MIA > Deutsch > Marxisten > Trotzki
Wostotschnoje Obosrenie, Nr. 285, 23. Dezember 1900/5. Januar 1901.
Übersetzung von Sozialistische Klassiker.
Nach dem russischen Text bei MIA.
Quelle: Sotschinenija, Band 4, Moskau-Leningrad 1926.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wir sibirischen Leser und Schriftsteller sehen infolge durchaus natürlicher Ursachen – des Fehlens von Semstwoinstitutionen bei uns – gewöhnlich auf Semstwoangelegenheiten mit den Augen eines außenstehenden Beobachters, obgleich auch wir unsere Meinung haben, doch die Meinung ist vollkommen platonisch. Wir nehmen jedoch an, dass wir uns, ob wir wollen oder nicht, diese Beziehung zu der Angelegenheit schnell abgewöhnen müssen: die Einführung von Semstwoinstitutionen in Sibirien ist bloß eine Frage der Zeit und ich denke, dass die Zeit nicht lang ist; sie ist so unausbleiblich wie auch, zum Beispiel, die vollzogene Einführung von öffentlichen Gerichten: sie wird durch die Verwicklung, Detaillierung der gesellschaftlichen Notwendigkeiten, Bedürfnisse und Ansprüche hervorgerufen, die neue, den zeitgenössischen Beziehungen entsprechendere Formen örtlicher Verwaltung erfordern.
Das verwickelte Leben verlangt neue Organe, welche – gerade auf Grund von dessen Kompliziertheit – Organe nicht zentralen, sondern örtlichen Charakters sein müssen und obendrein, in gewissen, empirisch-bestimmten Grenzen, selbst abwägend … Deshalb ist die Semstwo-Selbstverwaltung nicht die Erdichtung von Publizisten unrühmlichen Angedenkens, sondern „kategorischer Imperativ“ des Lebens; deshalb muss man auf tückische Anfragen und Vernehmungen einer bestimmten Sorte Publizisten ungefähr auf solche Weise antworten: wir finden es schwierig, zu bestimmen, gnädige Herrschaften, ob das Semstwoorgan wohlwollend oder übelwollend ist; aber dafür zweifeln wir nicht an, dass es in einem bestimmten Stadium der Entwicklung, das von uns bereits erreicht ist, ein erforderliches Organ ist und den ihm gebührenden Platz in der Wendung des allrussischen Lebens einnehmen wird.
Und diese unsere Zuversicht wird nicht im Geringsten durch den Umstand verletzt, dass die Semstwotätigkeit hier bereits eine nicht geringe Anzahl Jahre chronisch „bei Problemen“ verweilt, so dass das Interesse von Gesellschaft und Presse an Semstwoangelegenheiten und -institutionen nicht nur bei uns, in Sibirien, sondern sogar auch in „Russland“ gewöhnlich bei irgendwelchen außerordentlichen Anlässen wachgerufen wird. Das Interesse an den Semstwos erreicht in solchen Momenten die höchste Amplitude der Schwingung, beginnt danach zurückzugehen, bis es in einen friedlichen Rahmen passt, in dem wir auf der einen Seite Schriftstücke haben, auf der anderen den Eingang von Korrespondenz, grau wie ein Herbsttag, aus Anlass der Ausweitung des Schulnetzes eines Semstwo, der Gründung eines Krankenhaus eines anderen.
Wenn wir uns nicht irren, wurde nur ein Mal nach der Einführung der Semstwoinstitutionen großes Interesse an den Semstwo nicht durch die Vereinfachung der Tätigkeiten, sondern durch Erscheinungen vollkommen gegensätzlichen Charakters herbeigerufen. Wir reden über das Faktum, dass am Ende der 1880 Jahre die Semstwoversammlungen vom Ministerium für innere Angelegenheiten eingeladen wurden, sich aus Anlass von „in verschiedenen Gouvernements aufgekommenen Fragen und Vermutungen über Änderungen gewisser Beschlüsse zu den ‚Bestimmungen vom 27. Juni 1874‘ zu äußern“ … Viele Semstwoversammlungen äußerten, ungeachtet der Dringlichkeit der Arbeit und der Beschränktheit des kleinen Rahmens, in dessen Grenzen ihre Beurteilungen angefragt wurden, in Antworten auf die Ministeranfrage aus Anlass der Semstwoinstitutionen viele wahre und viele weitreichende Gedanken – Gedanken, welche nun, gerade an der Schwelle zum XX. Jahrhundert, auf den ersten Blick viel weiter von der Durchführung in der lebendigen Wirklichkeit entfernt sind als damals, am Ende der 1880 Jahre. Nehmen wir zumindest den grundlegenden Zug der Semstwos – ihren „nicht-ständischen“ Charakter … dessen Nichtständischsein mehr als problematisch ist: die bäuerliche und sogar allgemein nichtadlige Vertretung in Semstwoversammlungen ist so gering und in vielen Gegenden durch solche Bedingungen und Umstände verwickelt, dass Vertreter der Bauern nicht selten in Semstwoversammlungen eher als stumme Symbole des ständeübergreifenden Semstwoprinzips, als als „bevorzugte Leute“ zugegen sind, die bevollmächtigt wären, örtliche Angelegenheiten zu knüpfen und zu beschließen. Hier ist eine kleine Illustration des Gesagten. Im Gouvernement von Jaroslawl zum Beispiel steht ein Vertreter des Adels für 3.000 Desjatinen Land und für anderen Besitz im Wert von 7.000 Rubel mit 700 Rubel Semstwosteuer; ein Vertreter von nichtadligen Wählern stellt bereits 11.000 Desjatinen dar, 457.000 Rubel Wert anderen Besitzes und ein jährliches Entgelt von 8.000 Rubel; ein Vertreter der Bauern steht für 25.000 Desjatinen, anderen Besitz von 25.000 Rubel und Zahlungen von 6.000 Rubel. Im Gouvernement von Nowgorod stellt ein Vertreter der Adligen (nach Semstwoeinschätzung) eine Ertragskraft von 3.000 Rubel dar, ein Vertreter von Nichtadligen – 19.000 Rubel, ein Vertreter von Bauern – 43.000 Rubel. [1] Die Zahlen sprechen für sich, ungeachtet der Untauglichkeit des Vermögenskriteriums im gegeben Fall, das das adlige Standesprinzip dem bürgerlichen Prinzip des Vermögenszensus gegenüberstellt. Zahlen, die für jede Gruppe Beziehungen der Anzahl der Vertreter zur Anzahl der Vertretenen ausdrücken, wären viel aussagekräftiger, aber leider haben wir solche Zahlen nicht zur Hand.
Deshalb muss man zugeben, dass die Position, die von manchen (und obendrein nicht den schlimmsten) Teilen der russischen periodischen Presse gegenüber der Frage der Fixierung der Semstwobelastungen, die im laufenden Jahr Gesetz geworden sind, eingenommen wird, an beträchtlicher Einseitigkeit krankt, die – das stimmt – durch den scharfen Charakter der Lage durchaus erklärlich ist.
Man kann natürlich widersprechen, dass die Beschuldigung der Semstwos der ungenierten Verschwendungssucht, sogar der Geldverschwendung, die von den unverschämten Federn flinker Prachtkerle auf dem Strastnoj Boulevard in Moskau [2] ausgeht, falsch ist und sich nicht als Resultat einer gewissenhaften Untersuchung der Semstwofinanzen mit Ziffern und Fakten in den Händen darstellt, sondern die natürliche Frucht organischen Hasses auf das Prinzip gesellschaftlicher Selbstverwaltung ist, die den Semstwoinstitutionen zugrunde liegt. „Man muss selbst“, – sagt ein alter Semstwomann, – „aktiv an Semstwoversammlungen teilnehmen, um zu verstehen, wie beharrlich die Anforderungen des Lebens die entschlossensten Bestrebungen zu Sparsamkeit zunichte machen und selbst geizige Semstwomitglieder zwingen, Anhebungen der Planzuweisungen zu veranlassen. Im Verlauf unserer vierzehnjährigen praktischen Tätigkeit in Semstwos hörten wir jedes Jahr in Versammlungen zuallererst Reden über die Notwendigkeit der striktesten Sparsamkeit, aber am Ende der Versammlung gab es beinahe immer eine gewisse Anhebung des Finanzplans für die Ausgaben. So schwer ist es, mit den Anforderungen des tatsächlichen Lebens und der Logik der Notwendigkeiten zu kämpfen. In der Tat ist es sehr schwer, nicht von der strikten Sparsamkeit abzuweichen, wenn man mit eigenen Augen siehst, dass die Bevölkerung an Mangel an medizinischer Hilfe stirbt, dass die Mehrheit der Kinder unwissend bleibt, dass auf den Wegen kein Durchkommen ist etc.“ Russkaja Mysl, 1891, Nr. 9, S. 17.)
Im Ganzen kann man dem nur zustimmen. Aber wenn derselbe Semstwomann sagt, dass „das Semstwo sich an das Prinzip der Rechtsgleichheit aller Stände hält und nicht die Möglichkeit hat, wesentliche Erleichterungen für die Bauern bei der Zahlung der Semstwopflichten zu machen“ (a. a. O., S. 18), dann kann man nur hilflos die Arme heben: ist wirklich das „Prinzip der Rechtsgleichheit aller Stände“ in irgendwelcher Beziehung feindselig z. B. dem Prinzip der progressiven Einkommenssteuer gegenüber? Man darf außerdem nicht vergessen, dass das Bauernland dem „Prinzip der Gleichberechtigung aller Stände“ zum Trotz außer mit den Semstwo-, noch mit unvergleichlich mehr Steuern als das Land in Privateigentum belastet ist. Außerdem ist es allgemein kaum vernünftig, dem sehr absolut und abstrakt verstandenen „Prinzip der Rechtsgleichheit“ (ist das nicht ein Feigenblatt?) die realen Interessen der bäuerlichen Dorfarmut zum Opfer zu bringen. Wir bezweifeln im Übrigen nicht, dass in der betrachteten Frage die dominierende Rolle nicht dem nackten Rechtsprinzip, und dann noch in einer ziemlich „metaphysischen“ Auslegung, gehört, sondern den realen Interessen des großen Grundbesitzes, der in den Semstwoinstitutionen überhaupt nicht proportional vertreten ist. Es wäre in der Tat eine unverzeihliche Naivität, von Seiten von Publizisten zu fordern, dass der in den Semstwos vorherrschende große Grundbesitzer ein für allemal die selbstaufopfernde Praxis der progressiven Einkommenssteuer oder ein anderes Steuersystem annehmen werde, welches im Grunde auf der buchstäblich verstandenen Regel beruht: wem mehr gegeben ist, von den wird auch mehr gefordert.
Dazu, dass sich das Semstwo für diese Art des Systems der Selbstbelastung aussprechen könne (was keineswegs, wiederholen wir, das „Prinzip der Rechtsgleichheit aller Stände“ untergräbt, das einen juristischen, aber keinen ökonomischen Inhalt hat), ist erforderlich, dass in ihm die Interessen der wenig besitzenden und nichtbesitzenden Volksmassen durchaus proportional vertreten wären.
Zu dem Vorwurf, den sich das Semstwo wegen übermäßiger Belastung anhören muss, bringen die Verteidiger der Semstwos Erwägungen, welche man mit den folgenden Worten der weiter oben zitierten Semstwopersönlichkeit resümieren kann: „Die Semstwovertreter als Vertreter der örtlichen Selbstverwaltung sind gleichzeitig auch Zahlungspflichtige der Semstwosteuer und infolge dessen geradezu interessiert daran, dass die Semstwosteuern nicht beschwerlich seien, weil jede Zahlungsanweisung im Übrigen auch auf den ihnen gehörenden Besitz aufgeteilt wird“ (a. a. O., S. 18). Diese Erwägungen sind jedoch nur zur Hälfte wahr: denn das wirkliche Unglück besteht auch darin, dass jene Schichten, auf welche die Semstwosteuerlast (nicht allein, sondern als Ergänzung zu Staats-, Wolost- und Landsteuern) besonders schwer drückt, im Semstwo nur symbolisch vertreten sind.
Was ist aber die Schlussfolgerung hieraus? Uns scheint, dass sie sich nach dem Gesagten selbst aufdrängt: die Tür des Saals der Semstwoversammlungen Vertretern der Volksmassen breit öffnen – darin muss die gesunde Korrektur des zeitgenössischen Zustands der Semstwoselbstverwaltung bestehen. Nur in einem solchen Fall wird die Semstwobelastung eine Selbstbelastung werden, wonach der Vorwurf der Geldverschwendung und Verschwendungssucht an die Adresse der Semstwos gleichbedeutend mit dem Vorwurf der Selbstauslese, der böswilligen Vergeudung des eigenen Besitz werden würde, d. h. eine solche Art von Vorwurf, welcher in Anwendung auf die Bevölkerung der Gesamtheit des Staats eine solche Höhe von publizistischem Fieberwahn bedeuten würde, bis zu welcher sich erheben sogar die zu vielem fähigen Publizisten der Moskowskije Wjedomosti nicht fähig zu sein scheinen.
1. Alle Zahlen haben wir zur Bequemlichkeit der Lektüre an den letzten drei Stellen gerundet. Die Zahlen sind aus der Zeitschrift Mir Boschij entnommen.
2 Hier befand sich die Redaktion der reaktionären Moskowskije Wjedomosti. [Anmerkung der Sotschinenija]
Zuletzt aktualiziert am 1. November 2024