Wilhelm Liebknecht

Über die politische Stellung der Sozialdemokratie, insbesondere mit Bezug auf den Norddeutschen „Reichstag“

(1869)


Vortrag in der am 1. Mai 1869 abgehaltenen Versammlung des Berliner demokratischen Arbeitervereins. Im selben jahr erstmals als Broschüre veröffentlicht.1*
Dieser Text aus Wilhelm Liebknecht, Kleine politische Schriften, Frankfurt/M. 1976, S.14-30.
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Da es mir im Reichstag diesmal nicht gelungen ist, zum Wort zu kommen, habe ich mit doppelter Freude diese Gelegenheit zur Darlegung meines sozialpolitischen Standpunktes ergriffen.

Die Frage: welche Stellung hat die Sozialdemokratie im politi­schen Kampfe einzunehmen? beantwortet sich leicht und si­cher, wenn wir uns über die Untrennbarkeit von Sozialismus und Demokratie klargeworden sind. Sozialismus und De­mokratie sind nicht dasselbe, aber sie sind nur ein verschiede­ner Ausdruck desselben Grundgedankens; sie gehören zueinan­der, ergänzen einander, können nie miteinander in Wider­spruch stehen. Der Sozialismus ohne Demokratie ist After­sozialismus, wie die Demokratie ohne Sozialismus Afterdemo­kratie. Der demokratische Staat ist die einzig mögliche Form der sozialistisch organisierten Gesellschaft. Alle Gegner der Bourgeoisie stimmen mit der negativen Seite des Sozialismus überein. Wagener und der Bischof Ketteier, die katholischen Pfaffen des österreichischen Reichsrates, die protestantischen Junker des preußischen Musterstaats, sie alle verdammen die Bourgeoisie ebenso laut, gebrauchen die nämli­chen Schlagwörter gegen sie wie der radikalste Sozialist. Dies zeigt, daß die Bekämpfung der Bourgeoisie an sich nicht nur nicht demokratisch ist, sondern den reaktionärsten Motiven entspringen kann. Hier tritt sofort die Notwendigkeit zutage, neben der negativen Seite des Sozialismus die positive hervor­zuheben, welche uns von jenen Reaktionären unterscheidet, und vor allem: außer dem sozialen auch den politischen Kampf zu führen, und zwar in vorderster Reihe. Weil wir die Untrenn­barkeit der Demokratie und des Sozialismus begriffen haben, nennen wir uns Sozialdemokraten. In diesem Namen liegt unser Programm. Programme sind aber nicht dazu da, mit dem Mund bekannt und mit der Tat verleugnet zu werden; sie sollen die Richtschnur unseres Handelns sein.

Wenn wir uns auf den sozialen Kampf beschränken oder dem politischen nicht die entsprechende Wichtigkeit einräumen, so wird die Gefahr heraufbeschworen, daß unsere Feinde von dem bestehenden Klassengegensatz Gebrauch machen und nach der Maxime „divide et impera“ (teile und herrsche!) bald mit der Bourgeoisie gegen die Arbeiter, bald mit den Arbeitern gegen die Bourgeoisie liebäugeln. Dieses Doppelspiel kennzeich­net den modernen Cäsarismus2*, der wesentlich auf der Aus­beutung des Klassengegensatzes beruht. In Frankreich „ret­tet“ das Empire die Bourgeoisgesellschaft heute vor den Arbei­tern und kokettiert morgen mit den Arbeitern, um die geäng­stigte Bourgeoisie in sein Garn zu treiben. Hier in Preußen kopiert der Cäsarimus auch in diesem Punkt das französische Vorbild und klopft abwechselnd der Bourgeoisie und den Arbeitern auf die Schulter; und so ist es gekommen, daß der Nationalliberalismus, das heißt die als politische Partei sich darstellende Bourgeoisie, in der preußischen Regierung ihr Heil gegen die Arbeiter sieht, während betörte Arbeiter — hoffent­lich nicht viele, trotz der systematischen Korruption von oben her — von derselben Regierung Schutz gegen die Bourgeoisie erwarten.

Soll die soziale Bewegung nicht dem Cäsarimus zugute kommen, so muß der Sozialismus den politischen Vorkampf über­nehmen.

Vor allen Dingen gilt es eins festzustellen: die soziale Bewe­gung ist ein revolutionärer Umgestaltungsprozeß, der sich nicht über Nacht vollziehen kann. Die soziale Frage gleicht nicht jener Fabelpflanze, deren Blüte, nachdem sie ein Jahr­hundert in der Knospe geschlummert, plötzlich mit einem Knall aufspringt. Das Wort Revolution hat zweierlei Bedeu­tungen. Einmal versteht man darunter den einfachen Sturz einer Regierung, der das Ergebnis einer kurzen Straßen­schlacht sein kann. Das ist der engere Sinn des Wortes. Der wei­tere umfaßt den ganzen Entwicklungsprozeß eines neuen Ge­sellschaftsorganismus, der sich die entsprechende Staatsform zu schaffen hat. Und dieser revolutionäre Prozeß, der auch in den friedlichen Perioden nicht ruht, kann wohl beschleunigt, nicht aber willkürlich durch irgendein wundertätiges Rezept auf ein beliebiges Zeitminimum reduziert werden. Die Bourgeoisie brauchte ein halbes Jahrtausend, um sich zu ihrer heutigen Macht zu entfalten. Das Proletariat, das die auf dem Lohnverhältnis beruhende bürgerliche Produktionsweise abzuschaffen und mit der Lohnsklaverei die Klassenherrschaft zu beseitigen hat, wird seine Aufgabe nicht in wenigen Jahren zu lösen vermögen. Die moderne proletarische Revolution wird allerdings nicht so lange dauern als die nun hinter uns liegende Bourgeoisrevolution — im Zeitalter des Dampfes und des elektrischen Telegraphen schreitet die Menschheit rascher vorwärts, größere Massen sind der Kultur erschlossen, die Armee, welche für die neuen Ideen streitet, hat ein weiteres Rekrutierungsgebiet.

Aber die neue Gesellschaft steht in unversöhnlichem Wider­spruch mit dem alten Staat. Im Feudal-, Polizei- und Mi­litärstaat kann sie sich nicht entwickeln. Wer die neue Gesell­schaft will, hat daher vor allem auf Vernichtung des alten Staates hinzuwirken. Unter den jetzigen Verhältnissen ist die Sozialdemokratie deshalb für die rein soziale Frage noch vor­wiegend auf das Feld der Theorie angewiesen. Für die soziale Praxis muß sie sich erst den staatlichen Boden erkämpfen.

Damit ist die Stellung der Sozialdemokratie zur „Neugestal­tung Deutschlands“ gegeben. Die „Tat“ des Jahres 18663* ist für Deutschland, was für Frankreich der Staatsstreich des 2. Dezember 18524* war. Der Staatsstreich Bismarcks, gleich dem Napoleons, richtete sich gegen die Demokratie. Nicht das Gewaltsame dieser Tat ist es, was sie uns verdammenswert macht — denn wie der Fürsten, so ist auch der Völker letztes Wort die Gewalt —, sondern, daß sie in Frankreich zugunsten einer Schar von verworfenen Abenteurern, in Deutschland zugunsten eines nicht mehr existenzberechtigten Standes, des Junkertums, begangen wurden.

Der sogenannte „preußische Verfassungskonflikt“5* war ein Versuch des Volkes, voran die Bürgerklasse, durch parlamen­tarische Mittel die Staatsmacht zu erlangen. Das Jahr 1866 hat das parlamentarische Ringen zu einer Spiegelfechterei herabge­würdigt, den wahren Kampfplatz auf ein anderes Gebiet verlegt. Der Norddeutsche „Reichstag“ hat trotz des allgemei­nen Stimmrechts absolut keine Macht, er hat keine be­schließende, nur eine beratende Stimme und kann, weil macht­los, von der Demokratie nicht als Schlachtfeld zur Gewinnung der Macht benutzt werden.

Ebenso wie die französische Demokratie dem Kaiserreich, hat die deutsche Demokratie dem Norddeutschen Bund6* mit allem, was drum und dran hängt, negierend, feindlich gegen­überzustehen. Tritt sie aus dieser negierenden Haltung heraus, so gibt sie nicht bloß ihr Prinzip und damit sich selbst auf, «lindern verstößt auch gegen die einfachsten Regeln der Praxis. Ich komme nun zu der Frage: Hat die Demokratie überhaupt zu dem „Reichstag“ zu wählen? Ob wählen oder nicht wählen, ist bei allgemeinem Stimmrecht nur eine Frage der Nützlich­keit, nicht eine Prinzipienfrage. Wir haben ein Recht zu wählen - der Umstand, daß das Recht oktroyiert worden, beraubt uns nicht unseres natürlichen Rechts —, und wenn wir einen Vorteil dabei sehen, so wählen wir. Von diesem Gesichtspunkt aus faßten wir in Sachsen bei Berufung des „Reichstags“ die Sache auf. Ein Teil war aus Nützlichkeitsgründen gegen, ein anderer für das Wählen. Für das Nichtwählen wurde geltend gemacht, daß es dem Volk die Rechtlosigkeit klarer zum Bewußtsein bringen, für das Wählen, daß bei Enthaltung der Demokratie die Gegner in den alleinigen Besitz der Red­nerbühne gelangen, allein das Wort haben würden und so leichter das Rechtsgefühl des Volkes verwirren könnten. Diese Erwägung schlug durch — man entschied für das Wählen. Meine Ansicht ging dahin, daß die von uns gewählten Vertre­ter mit einem Protest in den „Reichstag“ eintreten und ihn dann sofort wieder verlassen sollten, ohne jedoch ihr Mandat niederzulegen. Mit dieser Ansicht blieb ich in der Minorität; es wurde beschlossen, daß die Vertreter der Demokratie jede ihnen passend dünkende Gelegenheit benützen könnten, um im „Reichstag“ ihren negierenden und protestierenden Stand­punkt geltend zu machen, daß sie sich aber von den eigent­lichen parlamentarischen Verhandlungen fernzuhalten hätten, weil dies eine Anerkennung des Nordbundes und der Bis­marckschen Politik einschließt und das Volk nur über die Tatsache täuschen kann, daß der Kämpf im „Reichstag“ bloß ein Scheinkampf, bloß eine Komödie ist. An dieser Richt­schnur haben wir in der ersten und zweiten Session des „Reichstages“ festgehalten. Bei Beratung der Gewerbeord­nung, welche den Hauptgegenstand der gegenwärtigen Session bildete, glaubten einige meiner Parteigenossen im Interesse der Arbeiter und zu propagandistischen Zwecken eine Ausnahme machen zu müssen. Ich war dagegen. Die Sozialdemokratie darf unter keinen Umständen und auf keinem Gebiet mit den Gegnern verhandeln. Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage besteht. Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln, heißt sein Prinzip opfern. Prinzipien sind unteil­bar, sie werden entweder ganz bewahrt oder ganz geopfert. Die geringste prinzipielle Konzession ist die Aufgebung des Prin­zips. Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentiert; wer parla­mentiert, paktiert.

Wir haben ein lehrreiches und warnendes Exempel an der Fortschrittspartei. Zur Zeit des sogenannten preußischen Verfassungskonflikts ließ sie es nicht an schönen und auch kräftigen Reden fehlen. Mit welcher Energie protestierte sie nicht gegen die Reorganisation — in Worten! Mit welcher „Gesinnungstüchtigkeit“ und welchem „Talent“ befürwortete sie nicht die Rechte des Volkes — in Worten! Aber die Regie­rung kümmerte sich nicht um die Proteste, nicht um die Rechtsdeduktionen. Sie ließ der Fortschrittspartei das Recht und behielt und übte die Gewalt. Und die Fortschrittspartei? Statt auf den parlamentarischen Kampf zu verzichten, der unter solchen Umständen eine schädliche Albernheit geworden war, statt von der Rednertribühne abzutreten, die Regierung zum nackten Absolutismus zu zwingen und an das Volk zu appellieren — fuhr sie, in den eigenen Phrasen Befriedigung findend, unverdrossen fort, Proteste und Rechtsdeduktionen in die leere Luft zu hauchen und Beschlüsse zu fassen, von denen jedermann wußte, daß sie wirkungslos sein würden. So ward das Abgeordnetenhaus aus einer politischen Arena in ein Komödienhaus verwandelt. Das Volk hörte stets dieselben Reden, sah stets dieselbe Resultatlosigkeit, und es wandte sich ab, erst mit Gleichgültigkeit, dann mit Ekel. Das Jahr 1866 wurde möglich. Die „schönen“, „kräftigen“ Oppositionsreden der preußischen Fortschrittspartei haben der Blut-und-Eisen-Politik den Boden geschaffen — sie waren die Grabreden der Fortschrittspartei selbst. Im eigentlichsten Sinne des Wortes hat die Fortschrittspartei sich totgeredet. Lassalle — daran muß ich hier erinnern, und vor allem rufe ich es den anwesenden Mitgliedern des von ihm gestifteten Vereins ins Gedächtnis —, Lassalle verurteilte auf das entschie­denste die Verfahrensweise der Fortschrittspartei und sagte die Folgen voraus. Er riet den Abgeordneten, vom parlamentari­schen Schauplatz zurückzutreten und ihre Mandate niederzule­gen. Leider ging er aber nicht so weit, die Steuerverweigerung zu fordern, damals das einzige und ein sicheres Mittel, die Regie­rung zu Paaren zu treiben. Doch, wie dem auch sei, jedenfalls stellte Lassalle das Verkehrte und Verderbliche der parlamen­tarischen Schönrederei, des Redens um des Redens willen, ins rechte Licht.

Wenn die Demokratie jetzt denselben Fehler begeht wie vor sechs Jahren die Fortschrittspartei, dann wird die gleiche Ursache die gleiche Wirkung hervorbringen. Doch auch ganz abgesehen von dem eigentlichen politischen Standpunkt hat eine Beteiligung unserer Partei an den Parla­mentsdebatten nicht den mindesten praktischen Nutzen. Daß bei der Zusammensetzung des „Reichstags“ nicht daran zu denken ist, prinzipiell wichtige Anträge in unserem Sinn durchzusetzen, das wird mir von vornherein zugestanden werden.

„Aber“, meint der eine oder andere, „im Reichstag haben wir die beste Gelegenheit, die Prinzipien der Sozialdemokratie zu entwickeln.“ Gelegenheit dazu haben wir, allein sicherlich nicht die beste, nicht einmal eine gute.

Glauben Sie, daß der „Reichstag“ seine Rednerbühne als Katheder gebrauchen läßt? Nehmen Sie an, ein Marx wollte den Abgeordneten eine Reihe theoretischer Vorträge halten, wie lange, wie oft würde man ihn anhören? Vielleicht einmal aus Neugierde, aber dann nicht mehr.

An eine gesetzgeberische Einwirkung, wie gesagt, ist nicht zu denken; welchen Zweck soll denn um Himmels willen die Darlegung unserer Prinzipien im „Reichstag“ haben? Etwa die Bekehrung der Mitglieder? Diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, wäre mehr als kindlich, wäre kindisch. Ebenso praktisch würde es sein, unsere Prinzipien den Meeres­wogen vorzuplaudern — und nicht so lächerlich. Die Braun und Konsorten wissen sehr gut, was wir wollen. Ihnen gegen­über, wie überhaupt den im Reichstag fast ausschließlich ver­tretenen herrschenden Klassen gegenüber ist der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Macht­frage, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfeld zu lösen ist, gleich jeder anderen Machtfrage. „Ja, an eine Einwirkung auf den 'Reichstag' selbst denken wir auch nicht, was wir wollen, ist, daß die Tribüne des Reichs­tages dazu benutzt werde, um zu dem Volk da draußen zu reden.“

Recht schön. Auch ich habe die Tribüne des Reichstages sei­nerzeit so benutzt und werde sie seinerzeit wieder so benutzen. Allein, ist sie denn der geeignete Ort für theoretische Entwick­lungen? Das Ablesen ist im „Reichstag“ verboten, und Sie werden mir alle zugeben, daß der geübteste Redner — voraus­gesetzt, was im „Reichstag“ nicht der Fall ist, man höre ihn ruhig an — nicht imstande ist, eine wissenschaftliche Arbeit so vollendet aus dem Kopfe vorzutragen und den Stenographen zu diktieren, als er sie daheim an seinem Pulte schreiben kann.„Aber im 'Reichstag' kann er manches aussprechen, was sonst verpönt ist.“

Das leugne ich. Ich kann im „Reichstag“ Angriffe auf die jetzige politische Ordnung der Dinge machen, die in keiner anderen preußischen Versammlung straflos bleiben würden, doch in sozialer Beziehung, namentlich auf theoretischem Gebiet, gibt es nichts, was nicht anderwärts mit der nämlichen Straflosigkeit gesagt werden könnte. Und sollen wir denn auch den Kampf mit den Gesetzen fürchten? Tatsache ist, daß jeden Tag ungehindert in Preußen weit Revolutionäreres ge­schrieben und gesprochen wird, als sämtliche Reichstagsreden über die soziale Frage erhalten haben.

Doch angenommen, es gelänge, irgendeine sonst unaussprech­bare Wahrheit in den „Reichstag“ einzuschmuggeln — was wäre damit erreicht? Das Gesetz erlaubt unzweifelhaft den freien Abdruck der betreffenden Rede; allein das Gesetz macht auch die Presse, wenn sie einzelne Reden anstatt der ganzen Debatte bringt, für jedes Wort in denselben verant­wortlich. Und die ganzen Debatten nach dem allein berechtig­ten stenographischen Bericht mitzuteilen, ist selbst den größ­ten Zeitungen aus räumlichen Gründen unmöglich, geschweige denn den kleinen sozialdemokratischen Blättern. Um die pfiffig in den „Reichstag“ eingeschmuggelten Wahr­heiten wieder aus dem „Reichstag“ herauszuschmuggeln, bleibt demnach kein anderes Mittel als der amtliche stenogra­phische Bericht, der aber wegen seines Umfangs und seines Preises den Massen nicht zugänglich ist.

Was die Arbeiter von Debatten über die soziale Fragen erfah­ren, erfahren sie durch die Arbeiterblätter, und was diese in der Form von Parlamentsberichten bringen, können sie weit besser, weil sorgfältiger ausgearbeitet, in der Form von selb­ständigen Leitartikeln und Abhandlungen bringen.

Erwähnen muß ich nicht, daß das praktische Argument vom „Einschmuggeln“ seine Vaterschaft solchen verdankt, die am wenigsten mit polizeiwidriger Ware handeln. Man nehme zum Beispiel die „große Rede“ des Herrn von Schweitzer — jedes Wort hätte die vormärzliche Zensur passiert. Fassen wir zusammen:

Einen direkten Einfluß auf die Gesetzgebung kann unser Reden nicht ausüben.

Den „Reichstag“ können wir durch Reden nicht bekehren. Durch unser Reden können wir keine Wahrheiten unter die Massen werfen, die wir anderweitig nicht viel besser verbreiten könnten.

Welchen „praktischen“ Zweck hat also das Reden im „Reichs­tag“? Keinen! Und zwecklos reden ist Toren Vergnügen.Nicht ein Vorteil! Und nun auf der anderen Seite die Nachteile: das Prinzip geopfert, der ernste politische Kampf zur parlamentarischen Spiegelfechterei herabgewürdigt, das Volk zu dem Wahne verführt, der Bismarcksche „Reichstag“ sei zur Lösung der sozialen Frage berufen.— Und wir sollen aus „praktischen Gründen“ parlamentein? Nur der Verrat oder die Kurzsicht kann es uns zumuten. Was prinzipiell das Richtige, ist stets auch praktisch das Beste. Prinzipien treue ist die beste Politik.

Ich will damit nicht behaupten, daß der parlamentarische Kampf immer und unter allen Umständen zu verwerfen sei. In Perioden chronischer Erschlaffung, wo das Blut schlammar­tig träg durch den politischen Körper schleicht, wo der nieder­geschmetterte Volksgeist auf Jahrzehnte hinaus keine Rettung sieht, in solchen Perioden mag es von Nutzen sein, in irgend­einem Parlament ein kleines Freiheitslämpchen zu pflegen, das hell hineinscheint in die umringende Nacht. Und wenn das Volk, wenn die „Arbeiterbataillone“ gerüstet an den Toren des Parlaments stehen, dann kann vielleicht ein von der Tribüne geschleudertes Wort, zündend wie ein elektri­scher Funke, das Signal zur befreienden Tat geben. Aber jetzt sind wir Gott sei Dank nicht mehr in einer Zeit der chronischen Versumpftheit — leider noch nicht am Vor­abend einer aus dem Innern des Volkes hervorquellenden Tat. Ich unterschätze nicht die Bedeutung des mündlichen Wortes. Allein, in Zeiten der Krise, in Zeiten, wo eine Welt im Abster­ben, eine andere im Entstehen ist, gehören die Vertreter des Volks unter das Volk. Ich für meinen Teil halte es nicht bloß für ehrenvoller, sondern auch für ersprießlicher, in einer Ver­sammlung rechtschaffener Arbeiter zu reden, als in jener auf den Wink eines Recht und Menschen verachtenden Staatsman­nes zusammengelaufenen Gesellschaft von Junkern, Apostaten und Nullen, die Norddeutscher „Reichstag“ genannt wird. „Aber der 'Reichstag' ist das Kind des allgemeinen Stimm­rechts. Das allgemeine Stimmrecht ist der Wille des Volkes, und als Demokraten müssen wir den Willen des Volkes, folg­lich den ,Reichstag' achten.“

In diesem Räsonement, das ziemlich gewöhnlich ist, begegnet uns jene unverständige Überschätzung des allgemeinen Stimm­rechts, die, hauptsächlich auf Lassalles Autorität sich stüt­zend, zu einem förmlichen Götzendienst geworden ist. Na­mentlich in Norddeutschland halten viele das allgemeine Stimmrecht für die wundertätige Springwurzel, welche den „Enterbten“ die Pforten der Staatsgewalt öffnet; sie leben in dem Wahne, sich mitten im Polizei- und Militärstaat an dem allgemeinen Stimmrecht, wie weiland Münchhausen an seinem Zopf, aus dem Sumpf des sozialen Elends herausheben zu können. Münchhausens Zopf sollte ihr Hinterhaupt schmük­ken. Gewiß, das allgemeine Stimmrecht ist ein heiliges Recht des Volkes, eine Grundbedingung des demokratischen, des sozialdemokratischen Staates. Allein vereinzelt, losgetrennt von der staatsbürgerlichen Freiheit, ohne Preßfreiheit, ohne Vereinsrecht, unter der Herrschaft des Polizei- und Sol­datensäbels — mit einem Wort: im absolutistischen Staate kann das allgemeine Wahlrecht nur Spiel- und Werkzeug des Absolutismus sein.

Als Bonaparte die Republik gemeuchelt hatte, proklamierte er das allgemeine Stimmrecht.Als Graf Bismarck dem preußischen Junkerpartikularismus den Sieg verschafft, als er durch seine 1866er „Erfolge“ das liberale Bürgertum in Preußen überwunden und Deutschland zerrissen hatte, tat er, was sein Vorbild fünfzehn Jahre vorher getan — er proklamierte das allgemeine Stimmrecht. Bei beiden Gelegenheiten besiegelte die Proklamierung, die Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts den Triumph des Despotismus. Das allein müßte den naiven Schwärmern des Evangelismus vom allgemeinen Stimmrecht die Augen öffnen.

Auf die Motive Bonapartes einzugehen, ist hier nicht der Ort. Was den Grafen Bismarck anbelangt, so liegen seine Beweg­gründe klar zutage.

Das Dreiklassenwahlsystem7*, undemokratisch und antidemokratisch wie es ist, hat zugleich einen antifeudalen Charakter, weil es den Schwerpunkt der parlamentarischen Vertretung in die besitzenden Klassen verlegt, die, wenn auch stets bereit, mit dem Absolutismus Front zu machen gegen die Arbeiter, gegen die Demokratie, dennoch Feinde des absolutistischen Staats und bis zu einem gewissen Punkt „liberal“ sind. Das liberale Abgeordnetenhaus, das Produkt des Dreikassensy­stems war der Junkerregierung unbequem. Es galt, ein Gegengewicht zu schaffen, und dies fand sich im allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrecht.

Wie wenige sind in dem heutigen Polizeistaat, in dem Staat der geistigen und militärischen Dressur geistig und materiell unabhängig? Macht doch die Bauernbevölkerung allein, die hier zu Land dem Wink der Behörden willenlos gehorcht und gehorchen muß, zwei volle Drittel der gesamten Ein­wohnerzahl aus.

Dies berechnete Graf Bismarck, und er verrechnete sich nicht. Durch das allgemeine Stimmrecht fegte er die Oppositerei der besitzenden Klassen aus dem Weg und erlangte eine fügsame Reichtagsmajorität, wie sie das Dreiklassensystem ihm nimmermehr gegeben hätte.

Also nicht als Hebel der Demokratie, sondern als Waffe der Reaktion wurde das allgemeine Stimmrecht oktroyiert. Es steht unter der vollständigen Kontrolle der Regierung — hier noch viel mehr als in Frankreich, wo das Volk politisch mehr geschult ist, wo es drei Revolutionen hinter sich hat und die vierte vor sich. Man kann mit Sicherheit behaupten, daß in Preußen kein Abgeordneter in den „Reichstag“ gewählt werden kann, dessen Kandidatur die Regierung ernsthaft bekämpft. Ich erinnere an die letzte Wahl in Hannover, wie man die Aufrufe der Opposition konfiszierte, ihr tausenderlei Hindernisse in den Weg legte. Und hier handelte es sich nur um einen unbequemen, nicht um einen gefährlichen Kandida­ten. Hätte die Regierung von ihrer ganzen Macht Gebrauch machen wollen — ich meine gesetzlichen Gebrauch, denn der „intelligente“ Absolutismus kleidet sich meist in den Mantel des Gesetzes —, sie hätte die Wahl Ewalds mit Leichtigkeit hintertrieben. Nehmen wir an, es tritt ein Kandidat auf, den die Regierung durchaus nicht in dem „Reichstag“ haben will: Sie konfisziert die Zeitungen, die seine Wahl empfehlen -gesetzlich; sie konfisziert die Wahlaufrufe — gesetzlich; sie verbietet die Wählerversammlungen — gesetzlich; oder sie erlaubt die Wählerversammlungen und löst sie dann auf -gesetzlich; sie verhaftet die Fürsprecher des Kandidaten -gesetzlich; sie verhaftet den Kandidaten selbst — gesetzlich.Verhaftete man doch neulich sogar einen „Reichstagsabgeord­neten“, und würde doch derselbe noch heut im Gefängnis sitzen, wenn die Nationalliberalen nicht durch ein Lächeln Bismarcks von der Harmlosigkeit des „Märtyrers“ überzeugt worden wären.

Aber angenommen, die Regierung mache von ihrer Macht aus Kraftgefühl oder Berechnung keinen Gebrauch, und es gelinge, wie das der Traum einiger sozialistischer Phantasiepolitiker ist, eine sozialdemokratische Majorität in den „Reichstag“ zu wählen — was sollte die Majorität tun? Hic Rhodus, hic salta. (Hier ist der Rhodus, hier springe.— Zeige jetzt, was du kannst.) Jetzt ist der Moment, die Gesellschaft umzugestalten und den Staat.Die Majorität faßt einen weltgeschichtlichen Beschluß, die neue Zeit wird geboren — ach nein, ein Kompa­nie Soldaten jagt die sozialdemokratische Majorität zurn Tem­pel hinaus, und lassen die Herren sich das nicht ruhig gefallen, so werden sie von ein paar Schutzleuten in die Stadtvogtei abgeführt und haben dort Zeit, über ihr donquixotisches Treiben nachzudenken.

Revolutionen werden nicht mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis gemacht; die sozialistische Idee kann nicht innerhalb des heutigen Staates verwirklicht werden; sie muß ihn stürzen, um ins Leben treten zu können.

Kein Friede mit dem heutigen Staat!

Und weg mit der Kultur des allgemeinen, direkten Wahlrechts!

Beteiligen wir uns nach wie vor energisch an den Wahlen, aber benutzen wir sie bloß als Agitationsmittel, und versäumen wir ja nicht, hervorzuheben, daß die Wahlurne nicht die Wiege des demokratischen Staats werden kann. Das allgemeine Stimm­recht erlangt seinen bestimmenden Einfluß auf Staat und Gesellschaft erst nach Beseitigung des Polizei- und Militär­staates.

Zum Schluß ein Wort über die verschiedenen Arten von Sozialismus, die uns jetzt in Deutschland entgegentreten, die wir auch im „Reichstag“ finden und die genau unserer politischen Parteigliederung entsprechen.

Zunächst haben wir — denn von Dr. Max Hirsch, der den Klassengegensatz für ein „ Mißverständnis“ erklärt und so­zusagen als freiwilliger Polizeidiener der Bourgeoisie gegen den Sozialismus fungiert, brauche ich hier nicht zu reden —, zunächst haben wir den königlich-preußischen Hofsozialismus oder den feudalen Sozialismus8*, vertreten durch Herrn Wagener, der beiläufig auch den Apparat des allgemeinen Stimmrechts für den Grafen Bismarck eingerichtet hat. Daß Herr Wagener nicht auf eigene Faust Sozialismus treibt, sondern in höherem Auftrag, erhellt aus unzähligen Tatsachen — ich erin­nere nur an die polizeiliche Duldung des Allgemeinen Deut­schen Arbeitervereins, dessen „Ungesetzlichkeit“ vom Ober­tribunal ausgesprochen worden ist. Zwei Tatsachen, die weni­gen bekannt sind, seien noch erwähnt.

Als die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ zu dem Grafen Bismarck in das bekannte Verhältnis getreten war, infolge dessen ich mich von derselben entfernen mußte, stellte mir Braß für Marx, Engels und mich täglich zwei Spalten seines Blattes zur Verfügung, mit dem Bemerken, wir könnten über Sozialismus und Kommunismus in der rücksichtslosesten Weise schreiben.Die Regierung, in der wir uns täuschten, sei gesonnen, für den armen Mann, für das Proletariat etwas zu tun. Natürlich lehnte ich ab; wir konnten nicht dazu behilflich sein, die Arbeiterbewegung dem Königtum von Gottes Gnaden in die Hände zu spielen.

Es war das beiläufig, ehe Lassalle sein „Antwortschreiben“ veröffentlichte — ein Beweis, daß die Regierung nicht erst durch Lassalle zum „Studium“ der sozialen Frage veranlaßt wurde, wie vielfach von seinen Freunden und Feinden behaup­tet wird.

Die zweite Tatsache: In einer Sitzung des Komitees zur Linde­rung des ostpreußischen Notstandes beschwerte sich gelegent­lich ein fortschrittliches Mitglied über das offiziöse und offizielle Liebäugeln mit gewissen sozialistischen Bestrebun­gen; darauf erklärte die zweithöchste Person im Staat — wenn man nämlich den Grafen Bismarck nicht als die höchste be­trachtet —, an welche die Bemerkung gerichtet war9*: „Es ist dies der ausdrückliche Wille des Grafen Bismarck, welcher der Ansicht ist, daß eine Begünstigung der sozialistischen Bestre­bungen das beste Mittel sei, die Demokratie lahmzulegen.“ Zweitens haben wir den nationalliberalen Sozialismus10*, der sich auf den Boden der „1866 geschaffenen Zustände“ stellt, den Staatsstreich akzeptiert und die Verfassung des Norddeut­schen Sonderbundes für besserungsfähig hält und zu verbes­sern sucht. Gleich den nationalliberalen Realpolitikern sind die nationalliberalen Realsozialisten — soweit sie ehrlich sind — mit dem glücklichen Köhlerglauben gesegnet, ihr Prinzip trotz aller Kompromisse rein zu erhalten und schließlich den Polizei- und Militärstaat überlisten zu können. Das jämmerliche Fiasko der Braun, Miquel und Konsorten verkündet ihnen ihr Los. Das Widersinnige dieser Richtung zeigt sich recht hand­greiflich in der Tatsache, daß die nationalliberalen Sozialisten i politisch an demselben Strang ziehen wie die nationalliberale Bourgeoisie, deren soziale Herrschaft sie brechen wollen. Weder mit diesem nationalliberalen noch mit jenem feudalen Sozialismus, die beide auf Trennung der sozialen und politi­schen Frage beruhen, hat der demokratische Sozialismus etwas gemein, der, von der Untrennbarkeit der politischen und sozia­len Frage ausgehend, jeden Pakt mit dem Bestehenden stolz zurückweist und der sozialistisch zu organisierenden Gesell­schaft den demokratischen Staat erkämpfen will. Wir, die Anhänger dieses Sozialismus, sind allein berechtigt, uns eine sozialistische Partei zu nennen. Die anderen sind eine Clique oder Sekte. Wir sind die Sozialdemokratie. Wir stehen nicht in der Luft, wie man uns vorgeworfen hat; wir haben nur nichts gemein mit der herrschenden Ordnung der Dinge. Ich bin Republikaner — die Tatsache, daß ich in einer Monarchie lebe, macht mich nicht zu einem Royalisten.Die Gewalt erkennen wir wohl an, aber nur als eine Tatsache, nicht als Recht — als eine Tatsache, die wir so lange ertragen, bis die Gewalt nicht mehr die Gewalt hat, das heißt, bis ihr eine größere Gewalt entgegengesetzt werden kann. Wir legen die Hände nicht ruhig in den Schoß, sondern benutzen alle Waffen, welche die herrschende Gewalt uns gelassen hat, zur Bekämpfung der herrschenden Gewalt.Und so „tragen auch wir den Verhältnissen Rechnung“ — in der einzigen Weise, die sich mit dem Prinzip und mit der Klugheit verträgt. An der französischen Demokratie haben wir ein leuchtendes Exempel.Als Bonaparte seinen Staatsstreich gemacht hatte, verkündete er das allgemeine Wahlrecht und baute eine gol­dene Brücke, die über den Blutstrom des 2.Dezember11* hin­überführen sollte zur Demokratie, zum Volk, zu den Arbei­tern.

Die französische Demokratie — zu ihrem unsterblichen Ruhme sei es gesagt —, sie wies verachtungsvoll die Lockungen des Machthabers zurück, treu ihrem Prinzip, treu ihrem Haß.Achtzehn Jahre sind verstrichen — die wenigen, die gleich Ollivier dem Zauber des Erfolges nicht zu widerstehen ver­mochten und über die goldene Brücke wandelten, sie tragen, von jedem Ehrlichen gemieden, das Kainszeichen des Verrats an der Stirn, und Angesicht zu Angesicht steht die französische Demokratie dem Cäsarismus gegenüber, unversöhnlich, des Sieges gewiß, des Sieges sicher.

Auch wir werden nicht über die goldene Brücke wandeln; wir warten, bis unser Tag kommt, und lassen die Eintags­fliegen hinsterben, die von der Sonne des Erfolgs ausgebrütet wurden.

Wir können die Regierung nicht verhindern, daß sie die Arbei­terfrage auszubeuten versucht, aber wir können und werden verhindern, daß ihr der Versuch gelinge; wir können und werden verhindern, daß der Klassenkampf zwischen Proleta­riat und Bourgeoisie der Reaktion, dem Junkertum diene. Wir erreichen dies, wenn wir den politischen Kampf mit demselben Nachdruck führen wie den sozialen. Ich weiß, in Preußen ist das schwierig, aber es muß geschehen.Vor allem hat die Arbeiterklasse das künstlich erzeugte und genährte Mißtrauen gegen die sogenannte „bürgerliche Demokratie“, deren Repräsentant Jacoby ist, abzuschütteln.

Wenn man die Parteien verwirren will, hat man bloß irgendein zwei- oder mehrdeutiges Wort in sie hineinzuwerfen, bei dem sich jeder etwas anderes denken kann. Ein solches Wort, ein solcher Apfel der Zwietracht ist der Ausdruck „bürgerliche Demokratie“.

Das Wort „Bürger“ hat drei ganz verschiedene Bedeutungen. Einmal heißt es Staatsbürger, und dann schließt es den Begriff der politischen Gleichheit ein; zweitens heißt es Kleinbürger, und das Kleinbürgertum ist in Deutschland durch seine Stel­lung, durch sein Interesse auf selten der Arbeiterklasse ge­drängt; drittens bedeutet es Bourgeoisie, das heißt Großbürger, der von der Ausbeutung des Arbeiters lebt, sie zu verewi­gen bemüht ist.

Das Gehässige, welches dem Begriff „Bourgeois“ anklebt, macht den Ausdruck „bürgerliche Demokratie“ bei dem Arbeiter zu einem Schimpfwort. Aber ist die Bourgeoisie denn demokratisch? Im Gegenteil. Sie kennt den innigen Zusam­menhang der Demokratie und des Sozialismus — sie haßt die Demokratie und ist nationalliberal. Und sonderbar, dieselben, welche Jacoby, den Gegner der Bourgeoisie, als „bürgerlichen Demokraten“, als „Bourgeoisdemokraten“ mit leidenschaftli­cher Heftigkeit angreifen, sie gehen politisch mit der Bourgeoi­sie zusammen und helfen ihr so, ihre sozialen Privilegien be­wahren! Dies beweist Ihnen, daß die Schreier gegen die „bür­gerliche Demokratie“ entweder sehr kurzsichtig oder sehr unehrlich sind.

Jacoby, das gebe ich zu, ist noch kein Sozialist im strengen Sinn des Wortes. Er betont die politische Frage noch mehr als die soziale, was ein ebenso großer Fehler ist als das Umgekehrte. Aber so gewiß ihmWahrheit und Recht über alles gelten, so gewiß wird er ganz zu uns kommen. Wenn er jetzt noch mehr Politiker ist als Sozialist — nun, das soll uns nicht abhalten, die Hand, welche er uns gereicht hat, anzunehmen. Wir wollen nicht zum Nutzen der Feinde mit den Freunden um unterge­ordneter Dinge willen uns streiten. Dem Sozialismus, der demokratisch, der Demokratie, die sozialistisch ist, gehört die Zukunft. Im März 1848 war alles Demokrat. Als aber die Bewegung ernsthaft ward, als es sich zeigte, daß entweder die „Errungen­schaften“ verloren waren oder eine wirkliche, ganze Re­volution gemacht werden mußte, die dem kämpfenden Prole­tariat seine Rechte gegeben hätte, da trennte sich die Bour­geoisdemokratie, richtiger die demokratisierende Bourgeoisie, in blödsinniger Angst vor dem Gespenst des Kommunismus von der demokratischen Arbeiterklasse. Wo ist heute die Bour­geoisdemokratie von damals? Die „alten Demokraten“, die „Achtundvierziger“, sind nicht abgefallen, wie man oft gesagt hat, sie sind einfach dahin gefallen, wohin sie gehörten, wohin sie fallen mußten. — Aus unbewußten Bourgeois wurden sie bewußte Bourgeois, sobald nach dem Jahre 1848 infolge des kolossalen industriellen und kommerziellen Aufschwungs die ökonomischen Gegensätze sich entwickelten. Jene Bourgoisdemokraten, die wir, so weit sie nicht gestorben oder verdorben sind, heute fast ausnahmslos in den Reihen des mehr oder weniger fortschrittlichen Nationalliberalismus finden, sie waren nie Demokraten, sondern bloß konfuse Köpfe, die sich In Phrasen berauschten, deren Inhalt sie nicht begriffen.Der echte Demokrat ist notwendig auch Sozialist. Die De­mokratie, als deren Vertreter Jacoby gilt, hat auf sozialem Gebiet, der Sozialismus hat auf politischem Gebiet entschiede­ner, als es bisher der Fall war, Stellung zu nehmen. Erst wenn dies geschehen, wenn die sozialistischen und die demokratischen Strebungen einander kräftigen und ergänzen, anstatt sich zu bekämpfen, kann eine ernsthafte großartige sozialdemokratische Bewegung entstehen, stark genug, jeden Widerstand vor sich niederzuwerfen.

Warum ist gegenwärtig die Sozialdemokratie noch so schwach? Ich weiß wohl, es wird viel Lärm damit gemacht, aber es ist viel Geschrei und wenig Wolle; ich stehe hinter den Kulissen und halte es — von der Moral nicht zu reden — für sehr töricht, das Publikum und die eigene Partei über unsere Macht anlügen zu wollen. Also warum ist unsere Partei gegenwärtig so schwach? Warum hält sich die ungeheure Mehrzahl der Arbei­ter abseits? Warum hat namentlich in Berlin die So­zialdemokratie so geringen Anhang, und konnte sie erst ganz neuerdings, infolge eines glücklichen Streiks12*, einige Hundert Mann unter ihren Fahnen vereinigen? Einige Hundert unter Hunderttausend?

Warum? Die Überzeugung, daß die soziale Bewegung jetzt von der Reaktion benutzt wird, daß sie ihr vorteilhaft ist — diese wohlbegründete Überzeugung hält die Massen, welche demo­kratischen Instinkt haben, zurück.

Von dem Moment an, wo jeder Zweifel in bezug auf die politische Stellung der Sozialdemokratie beseitigt ist, wo die Sozialdemokratie, ohne den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu vernachlässigen, auch den politischen Vorkampf führt, haben wir die Massen der Arbeiter hinter uns, können wir sagen: „Berlin gehört uns.“ Und dann gehört uns Deutschland; denn hier in Berlin sitzt der Haupt­feind, hier wird die Entscheidungsschlacht geschlagen. Von Berlin aus wurde Deutschland geknechtet; in Berlin muß Deutschland befreit werden.

Dem Vortrag folgte eine lebhafte Debatte. Auf die Bemerkungen eines Mitgliedes des Allgemeinen Deutschen Arbeiterver­eins (des Herrn Armborst) sagte Liebknecht u.a.:

„Der Herr Vorredner hat uns durch seine Ausführungen gezeigt, wohin es führt, wenn man Sozialismus und Demokratie trennen will — für ihn ist Demokrat gleichbedeutend mit Bourgeois, natürlich muß nach dieser Logik der Arbeiter ein Revolutionär sein. Daß ich weder das Gelächter noch das Wutgeheul der Herren vom 'Reichstag' fürchte, ich dächte, das hätte ich bewiesen — ich darf sagen, ich habe ihnen Trotz geboten wie keiner; aber ich tat es, um zu protestieren, um meine Meinung über den 'Reichstag' und was drum und dran hängt, auszusprechen, und das kann man nicht oft tun.Sonst verliert's den Wert. Soziali­stische Theorien pour le Roi des Prusses (zugunsten des Königs der Preußen) den Bänken des 'Reichstages' predigen, dazu: halte ich mich für zu gut.

Es fällt mir nicht ein, den tatsächlichen Kampf bloß auf politischem Gebiet führen zu wollen; ich habe die Gewerks­genossenschaften schon im Jahre 1864 öffentlich befürwortet und seitdem mein möglichstes für ihre Organisation getan. Allein, auch hier muß man stets das Endziel, das Prinzip, im Auge behalten. Geschieht dies nicht, so kann im Ringen um materielle Vorteile, um höhere Löhne zu leicht vergessen werden, daß die ganze bürgerliche Produktionsweise umgestaltet, das ganze Lohnverhältnis abgeschafft werden muß. Noch ein Wort, Herr Armborst meint, mit der Zeit würden wir die Reichstagsmajorität bekommen. Ich will ihm ein Rechenexempel machen: jetzt haben wir sieben 'Sozialdemokraten' im 'Reichstag'; bei der nächsten und so bei jeder folgenden Wahl erlangen wir sieben mehr — das ist gewiß eine ideal günstige Annahme —, der 'Reichstag' hat 296 Mitglieder, bis wir auf diese Weise die Majorität — mindestens 149 — haben, müssen noch 6.3 Jahre verstreichen! Nun, wenn Herr Armborst und seine Freunde Lust haben, bis zur Wahl des Jahres 1933 zu warten, dann mögen sie es tun, wir halten es für ein Verbre­chen an der Sozialdemokratie, die Arbeiter durch Vertröstung auf die Zukunft von dem politischen Kampf der Gegenwart fernzuhalten.“

 

Anmerkungen der Herausgeber

1*Liebknechts Rede, die nicht stenographiert wurde, erschien zunächst im „Demokratischen Wochenblatt“ (Nr. 27, 3. Juli, und Nr. 32, 7.August 1869) und in gleicher Fassung im Jahre 1869 in Leipzig als Broschüre in einer Auflage von etwa 1000 Exemplaren. Am 17, September 1869 wurde Liebknecht wegen dieser Rede vom Berliner Stadtgericht zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Leipziger Behörden lehnten eine Auslieferung Liebknechts an Preußen ab; das Leipziger Gerichtsamt mußte nach einem Einspruch Liebknechts vom 18.Oktober 1869 den Beschluß, dass Liebknecht die dreimonatige, auf Grund des preußischen Strafgesetzbuches ausgesprochene Freiheitsstrafe in einem sächsischen Gefängnis verbüßen müsse, als gesetzwidrig aufheben.Auf preu­ßischen Druck wurde daraufhin von der sächsischen Justiz ein Prozeß gegen Liebknecht vorbereitet, der 1872 in dem Leipziger Hochverratsprozeß aufging, wo „Über die politische Stellung...“ Gegenstand der Verhandlung war.Dieses „Tragikomische Nach­spiel“ dokumentierte Liebknecht in einem im Juni 1872 im Leipziger Bezirksgerichtsgefängnis geschriebenen Anhang, der erstmals der 2. Auflage (Leipzig 1872) beigegeben war. „Über die politische Stellung...“ erschien 1874 in 3.Auflage, als Nr.25 der „So­zialdemokratischen Bibliothek“, London 1888; sowie als „neue unveränderte Auflage“ Berlin 1893. Unsere Wiedergabe folgt der in der Bibliothek des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED vorhandenen 1.Auflage, Leipzig 1869.

2*Cäsarismus: auf Julius Caesar zurückgehende Herrschaftsform, der, auf die Armee gestützt, zwischen den einander widerstreiten­den herrschenden Klassen bzw.sozialen Schichten zu lavieren suchte.„Moderner Caesarismus“ ist hier zur Charakterisierung der bonapartistischen Diktatur Bismarcks gebraucht.Die „klassi­sche“ Form des Bonapartismus verkörperte Napoleon III.Bo­naparte. Bismarck bediente sich bonapartistischer Methoden, um seine persönliche Macht im junkerlich-bourgeoisen Herrschaftssy­stem zu festigen.

3* Gemeint ist der Preußisch-Österreichische Krieg 1866, mit dem Preußen Österreich, bis dahin Führungsmacht des Deutschen Bundes, aus dem deutschen Nationalverband absprengte und die Vorherrschaft gegenüber den anderen deutschen Staaten an sich riß. Mit der Inangriffnahme der „Revolution von oben“ unter Beibehaltung der politischen Herrschaft des Junkertums wurden die wichtigsten Hindernisse für die kapitalistische Entwicklung beiseite geräumt, um einer heranreifenden „Revolution von un­ten“ zuvorzukommen und diese zu ersticken.

4* Am 2. Dezember 1852 proklamierte sich Napoleon III. zum Kaiser.

5* Der preußische Heeres- und Verfassungskonflikt (1862—1866) entsprang einer erneuten Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Junkertum und der in ihrer Entfaltung behinderten Bourgeoisie. Das preußische Abgeordnetenhaus setzte einer Heeresvermeh­rung und -reorganisation die Forderung nach zwei- statt dreijähri­ger Dienstzeit entgegen und verweigerte, als die Regierung darauf nicht einging, schließlich die erforderlichen Mittel. Die Bour­geoisieopposition scheute jedoch vor außerparlamentarischen Kampfmitteln zurück. Bismarck, 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten berufen, führte die Heeresreorganisation ohne Budget durch und brach durch außenpolitische Erfolge die Opposition der liberalen Bourgeoisie, die schließlich 1866 das Militärbudget nachträglich genehmigte (Idemnitätsvorlage). Damit war der Machtkampf mit der Bourgeoisie zugunsten der Hohenzollernmonarchie entschieden.

6*Bundesstaat von 22 Mittel- und Kleinstaaten sowie Freien Städten unter Führung Preußens, entstanden im Ergebnis des preußisch-deutschen Krieges 1866. Der preußische König war Präsident des Bundes, Leiter der Außenpolitik und Befehlshaber der Bundesarmee, Bismarck war Bundeskanzler. Der Norddeutsche Reichstag, Parlament des Norddeutschen Bundes, wurde nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht gewählt. Die Rechte des Norddeutschen Reichstages beschränkten sich auf die Legislative; dem antidemokratischen Charakter des Bundes entsprechend, widerspiegelte er gegenüber dem „wirklichen Despotismus“ Bismarcks, der dem Parlament nicht verantwortlich war, nur eine „Scheindemokratie“ (Marx). Die Wahlen zum Konstituierenden Norddeutschen Reichstag fanden am 12. Februar 1867 statt. August Bebel war der ein­zige sozialistische Abgeordnete. Bei den zweiten Wahlen am 31. August 1867 wurde auch Wilhelm Liebknecht zum Mitglied des Norddeutschen Reichstages gewählt.

7*Dreiklassenwahlrecht: durch Verordnung vom 30. Mai 1849 für die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus eingeführtes, bis zur Novemberrevolution 1918 geltendes indirektes, ungleiches und öffentliches Wahlsystem. In den Urwahlbezirken wurden die gezahlten Steuern gedrittelt und danach, mit dem höchsten Steueraufkommen beginnend, die Wahlberechtigten in drei Klas­sen aufgeteilt, die je ein Drittel der Wahlmänner wählten, welche wiederum in einem zweiten Wahlgang den Abgeordneten nomi­nierten. Das Wahlsystem begünstigte in den Städten die Bour­geoisie, auf dem Lande vor allem die großen Grundbesitzer.

8*Gemeint sind die konservativ-sozialen Bestrebungen, den Gegen­satz zwischen Kapital und Arbeit im Interesse des Junkertums zur Erzeugung einer monarchistisch orientierten Arbeiterbewe­gung zu nutzen.

9* „Zweithöchste Person“ im preußisch-deutschen Staat war nach der Rangordnung (nach Wilhelm I.) der Kronprinz, der spätere Kaiser Friedrich III.

10* Der Begriff ist ein von Liebknecht oft apostrophierter „Wider­spruch in sich selbst“. — Als Nationalliberale Partei konstituierte sich der rechte großbürgerliche Flügel der Fortschrittspartei nach seiner Abspaltung im Jahre 1866. Die politische Interessenvertre­terin eines Großteils der deutschen Industrie-, Bank- und Handels­bourgeoisie verzichtete auf die Durchsetzung der ausschließlichen Bourgeoisieherrschaft. Ihre Politik, das Klassenkompromiß mit dem Junkertum zu festigen, stärkte den prononciert antidemokra­tischen, militaristischen junkerlich-bourgeoisen Staat. Unter dem Zeichen der Manchesterschule und der freien Konkurrenz lehnte die Partei bis in die siebziger Jahre staatliche Sozialmaßnahmen (wie Maximalarbeitstag, Verbot der Sonntagsarbeit) ab und plä­dierte für die „freie Vereinbarung“ des Arbeitsvertrages, also für die Unternehmerwillkür. Politisch sagte sie selbst liberalen Idealen ab; das Klassenkompromiß mit dem Junkertum beinhaltete ja gerade die politische Einschnürung jedweder demokratischen, erst recht der sozialistischen Bewegung.

11* Am 2. Dezember 1851 führte Louis Napoleon einen Staatsstreich durch, mittels dessen er seine Präsidentschaft um zehn Jahre verlängerte und seine Vollmachten erweiterte, zugleich das dem­agogisch manipulierte allgemeine Wahlrecht einführte. Den Widerstand der Arbeiter und Demokraten ließ er grausam nieder­schlagen.

12*Das Jahr 1869 brachte einen bedeutenden Aufschwung der Streikbewegung. 1869 fanden mindestens 130 Streiks statt.Liebknecht meint wahrscheinlich den Streik von etwa 1800 Zimmerergesellen in Berlin, der Anfang Mai 1869 begann. Kurz danach legten 500 Schmiedegesellen und 4000 Maurergesellen in Berlin die Arbeit nieder.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007