie Inhalte verbergen, die bis zum heutigen Tage voll unveränderlichem, unentrinnbarem Kummer sind.
Jahrhunderte flossen – alles strebte zum Glück, |
Und bis jetzt wird dieses Schicksal auf den Seiten der Familienbeziehungen nicht selten in der Terminologie ... der Gerichtsmedizin formuliert. Hier eine halbe Seite dieser weiblichen Martyrologie:
Genug von diesen Beispielen, die durchaus schwere Muschikhände charakterisieren. Keineswegs sollte man denken, dass die gebrachten Fälle in ihren außerordentlich grausamen Formen ungewöhnlich erscheinen – nicht im Geringsten: wenn sie sich auch von Hunderten anderen Anlässen derselben Ordnung unterscheiden, dann bloß durch jene Nebenumstände, dank welchen sie eine gerichtsmedizinische Formulierung erhielten ... Ja, der Muschik schlägt immer noch seine Ehefrau, schlägt sie im schweren, blutigen, verunstaltendem Kampf ...
Aber schlägt allein der Muschik seine Ehefrau? Nein, auch der „kulturelle“ Mensch schlägt sie, sogar der gezielt zur Anpflanzung ebendieser Kultur im dunklen Muschikmilieu herbeigerufene. Hier ein Beispiel. Im Dorf Ignatjew (Wolost von Nischeilimsk im Landkreis Kirenski) im Haus des Kaufmanns Tschernych wohnte bis März des laufenden Jahres der in hiesigen Orten sehr bekannte Hr. B., welcher seine Ehefrau systematischen Folterungen unterzog (wahrscheinlich auch jetzt unterzieht, aber bereits an einem anderen Platz). Dies war für niemanden ein Geheimnis, darüber sprach die ganze umliegende Bevölkerung, weil die Verprügelungen nicht selten öffentlich, auf der Straße, mit einer beträchtlichen Ansammlungen Neugieriger durchgeführt wurden. Als Werkzeuge der Verprügelungen dienten Stock, Revolver, sogar eine Deichsel, allgemein alles, was unter die Hände gelangte. Im Januar vergangenen Jahres warf Hr. B. die Ehefrau bei vierzig Grad Frost ohne Schuhe aus dem Haus, infolgedessen Frau B. sich den Fuß erfror. Am Ende vergangenen Jahres schlugen Hr. B. selbst und dessen Kutscher Jegor Frau B. auf der Straße, in Anwesenheit einer größeren Anzahl von Bauern; Frau B. schlug die Deichsel weg und schrie: „Hilfe, rettet mich!“, aber niemand entschied sich, sie zu retten, weil das gewagt gewesen wäre. Nach der grausamen Prügel wurde Frau B. von Jegor an Händen und Füßen gebunden, selbstverständlich auf Anordnung von Hr. B., welcher danach die Gebundene an den Haaren über den Boden schleifte und sie danach irgendwo in eine Rumpelkammer warf. Frau B. befreite sich etwas und schlug sich mit gebundenen Händen und halb gebundenen Füßen, blutig, halb angezogen, zum Bauern Nikolai K. durch, bei welchem sie auch einige Tage wohnte.
Es ist offensichtlich, dass solche „Beispiele“ wenig fähig sind, unter Bauern Hochachtung für die Frauenpersönlichkeit einzubürgern. Außerdem unterliegt allgemein dieser Bereich der Beziehungen, isoliert genommen, nicht äußeren Einflüssen; sie sind zu verwickelt, zu mannigfaltig verbunden mit den ganzen komplexen Bedingungen der bäuerlichen Existenz, dass man hier irgendetwas durch die Vermittlung von „Beispielen“ machen könnte, sogar von auf jede erdenkliche Weise der Nachahmung würdigen. Nein, hier sind radikalere Maßnahmen notwendig ...
Notwendig ist zuallererst, als Unterpfand der Hochachtung vor der fremden Persönlichkeit, das Heben der Selbsthochachtung beim Bauern selbst, das Erwachen des Bewusstseins der persönlichen Würde bei ihm, das ihm nicht erlauben würde, sich unterwürfig zu beugen, beim Weggehen die Mütze in der Hand zu halten, nicht nur vor jedem farbigen Uniformmützenband, sondern auch vor aufgedunsenen Fäusten von angesiedelten Verbannten. Aber dafür ist erforderlich, dass der Bauer aufhört über sich die legalisierte Rute und die illegalisierte, aber durchaus tatsächliche Faust zu fühlen, die aus dem Uniformmantel kommt. Aber dafür ist die allgemeine Änderung der bäuerlichen Rechtsordnung erforderlich, in der es allgemein eine Menge reiner Vorreformüberbleibsel [3] gibt. Aber dafür etc. ...
Oder auf der anderen Seite: für den kulturellen Aufschwung der Bauern ist ein materieller Aufschwung erforderlich, welcher, seinerseits, undenkbar ist, auf der einen Seite, ohne volle Auffrischung der rechtlichen Atmosphäre des bäuerlichen Daseins, auf der anderen ohne breiten Zufluss von Wissen in das bäuerliche Milieu – sowohl von allgemeinem als auch speziell landwirtschaftlichem. Aber dafür, wie auch in jeder anderen Sache, muss man die Pforte der gesellschaftlichen und privaten Initiative sperrangelweit aufstoßen, alle ihr den Weg versperrenden Behinderungen beiseite fegen. Aber dafür ...
Die Fortführung dieser logischen Kette stellt den persönlichen Gedanken des Lesers dar.
1. Manche Gebiete des Irkutsker Gouvernements haben im Jahre 1901 noch keine Medikamente erhalten; in früheren Jahren erhielten sie sie mal im erste Quartal des Jahres, mal im zweiten, mal im dritten ... Die im Landverkehr gesendeten Kästen mit Medikamenten gelangen nicht selten nicht dorthin, wohin sie bestimmt sind, gehen einige Hunderte Werst in eine andere Richtung, werden zurückgesandt, verlaufen sich dann abermals, während sie am Ort ihrer Bestimmung mit erbitterter Ungeduld erwartet werden.
2. Wir bringen im Folgenden Beispiele die zum Kreis von Kiren gehören.
3. Es wird häufig angemerkt, dass Sibirien kein Leibeigenschaftsrecht kannte. Dies ist selbstverständlich ein Faktum. Man darf jedoch dabei nicht vergessen, dass viele Rechtsbestimmungen, die aus den Beziehungen des Leibeigenschaftssystems abstrahiert wurden, auf die sibirische Bauernschaft im Staats-Fiskal-Interesse übertragen und bis zum heutigen Tag bewahrt wurden. Das heißt, in dem Maße in dem das Leibeigenschaftsrecht die Bindung an den Boden nicht nur im Interesse der Gutsbesitzer, sondern auch im Interesse des Staates begründete, in dem Maße kennt Sibirien dies Recht und duldet dessen Überbleibsel.
Zuletzt aktualiziert am 1. November 2024
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