L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Staatsanwalt Wyschinski


Als Staatsanwalt gegen Sinowjew, Kamenew und die anderen alten Bolschewiki fungierte der Menschewik Wyschinski. Doch auch Menschewik war er noch weniger, als vielmehr ein Provinzadvokätlein, das sich mit dem Zarismus ausgezeichnet vertrug. Wie viele andere Kleinbürger 1905 von der Revolution erfasst, wurde Wyschinski Menschewik, doch bereits 1907 kehrte er der Arbeiterbewegung den Rücken zurück ins Spießertum. In seiner offiziellen Biographie bilden die Jahre 1907–1920 eine gähnende Lücke. Nach der Februarrevolution wird Wyschinski wieder „aktiv“, und zwar als rechter Menschewik in einem Moskauer Stadtteil, und benahm sich als ausgemachter Feind des Bolschewismus und der Oktoberrevolution. Nach dem Sieg beschloss Wyschinski, sich an den Bolschewismus anzuschmieren. Doch vorsichtshalber wartete er zuerst das Ergebnis des Bürgerkriegs ab. In die Kommunistische Partei trat er 1920 ein, als die Sowjetmacht Siege feierte, gefestigt dastand, und wo Wyschinski folglich nichts mehr riskierte. Nach seinem Eintritt in die Partei wurde der künftige Staatsanwalt selbstverständlich wütender Gegner aller Opposition und ein treuer Stalinist. Wie er in der Vergangenheit sich dem Zarismus anpasste, so jetzt dem Stalinismus.

Und diesen Menschen beauftragte Stalin mit der Anklage gegen die alten Bolschewiki! Ein ehemaliger Menschewik, Feind der Bolschewismus und des Oktober, fordert die Köpfe der Führer des Bolschewismus und der Oktoberrevolution. Ist das etwa kein Symbol? Sagt das allein nicht mehr als alle Reden und Resolutionen? Wyschinski muss sich gewiss so recht wohl gefühlt haben als thermidorianischer Rächer am Bolschewismus.

Wyschinski ist keine Ausnahme, sein Name ist fast ein Gattungsname für die treuen Untertanen Stalins, die Stützen des Regimes. Ein ehemaliger Minister der weißen Regierung unter Koltschaks Obhut, Maiski, ist heute Sowjetgesandter in London; ein ehemaliger Petljuraminister, Rafes, ist einer der Führer der Komintern.

1917 hetzte in der Zeitung Dni der käufliche Journalist Saslawski mit besonderem Hass gegen Lenin und Trotzki als deutsche Spione. Lenin schrieb ihn betreffend wiederholt: „Saslawski und andere Halunken“, „käufliche Feder“, „Meister der Erpressung“, „Verleumder“. Diesen Ausdrücken begegnet man in Lenins Artikeln von 1917 Dutzende von Malen.

Wer aber schreibt heute in der Prawda die Hetzartikel gegen Trotzki, den Gestapoagenten? Derselbe Saslawski!

Auch das, ist das etwa kein Symbol?

Doch kehren wir zu Wyschinski zurück. In seiner Rede begeht er die Unvorsichtigkeit, sich in Geschichtsforschung einzulassen. Um Kamenew zu entlarven, erzählt Wyschinski, dass Kamenew bei der Herausgabe eines Buchs von Machiavelli „in einem kurzen Vorwort zu diesem Buch schrieb ...: ‚Ein Meister des politischen Aphorismus und ein glänzender Dialektiker‘!“ Und Wyschinski fügt hinzu: „Dieser Machiavelli ist nach Kamenew ein Dialektiker! Dieser abgefeimte Schelm soll ein Dialektiker sein!“ [1]

Wir führen über Machiavelli Aussprüche von Leuten an, deren Werke bislang in der USSR noch nicht verboten sind, doch deren revolutionäre Nachfolger dort erschossen werden. Wir meinen Marx und Engels. Von Machiavellis Geschichte von Florenz spricht Marx als von einem „Meisterwerk“ (in einem Brief an Engels). Engels seinerseits schrieb: „Machiavelli war Staatsmann, Geschichtsschreiber, Dichter und zugleich der erste nennenswerte Militärschriftsteller der neueren Zeit.“ (1880). In einem Artikel der Kölnischen Zeitung (Nr.179) nennt Marx Machiavelli – neben Spinoza, Rousseau, Hegel – als den Entdecker des Gesetzes vom Staat, und zieht eine Parallele zwischen dieser Entdeckung und der des Kopernikus! Es gibt noch andere begeisterte Äußerungen Marxens über Machiavelli, dessen Name in Marxens und Engels’ Briefwechsel häufig vorkommt.

Es sieht also nicht so aus, als hätten Marx und Engels Machiavelli für einen „abgefeimten Schelm“ gehalten. Doch auch „abgefeimter Schelm“ ist Wyschinski nicht genug. Als krimineller Verbrecher war „Machiavelli ihnen (Sinowjew und Kamenew) gegenüber ein Schosshündchen und eine Unschuld vom Lande!“ [2] Er hat es erfasst! Und dieser aufgeblasene Dummkopf von Staatsanwalt bittet das Gericht, Kamenews Vorwort zu Machiavellis Buch „nicht ... als eines der Beweisstücke ... zu betrachten“ (wo es doch deren bei Wyschinski sowieso nicht viele gibt).

Kamenews Ansicht über Machiavelli hat nach Wyschinskis Worten „gewisse Bedeutung für die Bestimmung des moralischen, wenn Sie wollen ideologischen Niveaus des Angeklagten Kamenew.“ [3]

Das „moralische, wenn Sie wollen ideologische Niveau“, ja, aber wessen? An diesem einen Beispiel enthüllt Wyschinski vollständig sein eigenes „ideologisches Niveau“, soweit man diesen Ausdruck überhaupt bei einem derartigen Subjekt gebrauchen kann.

Die ganze Rede Wyschinskis hielt sich beharrlich auf diesem Niveau. Verweilen wir nur bei einer seiner Verleumdungen, nämlich dass Trotzki in Bezug auf die USSR auf einem defätistischen Standpunkt stehe. Der Staatsanwalt beruft sich dabei auf die Aussagen der erzverdächtigen Berman-Jurin und Fritz David. Übrigens greift er aus diesen Aussagen auch nur ein paar Sätze heraus, die besagen. dass Trotzki „die Zersetzung der Streitkräfte“ verlangt habe. Offenbar empfindet Wyschinski selber, dass dies alles zu verlogen, zu plump und zu dumm ist, und so fügt er hinzu:

„Ist es möglich, dass das alles eine Erfindung ist? ... phantastische Geschichten ...? Ist das alles vielleicht ausgedacht, eine Erfindung, unverantwortliches Geschwätz von Angeklagten, die bestrebt sind, gegen andere möglichst viel auszusagen, um ihr endgültiges Schicksal zu erleichtern?“ [4]

Während er diese überaus riskante Frage stellt, beruft sich Wyschinski zum Beweis auf „Clémenceaus These“. [5] Es ist uns nicht bekannt, ob Clémenceau jemals Thesen schrieb. Diese marxistische Schwäche war dem Tiger kaum eigen. Wyschinski meint offenbar – und hier zeigt sich wieder sein „ideologisches Niveau“ – Trotzkis sogenannte These über Clémenceau. Doch hören wir Wyschinski selber. In dieser mysteriösen These Clémenceaus geht, seinen Worten nach, die Rede davon, „im Falle eines Krieges müsse man warten, bis der Feind sich 80 Kilometer vor Moskau befinde, um die Waffe gegen die Sowjetregierung zu erheben, um sie zu stürzen.“ [6]

In Wirklichkeit hat Trotzki 1927 in einer seiner Reden im Politbüro gesagt, die Kriegsgefahr oder der Krieg brächte die Meinungsverschiedenheiten der Opposition mit den Stalinisten nicht zum Verschwinden, und die in Friedenszeiten untaugliche stalinsche Leitung werde ihre Untauglichkeit mit noch grösserer Kraft in Kriegszeiten beweisen. Trotzki fasste diesen Gedanken in einer anderen Rede in folgenden Worten zusammen: „Für das sozialistische Vaterland? Ja! Für den Stalinkurs? Nein!“ Trotzki zog das Beispiel Clémenceaus heran, der von Kriegsbeginn bis zum Augenblick, wo er Ministerpräsident wurde, unaufhörlich sämtliche Regierungen kritisierte und heftig bekämpfte wegen ihrer Unfähigkeit, den Krieg zu führen. Clémenceau stürzte die Regierung und ergriff die Macht. Wie wahrscheinlich auch Wyschinski weiß, tat Clémenceau dies nicht mit Hilfe eines bewaffneten Aufstandes oder von Barrikadenkämpfen. Er stürzte die Regierung im Rahmen des Parlamentarismus. Durch diese Analogie wollte Trotzki sagen, dass, um der Sowjetunion im Kriege den Sieg zu ermöglichen. der Stalinkurs liquidiert und die stalinsche Leitung beseitigt werden müsse. Selbstverständlich streng verfassungsmäßig. Wäre es bei Trotzki um den bewaffneten Aufstand gegangen, so hätte er nicht zum Beispiel Clémenceaus greifen brauchen.

Nach der – so unvorsichtigen – Berufung auf „Clémenceaus Thesen“ schließt Wyschinski: „Darum muss man auch anerkennen, dass die Aussagen Berman-Jurins und Fritz Davids in diesem Teil den Tatsachen entsprechen.“ [7] Darum, so sagen wir, muss man auch anerkennen, dass die Aussagen Berman-Jurins und Fritz Davids in diesem Teil der Wirklichkeit nicht entsprechen.

Was die Einstellung der Bolschewiki-Leninisten zur Verteidigung der USSR betrifft, so bedarf der Leser der oppositionellen Presse unsererseits keiner ergänzenden Erläuterungen. Es genügt, die Veröffentlichungen der Bolschewiki-Leninisten durchzublättern, um fast auf jeder Seite Stellen zu finden, wo die Verteidigung der USSR zur unbedingten Pflicht – trotz der Bürokratie und ihrer Niedertracht – jedes Arbeiters, und nicht nur der Bolschewiki-Leninisten erklärt wird. Weisen wir noch darauf hin. dass die Linke Opposition stets unerbittlich mit all denen brach, die in dieser Frage Zweideutigkeit walten ließen.


Anmerkungen

1. Prozessbericht, S.141.

2. Ebendort, S.142.

3. Ebendort, S.140.

4. Ebendort, S.133/134.

5. Der russische Text des Prozessberichts spricht von einer „tesis klemansso“, was bedeutet „Clémenceaus These“. Wir benutzen den russischen Originalausdruck und nicht die Ausdrucks- und Schreibweise der deutschen Übersetzung des Prozessberichts, die Wyschinskis groben Fehler verwischt.

6. Ebendort, S.134.

7. Ebendort, S.134.




Zuletzt aktualisiert am 8.07.2009