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Wir haben im vorherigen Artikel gezeigt, dass die parlamentarische Einrichtung lediglich im Dienste der jeweilig herrschenden Klasse steht. Damit war die Stellung schon gekennzeichnet, welche das Proletariat dem Parlamentarismus gegenüber einzunehmen hat. In einer Institution, die notorisch als Werkzeug der herrschenden Klasse funktioniert, muss das Auftreten der Arbeiter naturgemäß erfolglos sein. Am allerwenigsten ist an eine „praktische“ oder „positive“ Tätigkeit zu denken. Aber gerade auf derlei Tätigkeit legen die parlamentarischen Sozialdemokraten das Hauptgewicht. Auch der Verfasser des bekannten Artikels in der „Berliner Volks-Tribüne“ glaubt verstohlen an die Möglichkeit, im Parlament praktisch mitarbeiten zu können. Man gibt sich da einer verhängnisvollen Täuschung hin und verkennt gänzlich den Charakter der parlamentarischen Einrichtung.
Mitarbeiten! Mit wem? Nun, mit den Vertretern der besitzenden Klasse! Glaubt man denn aber, dass die Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats so übereinstimmender Natur seien, um ein positives Zusammenarbeiten der beiden Klassen zu ermöglichen? Wohl kaum! So schroff, wie sich Ausbeuter und Ausgebeutete im wirtschaftlich-sozialen Leben gegenüberstehen, wird dies auch im Parlament der Fall sein. Hier wie dort müssen die gleichen Gegensätze zusammenstoßen, dieselben Kämpfe sich entwickeln. Denn jede Klasse wird selbstverständlich ihre eigenen Interessen vertreten. Diese Konflikte werden umso heftiger sein, je einschneidender die im Parlament gerade zur Diskussion stehende Frage ist. Und schließlich gibt doch das Interesse der Besitzenden den Ausschlag. Letztere bilden ja noch immer die parlamentarische Mehrheit. Sie werden jede Maßregel verhindern, die nicht zugleich ihrer Klasse nützt; und es wird alles Gesetzeskraft erlangen, sobald es Bedürfnis und Sicherheit des Besitzes erheischen. Wir könnten für unsere Darstellung hundertfache Beispiele anführen. Es möge jedoch nur auf einen typischen Fall Bezug genommen sein: auf der Beratung des Arbeiterschutzgesetzes im deutschen Reichstage. Das Gesetz kam genau so zustande, wie es den Interessen der Bourgeoisie entsprach. Nicht ein Deut vermochten die Sozialdemokraten daran zu ändern! Und so geht es ohne Ausnahme. Nach langem Redekampf werden die Abgeordneten des Proletariats einfach überstimmt, wenn man sie nicht schon vorher niedergeschrieen hatte. Alles Debattieren hat nichts genutzt. Zeit und Kraft sind zwecklos verschwendet worden.
So liegt die Sache. Angesichts dieser Umstände muss man sich wundern, dass das Proletariat von der Sozialdemokratie noch immer hartnäckig auf den parlamentarischen Weg verwiesen wird. Die Erfahrung sollte doch gerade den Arbeitervertretern deutlich genug gezeigt haben, worin das Wesen des Parlaments besteht. Wo man auf theoretischem Wege nicht zur Erkenntnis dieser Einrichtung gelangte, da hätte dies sicher auf dem Wege der Praxis geschehen müssen. Und trotzdem wird der Parlamentarismus als das Universalheilmittel für alle Krankheiten der Gesellschaft gepriesen! Demgegenüber betonen wir wieder und wieder, dass für das Proletariat auf dem parlamentarischen Wege nichts erreicht werden kann. Will man dennoch praktisch mitarbeiten, so wird die Partei naturnotwendig in das possibilistische Fahrwasser gedrängt. Die Tatsachen haben dies gerade in Deutschland gelehrt. Man sucht die Forderungen so zu stellen, dass sie von den herrschenden Klassen akzeptiert werden können. Der Abgeordnete Singer1* hat es im Reichstage klipp und klar ausgesprochen – und dazu im Namen der Partei! Damit wird die Sozialdemokratie auf das Niveau einer simplen Reformbewegung herabgedrückt. Man begnügt sich mit sozialer Quacksalberei und sucht Schäden der Gesellschaft durch Flickarbeit auszubessern. Auf diese Weise kommt man dahin, für eine Sozialreform einzutreten, die von der besitzenden Klasse in ihrem Interesse vorgeschlagen wird. Es tritt hier tatsächlich ein, was Engels im Vorwort zu seiner „Wohnungsfrage“ sagt: Man kann je nach Umständen selbst mit den reaktionärsten Bestrebungen zur sogenannten „Hebung der arbeitenden Klasse“ sympathisieren!2* Von den großen Zielen der proletarischen Bewegung ist dann keine Rede mehr. Die Emanzipationsbestrebungen werden verdunkelt, in den Hintergrund gedrängt oder gar erstickt. Der revolutionäre Gedanke der Massen wird eingelullt durch den Glauben an den Parlamentarismus.
Und was springt bei dieser ganzen possibilistisch-reformerischen Parlamentsarbeit der Sozialdemokratie heraus? Gar nichts! Sie bietet für das Proletariat nicht einmal einen Augenblicksvorteil, obwohl dies so oft behauptet wird. Man feilscht und bettelt um kleinlich Dinge; man sucht den Gegnern die Nützlichkeit dieser oder jener Maßregel plausibel zu machen; um ein Almosen zu erlangen, kommt man den Repräsentanten des Besitzes entgegen und zeigt sich zu Konzessionen bereit. Und das Ende vom Lied? Die Gegner haben sich weder durch die Reden, noch durch die Versprechungen der Sozialdemokratie belehren lassen – sie machen, was ihnen gefällt! Wenn Vertreter der herrschenden Klasse wirklich einmal auf sozialdemokratische Anträge oder Vorschläge eingehen, so tun sie es gewiss nur im eigenen Interesse – nicht um der Sozialdemokratie willen und nicht aus Sympathie für die Arbeiter. Meist glaubt die besitzende Klasse, durch scheinbares Entgegenkommen dieser Art den „Plebs“ zufrieden und gefügig zu erhalten. Bei all’ der Reformerei muss das Proletariat schließlich von Glück sagen, wenn seine Lage nicht schlimmer wird. Es bleibt nach wie vor eine ausgebeutete, unterdrückte und darbende Klasse. So wird der Bankrott der praktischen Mitarbeit veranschaulicht!
Zu den geschilderten Konsequenzen muss die praktische Tätigkeit in den gesetzgebenden Körperschaften unabwendbar führen. Die Abgeordneten mögen die besten Absichten haben, die ehrlichsten Männer sein, ihrer parlamentarische Mitarbeit wird sie unfehlbar in den kleinbürgerlich-possibilistischen Sumpf treiben. Wir haben nie den Glauben gehegt, dass beispielsweise Bebel, Liebknecht usw. infolge persönlicher Schlechtigkeit ihren revolutionären Prinzipien von ehedem untreu geworden seien. Nein, ihre praktische Tätigkeit im Parlament hat sie korrumpiert! Und in dieser Weise wird es weiter gehen, so lange das Proletariat noch Abgeordnete wählt. Man sieht also, welche Gefahr in der positiven Mitarbeit liegt. Grund genug, die Arbeiterklasse davon frei zu halten. Wirksam verhindert kann die Gefahr aber nur werden, wenn man auf jede parlamentarische Beteiligung überhaupt verzichtet.
Diesen Verzicht wird man um so eher leisten können, als ja das Proletariat von der Tätigkeit im Parlament in keinem Falles einen praktischen Nutzen hat: weder von einem radikalen, noch von einem gemäßigten, reformerischen Auftreten der Abgeordneten. An der Klassenlage der Arbeiter wird so und auch nur so nichts geändert. Um hier Wandel zu schaffen, müssen ganz andere Wege beschritten werden.
Wir stehen mit unserer Zurückweisung der positiven Tätigkeit keineswegs vereinzelt da. Selbst Leute, die in sozialdemokratischen Kreisen unbestritten als Autoritäten gelten, teilen unseren Standpunkt. Karl Marx, der so oft gegen uns zitiert wird, hat beispielsweise nirgends der praktischen Politik das Wort geredet. Er war sich über den Charakter des Parlaments viel zu klar, als dass er den gesetzgeberischen Weg hätte empfehlen können. Vielmehr setzte er alles auf die soziale Revolution. Den Parlamentarismus betrachtete er lediglich als Agitationsmittel. Hätte er aber gesehen, wohin die deutsche Sozialdemokratie auf dem parlamentarischen Wege geraten ist, dann würde er mit uns jede Beteiligung am Parlament bekämpft haben. Und Friedrich Engels hat sich vollends in nicht misszuverstehender Weise gegen die positive Mitarbeit ausgesprochen. Für ihn hat die allgemeine Wahlbeteiligung überhaupt nur den Zweck, die Reife der Arbeiterklasse zahlenmäßig festzustellen – nichts weiter.1 Was heute praktische Tätigkeit genannte wird, bezeichnet er schlechtweg als kleinbürgerlichen Sozialismus, als soziales Flickwerk usw. Das erwähnte Vorwort zur „Wohnungsfrage“ schrieb er, nachdem im Jahre 1885 der sozialdemokratische Arbeiterschutzgesetz-Entwurf im Reichstage eingebracht worden war und die Fraktion mancherlei andere Streiche verübt hatte. Die Stelle, auf welche wir schon oben anspielten, lautet vollständig: „In der Sozialdemokratischen Partei selbst, bis in die Reichstagsfraktion hinein, findet ein gewisser kleinbürgerlicher Sozialismus seine Vertretung. Und zwar in der Weise, dass man zwar die Grundanschauungen des modernen Sozialismus und die Forderung der Verwandlung aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum als berechtigt anerkennt, aber ihre Verwirklichung nur in entfernter, praktisch unabsehbarer Zeit für möglich erklärt. Damit ist man denn für die Gegenwart auf bloßes soziales Flickwerk angewiesen und kann je nach Umständen selbst mit den reaktionärsten Bestrebungen zur sogenannten "Hebung der arbeitenden Klasse" sympathisieren.“3* In diesen Worten liegt ein vernichtendes Urteil über die praktische Mitarbeit im Parlament. Wir brauchen ihnen nichts mehr hinzuzufügen!
Noch schärfer hat sich Liebknecht in seinen guten Jahren gegen die positive Mitarbeit ausgesprochen. Seine im Jahre 1869 erschienene Broschüre4* bekämpft sogar den Parlamentarismus in jeder verkappten Gestalt. Aber wir sehen von diesem Parteiführer völlig ab, da er – seiner eigenen Erklärung zufolge – nötigenfalls an einem Tage vierundzwanzig Mal die Taktik ändert.
Es wurde oben dargetan, wie aussichtslos die ganze praktische Mitarbeit sei. Hier möge noch auf einen weiteren Umstand hingewiesen werden. Der Sozialdemokratie fehlen zur Zeit alle Mittel, proletarische Forderungen auf dem politischen Wege wirklich zur Durchführung zu bringen. Die staatliche Macht steht im Dienste der besitzenden Klasse und wird, solange sie vorhanden ist, sozialistische Reformen zu vereiteln wissen. Schon der Bundesrat5* bildet einen festen Damm gegen eine derartige Gestaltung der Dinge. Er steht über dem Reichstage und lässt dessen Beschlüsse einfach in den Papierkorb verschwinden, sobald sie ihm nicht gefallen. Würde also ein sozialdemokratischer Antrag aus irgendwelchen Ursachen wirklich angenommen, so könnte er nimmermehr Gesetzeskraft erlangen, wenn ihn der Bundesrat nicht billigt. Das dürfte aber allen Beschlüssen passieren, die dem Proletariat tatsächlich nützen und eine andere Gesellschaftsklasse beeinträchtigen. Selbst eine sozialdemokratische Reichstagsmajorität könnte auf diese Weise wirkungslos gemacht werden – abgesehen davon, dass der Staat und herrschende Klasse hierzu noch ganz andere Mittel zur Verfügung hätten, so beispielsweise die Kompanie Soldaten, von der Liebknecht in seiner bekannten Broschüre redet. Ehe der parlamentarische Weg für die Arbeiter nutzbar werden könnte, müssten somit erst der Staat und die Klassenherrschaft beseitigt sein. Man stünde vor der Notwendigkeit, zur Revolution zu greifen, die aber doch von der Sozialdemokratie feierlich abgeschworen ist. Und wäre jener Zweck schließlich dennoch durch eine revolutionäre Erhebung erreicht worden, dann würde man bei der Neuausrichtung der Gesellschaft überhaupt nicht mehr dem alten Parlamentarismus fragen.
Aus alledem geht hervor, dass dem Parlament in der ganzen proletarischen Entwicklung eine entscheidende oder auch nur einflussreiche Rolle nicht zufallen wird. Alle diesbezüglichen Gesellschaftsumwälzungen werden sich ohne parlamentarische Intervention vollziehen.
In sozialdemokratischen Kreisen versteigt man sich aber tatsächlich zu der ungeheuerlichen Illusion, auf dem Wege des Parlamentarismus in die sozialistische Gesellschaft zu gelangen. Man träumt von einer Reichtstagsmehrheit, die einfach den Sozialismus dekretieren wird. Es sind allerdings nur wenige naive Köpfe, die an diesen Unsinn glauben und es sei hier ausdrücklich betont, dass der Artikelschreiber der „Volks-Tribüne“ nicht zu ihnen gehört. Aber man muss zugeben, dass derartige Erwartungen notwendig aus der positiv-parlamentarischen Tätigkeit hervorgehen. Gerade hierin liegt die größte Gefahr der praktischen Mitarbeit im Parlament.
Allerdings wird die Gefahr der praktischen Tätigkeit im Laufe der Zeit immer geringer werden. Denn die Möglichkeit der positiven Mitarbeit schwindet umsomehr, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortschreitet. Die Klassengegensätze spitzen sich stetig zu; der Interessenwiderstreit führt unaufhaltsam zu sozialen Kämpfen von nie geahnter Heftigkeit. Dann wird eine friedlich-parlamentarische Unterhandlung zwischen den sich drohend gegenüberstehenden Gesellschaftsklassen von selbst zur Unmöglichkeit. Das Proletariat muss notgedrungen auf die positive Mitarbeit verzichten. Es wird ausschließlich auf den Boden des Klassenkampfes gedrängt. Und es wird die Entscheidung fallen – hier wird es siegen!
1 Vgl. Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates.
1* Paul Singer (1844-1911) 1884-1911 Mitglied des Reichstages.
2* Vgl. MEW 21, S. 328, http://mlwerke.de/me/me21/me21_325.htm
3* Vgl. MEW 21, S. 328, http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_325.htm
4* Vgl. Wilhelm Liebknecht: Über die politische Stellung der Sozialdemokratie, insbesondere mit Bezug auf den Norddeutschen „Reichstag“ von 1869.
5*„Im Deutschen Kaiserreich […] gab es […] einen Bundesrat, der als Vertretung der Länder wirkte. Die Vertreter dieses Bundesrates wurden von den Fürsten oder Stadtrepubliken bestimmt und bildeten damit ein Gegengewicht zum einigermaßen demokratisch gewählten Reichstag. Dieser Bundesrat hatte zumindest verfassungsrechtlich eine sehr starke Stellung: Alle Gesetze bedurften seiner Zustimmung, aber auch die Auflösung des Reichstages oder eine Kriegserklärung. Die Stimmverteilung hing mit der Fläche der einzelnen Länder zusammen.“ Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesrat_(Deutschland)#Deutsches_Reich_und_Weimarer_Republik
Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007