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Die Sowjetrepublik von 1917 wie die Pariser Kommune von 1871 sind Ergebnisse des Krieges, Ergebnisse der militärischen Niederlage. Und beide werden getragen vom revolutionären Proletariat.
Damit ist aber auch so ziemlich die Übereinstimmung der beiden erschöpft.
Die Bolschewiki gewannen die Kraft, die politische Macht an sich zu reißen, dadurch, daß sie unter den politischen Parteien Rußlands diejenige waren, die am energischsten den Frieden forderte, den Frieden um jeden Preis, den Separatfrieden, unbekümmert darum, wie sich dadurch die allgemeine internationale Situation gestaltete, ob sie den Sieg und die Weltherrschaft der deutschen Militärmonarchie dadurch förderten oder nicht, zu deren Schützlingen sie lange Zeit ebenso zählten, wie indische oder irische Rebellen und italienische Anarchisten.
Ganz anderer Art war die Haltung des französischen Radikalismus im Kriege von 1870, nach dem Sturze Napoleons und der Proklamierung der Republik, nach dem Auftauchen der deutschen Forderung auf Annexion Elsaß-Lothringens. In dem Kampf der dritten Republik gegen die verbündeten Monarchen Deutschlands schien die Situation von 1793 mit ihrem Kampfe der ersten Republik gegen die verbündeten Monarchen Europas wieder aufzuleben. Die Traditionen jener Zeit wurden wieder wach, und abermals wurde, wie damals, das proletarische Paris das kriegerischste Element, dasjenige, das am zähesten und energischsten die Fortsetzung des Krieges zur Rettung der einen und unteilbaren Republik betrieb.
Indes die Bauern von 1870 waren nicht mehr, die von 1793. Hatten diese Paris gehaßt und seine Herrschaft nur unwillig ertragen, so waren sie doch von der Notwendigkeit beseelt gewesen, den Landesfeind zurückzuwerfen, da dessen Sieg ihnen die feudale Ausbeutung wiederzubringen und die errungenen Kirchen- und Emigrantengüter wiederzunehmen drohte.
Die Bauern von 1870 hatten derartiges vom Siege der Preußen nicht zu fürchten. So überwog für sie das Kirchturmsinteresse, das ihnen den Verlust Elsaß-Lothringens als das geringere Übel gegenüber den Verheerungen und Lasten des Krieges erscheinen ließ. Abgesehen von den Elsaß-Lothringern selbst, die sich verzweifelt bis zum letzten Moment gegen die Abtretung sträubten, gewann unter den Bauern und Kleinstädtern von Frankreich im Fortgang des Krieges der Friedensgedanke rasch Boden. Er kam auf in Gegensatz zu dem radikalen, kriegerischen Paris, er wurde das Feldgeschrei der Reaktionäre, der Monarchisten.
Wie 1917 in Rußland, gewann auch 1871 die Friedenspartei, die Partei der Kriegsmüdigkeit, die Oberhand über die Verlängerer des Krieges. Aber der Friedensgedanke stärkte 1871 nicht die Radikalsten unter den Radikalen, sondern die Reaktionärsten unter den Reaktionären. Am 8. Februar 1871 wurde eine Nationalversammlung erwählt, um Frieden zu schließen. Sie zählte nur 200 Republikaner, dagegen über 400 Monarchisten.
„Fast die gesamte Provinz forderte: ,Frieden um jeden Preis.’ Paris dagegen rief: ,Krieg bis ans Messer.’ Es erwählte ... nur Männer, die den Auftrag hatten, für die Fortsetzung des Krieges einzutreten, auf keinen Fall zuzulassen, dafi der Friede um den Preis der Abtretung von Gebiet erkauft werde.“ (Louis Dubreuilh, La Commune, Paris, Jules Rouff)
Am 12. Februar trat die Nationalversammlung in Bordeaux zusammen, am 1. März stimmte sie dem Friedensvertrag zu, mit 516 gegen 107 Stimmen. Fast die Hälfte dieser 107 bildeten die Vertreter von Paris.
Die Nationalversammlung war nur gewählt worden, um den Frieden abzuschließen. Nur mit Rücksicht auf diesen hatten die Wähler gestimmt. Die große Mehrheit der Reaktionäre in ihr war nicht der Abneigung gegen die Republik zuzuschreiben, sondern dem überwältigenden Bedürfnis nach Frieden. Mit dessen Abschluß erlosch das Mandat der Nationalversammlung. An ihrer Stelle war eine neue zu erwählen, die über die Verfassung zu entscheiden hatte. Diese Wahlen wären wohl anders ausgefallen, als die zur Versammlung von Bordeaux, denn die Republik begegnete keineswegs so allgemeiner Abneigung wie die Fortsetzung des Krieges. In der Tat lieferten die Gemeinderatswahlen, die am 30. April 1871 in ganz Frankreich stattfanden, große republikanische Mehrheiten. Aber gerade, weil die Krautjunker der Nationalversammlung das fürchteten, klebten sie an ihren Mandaten.
Sie gebärdeten sich als konstituierende Versammlung, und hätten zweifellos die Monarchie wiedereingeführt, wären sie nicht gespalten gewesen. Die eine Hälfte unter ihnen waren Legitimisten, Anhänger der Dynastie, die in Frankreich bis 1830 als die legitime galt. Die andere Hälfte Orleanisten, Verfechter der Dynastie, die durch die Revolution von 1830 an Stelle der angestammten Herrscher gesetzt worden war. Dieser Zwiespalt rettete die Republik, bewahrte jedoch nicht Paris vor dem vereinten Haß der beiden Fraktionen. Keine andere feste Stütze besaß die französische Republik als Paris. Aber die Kraft dieser Stütze hatte sich seit 1789 unzählige Male erwiesen. An die Wiederherstellung der Monarchie war nicht zu denken, so lange Paris nicht niedergeschlagen war.
Immer und immer wieder tobten die Provinzler gegen Paris, das sittenlose, gottlose, das kriegerische, das republikanische Paris, von seinem Sozialismus gar nicht zu reden. Vom Beginn ihrer Sitzungen an gab die Nationalversammlung diesem Abscheu lautesten Ausdruck. Das heldenmütige Paris, das eben eine furchtbare Belagerung von fünf Monaten im Dienste der Landesverteidigung ausgehalten, wurde nun von seinen erhabenen Landesvätern auf das wüsteste beschimpft.
Paris zu erniedrigen, ihm jede Selbstverwaltung vorzuenthalten, ihm seine Stellung als Hauptstadt zu rauben, endlich es zu entwaffnen, um in voller Sicherheit den monarchistischen Staatsstreich wagen zu können, das wurde die wichtigste Sorge der Nationalversammlung und des von ihr erwählten Chefs der Exekutive, Thiers.
Aus dieser Situation entsprang der Konflikt, der zum Ausbruch der Pariser Insurrektion führte.
Man sieht, wie ganz anderer Art sie war, als der Staatsstreich des Bolschewismus, der aus dem Friedensbedürfnis seine Kraft zog, der die Bauern hinter sich hatte, der in der Nationalversammlung keine Monarchisten sich gegenüber sah, sondern Sozialrevolutionäre und menschewistische Sozialdemokraten.
So verschieden wie die Ausgangspunkte der bolschewistischen Revolution und der zweiten Pariser Kommune, waren auch die letzten Veranlassungen der beiden.
Die Bolschewikis kamen zur Macht durch einen wohl vorbereiteten Staatsstreich, der ihnen mit einem Schlage die gesamte Staatsmaschinerie auslieferte, die sie sofort aufs energischste und rücksichtsloseste zur politischen und ökonomischen Depossedierung ihrer Gegner – aller ihrer Gegner, auch der proletarischen – ausnutzten.
Durch die Erhebung der Kommune wurde dagegen niemand mehr überrascht, als die Revolutionäre selbst. Und einem großen Teil unter ihnen kam der Konflikt äußerst unerwünscht.
Wohl hatte infolge der revolutionären Traditionen die Taktik der vorbereiteten bewaffneten Insurrektion einen starken Anhang bei den Parisern. Die Blanquisten waren ihre Hauptvertreter unter den Sozialisten. Zu verschiedenen Malen während der Belagerung hatten sie und andere jakobinisch gerichtete Elemente Erneuten versucht, dabei aber keine ausreichende Unterstützung gefunden, so daß sie regelmäßig gescheitert waren.
So hatten sie sich unter dem Eindruck der Kapitulation von Metz am 31. Oktober erhoben, um die Erwählung einer Pariser Gemeindevertretung, der Kommune, zu verlangen, nicht aus sozialistischen, sondern aus patriotischen Gründen, um die Kriegführung energischer zu gestalten, wie es die erste Pariser Kommune von 1792 bis 1794 getan. Dem regierungstreuen Teil der Nationalgarde gelang es, der Erhebung ohne jedes Blutvergießen Herr zu werden, so wenig Widerstand fanden die Regierungstruppen. Um ihre Position zu stärken, veranlaßte die Regierung am 3. November eine Volksabstimmung in Paris. Dabei wurden 558 000 Stimmen für die Regierung und nicht ganz 63 000 gegen sie abgegeben.
Nicht besser schnitten die Männer der Aktion um jeden Preis am 22. Januar ab, obwohl sie auch damals die in Paris sehr populäre patriotische Losung der Fortsetzung des Krieges verfochten. Die Regierung hatte eben die Unvermeidlichkeit der Kapitulation verkündet, was einen Entrüstungssturm der Revolutionäre zur Folge hatte, der blutiger ausfiel. als der vom 31. Oktober, aber ebenfalls mühelos niedergeschlagen wurde.
Diese Mißerfolge hatten die Männer der Aktion ermüdet, enttäuscht, geschwächt. Sie waren am 18. März noch nicht wieder darauf vorbereitet, von neuem einen Aufstand hervorzurufen. Die Männer der sozialistischen Internationale wiederum waren von vornherein gegen jeden Aufstandsversuch gewesen. Gleich nach dem Sturz Napoleons durch die Septemberrevolution schrieb Marx an Engels (6. September 1870):
„Ich war eben ‚niedergesetzt‘, um Dir zu schreiben, als Seraillier kommt und mir anzeigt, daß er morgen London für Paris verläßt, jedoch um sich dort nur ein paar Tage aufzuhalten. Hauptzweck: die Sachen mit der Internationale dort (Föderalrat von Paris) zu arrangieren. Dies um so nötiger, als heute die ganze ‚französische Sektion‘ nach Paris aufbricht, um dort Dummheiten im Namen der Internationale zu machen. ‚Sie‘ wollen die provisorische Regierung stürzen, die Kommune von Paris etablieren, Pyat zum französischen Gesandten in London ernennen usw.“
„Ich habe heute vom Föderalrat in Paris eine Proklamation an das deutsche Volk erhalten (die ich Dir morgen schicke), nebst dringendem Ersuchen an den Generalrat, neues Manifest an die Deutschen speziell zu erlassen. Das hatte ich schon vor heute abend vorzuschlagen. Sei so gut, so rasch als möglich, mir englisch über Elsaß-Lothringen die nötigen, für das Manifest benutzbaren militärischen Randglossen zu schicken.“
„Dem Föderalrat (in Paris) habe ich heute schon geantwortet, ausführlich, und zugleich die unangenehme Arbeit unternommen, ihnen die Augen über den wirklichen Stand der Dinge zu öffnen.“ (Briefwechsel zwischen Engels und Marx, IV, S. 330)
Man hat mir vorgeworfen, ich sei nur ein „entarteter Epigone“ von Marx.
Diesen hätte schon seine revolutionäre Natur und sein vulkanisches Temperament ohne weiteres in das Lager der Bolschewiki getrieben. Wir sehen hier, wie dieses vulkanische Temperament in der Zeit der Revolution für seine erste Aufgabe die „unangenehme Arbeit“ hielt, seinen Genossen „die Augen über den wirklichen Stand der Dinge zu öffnen“, und daß dieses selbe Temperament trotz allen Vulkanismus unter Umständen geplante, revolutionäre Aktionen sogar mit dem wenig anfeuernden Namen einer Dummheit zu belegen vermochte.
Engels antwortete Marx am 7. September:
„Eben geht Dupont weg. Er war den Abend hier und ist wütend über die schöne Pariser Proklamation. Daß Seraillier hingeht und vorher mit Dir gesprochen hat, beruhigt ihn. Seine Ansichten über den Kasus sind ganz klar und richtig: Benutzung der durch die Republik unvermeidlich gegebenen Freiheit zur Organisation der Partei in Frankreich, Aktion, wenn die Gelegenheit nach erfolgter Organisation sich bietet, Zurückhalten der Internationale in Frankreich bis nach erfolgtem Frieden.“
Worauf Marx am 10. September erwiderte:
„Sage Dupont, daß ich ganz mit seinen Ansichten übereinstimme.“
Also nicht Aktion, sondern Organisation erschien dem vulkanischen Temperament das wichtigste.
In diesem zurückhaltenden Sinne war die Internationale auch in Frankreich tätig. Sie betrieb nichts weniger, als eine überstürzte Aktion.
Nur ein Beispiel dafür. Am 22. Februar schlug in einer Sitzung des Pariser Föderalrats der Internationale ein Mitglied eine friedliche Demonstration für den 24. Februar vor, den Jahrestag der Revolution von 1848. Selbst diese friedliche Demonstration erschien der Mehrzahl des Föderalrats angesichts der gespannten Lage als höchst unzeitgemäß. Vor allem erhob sich dagegen Frankel, der forderte, man solle augenblicklich alle Kraft auf die Organisation des Proletariats aufwenden und auf das Studium der dringendsten ökonomischen Fragen, vor allem der Zahlung der während der Belagerung gestundeten Mieten und der Arbeitslosigkeit. Die Vertreter der Internationale in der Nationalversammlung, Malon und Tolain, sollten dort den Willen der Arbeiter kundtun.
Auf Antrag Frankeis beschloß der Föderalrat, keine Demonstration zu veranstalten und es den einzelnen Mitgliedern zu überlassen, ob sie sich an einer solchen beteiligen wollten.
Das bezeugt kein starkes Bedürfnis nach einer Insurrektion.
Nicht von den Revolutionären wurde sie hervorgerufen, sondern von ihren Gegnern. Die Notwendigkeit des Krieges hatte dazu geführt, daß das Proletariat von Paris in die Nationalgarde aufgenommen und bewaffnet worden war. Dieser Zustand dünkte den Elementen, die sich um Thiers scharten – Krautjunker, Geldmenschen, die Spitzen der Bureaukratie und der Armee – als eine unermeßliche Gefahr. Nach der Unterzeichnung des Friedens erschien ihnen nichts dringender notwendig, als die Entwaffnung des proletarischen Teils der Pariser Nationalgarde. Das sollte damit beginnen, daß ihr die Kanonen genommen wurden.
Daß die Pariser Nationalgarde im Besitz von Kanonen war, hatten die deutschen Machthaber veranlaßt, deren Vorgehen „der Funke wurde, der das Feuer ans Pulverfaß legte“, wie Bourgin mit Recht sagte. (Georges Bourgin, Histoire de La Commune, Paris 1907, S. 43)
Die Maßlosigkeit in der Ausnutzung des Sieges liegt im Wesen des Kriegshandwerks begründet. Es gehört zu den Aufgaben des Feldherrn, nicht nur zu siegen, sondern auch den geschlagenen Feind rücksichtslos bis zu seiner völligen Zersprengung und Demoralisierung zu verfolgen. Anderer Art aber sind die Aufgaben des Staatsmannes, der über den Sieg hinaus die Bedingungen des künftigen Zusammenlebens mit dem augenblicklichen Gegner im Auge zu behalten hat.
Diese beiden Auffassungen geraten wohl in jedem Feldzuge in Gegensatz zu einander. Die Folgen sind unheilvoll, wenn die militärische Auffassung über die eigentliche Kriegführung hinaus auf die Politik Einfluß gewinnt. Im Jahre 1866 war Bismarck noch der militärischen Denkweise Herr geworden, wenn auch nur mit größter Mühe. Doch gerade die Erfolge von 1866 hatten dem preußischen Generalstab ein überragendes Ansehen verliehen, das durch die Siege von 1870 noch unendlich gesteigert wurde. Bismarck kam dagegen nicht mehr auf, er mußte der militärischen Denkweise nicht nur weichen, sein eigener politischer Verstand wurde durch sie getrübt und geblendet.
Daher die Forderung der Annexion Elsaß-Lothringens, die den Krieg um Monate verlängerte, Frankreich in die Arme Rußlands trieb und den jetzigen Zusammenbruch Deutschlands vorbereitete.
Doch immerhin, Elsaß-Lothringen war doch ökonomisch und strategisch ein für den Augenblick greifbarer Gewinn. Man begnügte sich aber damit nicht, sondern suchte ihm die Demütigung von Paris hinzuzufügen, des den Deutschen so verhaßten Zentrums des Widerstands gegen ihre Armeen, und zwang den Franzosen am 26. Februar die Bestimmung auf, daß deutsche Truppen vom 1. März an nach Paris einmarschieren und die Champs Elysees besetzen sollten.
Als am 27. Februar den Parisern diese Nachricht bekanntgegeben wurde, antwortete ein allgemeiner Schrei der Empörung und der Ruf zu den Waffen, um den Landesfeind gewaltsam zurückzuwerfen. Fast alle Bataillone der Nationalgarde erklärten sich bereit, dem Rufe Folge zu leisten.
Nur die Internationalisten behielten wieder ruhig Blut. So verderblich ihnen im Augenblick eine Insurrektion gegen den inneren Feind erschien, nicht minder unheilvoll eine gegen den Landesfeind. Sie beschworen das Zentralkomitee der Nationalgarde, von jedem Versuch eines bewaffneten Widerstandes abzusehen, der nur eine Wiederholung der Junischlächterei und ein Ersticken der Republik im Blut der Pariser Arbeiter zur Folge hätte. Sie schlugen vor, die Nationalgarde sollte, statt bewaffneten Widerstand zu leisten, die Deutschen mit einem Kordon umgeben, der sie von der Pariser Bevölkerung völlig abschloß und isolierte.
Das Zentralkomitee ließ sich im letzten Moment umstimmen, und so danken wir es der Internationale, daß der eitle Übermut der deutschen Sieger nicht eine der furchtbarsten Straßenschlachten der Weltgeschichte provozierte. Es sollten nicht deutsche, sondern französische Soldaten sein, die jenes damals befürchtete Blutbad wenige Wochen später unter dem Pariser Proletariat anrichteten.
Bei der Kapitulation von Paris am 28. Januar war alles Kriegsmaterial der Truppen in der Stadt dem Sieger zugesprochen worden. Ausgenommen davon blieben die Waffen der Nationalgarde. Nicht bloß ihre Gewehre, sondern auch ihre Kanonen, die nicht vom Staate, sondern von der Stadt Paris angeschafft worden waren.
Als jetzt die Deutschen in Paris einzogen, sorgte die Regierung in keiner Weise dafür, daß diejenigen von diesen Kanonen, die im Bereich des den Siegern einzuräumenden Gebiets standen, in Sicherheit gebracht wurden. Sie hätte es wohl gewünscht, daß der Landesfeind sich ihrer bemächtigte und den inneren Feind dadurch schwächte. Doch die Nationalgarden waren auf ihrer Hut und verbrachten die Kanonen, 400 an der Zahl, rechtzeitig nach Stadtteilen, zu denen die Deutschen keinen Zugang hatten.
Diese Kanonen in die Hand zu bekommen, wurde nach dem Friedensschluß eine dringende Sorge für die Regierung. Damit sollte die Entwaffnung des proletarischen Teils der Pariser Nationalgarde eingeleitet werden.
Die Nationalversammlung hatte gedroht, Paris zu enthaupten und zu enthauptstadten (décapiter et décapitaliser). Sie hatte zu diesem Behuf beschlossen, nicht in Paris zu tagen. Mit Mühe und Not gelang es Thiers, sie dahin zu überreden, daß sie sich dazu verstand, in der Nähe von Paris, in Versailles, ihren Sitz aufzuschlagen, der sich bis dahin in Bordeaux befunden hatte. Am 20. März wollte sie dort zusammentreten. Vorher schon sollte sie darüber beruhigt werden, daß sie von Paris nichts zu befürchten habe. So wurde die Beschlagnahme der Kanonen auf den 18. März festgesetzt.
Thiers hielt es für das klügste, sie heimlich zu stehlen, statt offen gewaltsam zu rauben. Um drei Uhr morgens, als ganz Paris schlief, besetzten einige Regimenter den Montmartre, auf dem die Kanonen unbewacht standen, und versuchten sie fortzuschaffen. Doch hatte man merkwürdigerweise vergessen, die dazu nötigen Pferde mitzubringen. Sie mußten erst geholt werden, und inzwischen rochen die Pariser den Braten, rasch sammelte sich eine von Minute zu Minute wachsende Volksmenge an, die die Soldaten beschwor, von den Kanonen abzulassen. Sie hatte Erfolg. Die Soldaten, die mit der Pariser Bevölkerung gelebt, mit ihr gegen den Landesfeind gekämpft, mit ihr die Verachtung der unfähigen Generäle eingesogen hatten, sie fraternisierten jetzt mit dem Volk und den Nationalgarden. General Lecomte, der den Truppen befahl, auf eine unbewaffnete Masse zu schießen, erreichte nur, daß seine eigenen Soldaten sich gegen ihn wandten, ihn verhafteten und erschossen.
Diese Erschießung gehört zu den terroristischen Greueltaten, deren man die Kommune beschuldigte. Dazu zählt auch die Erschießung des Generals Thomas, den man an jenem Morgen des 18. März in Zivilkleidung in der Menge aufgriff, als er Notizen machte. Er wurde als Spion hingerichtet. Schon am 28. Februar war ein Polizeiagent, der bei einem Spionendienst ertappt worden war, in die Seine geworfen und grausam ertränkt worden.
Diejenigen, die jene Taten der Kommune aufs Kerbholz schreiben, vergessen, daß sie zu einer Zeit vorfielen, als es eine Kommune noch nicht gab. Aber auch die Pariser Bevölkerung darf man nicht ihretwegen anklagen. Jede dieser Tötungen wurde nicht von der Zivilbevölkerung, sondern von Soldaten vorgenommen. Sie kennzeichneten nicht die Denkweise des Proletariats, sondern des Militarismus, „der mit Menschenleben nicht viel Federlesens macht.. Und diejenigen Menschenfreunde, die sich über die Soldaten entrüsten, weil sie ihren blutdürstigen General erschossen, hätten nichts dagegen gesagt, wenn die gleichen Soldaten Frauen und Kinder niederschossen.
„Statt Weiber und Kinder zu erschießen, erschossen seine eigenen Leute ihn (General Lecomte) selbst. Die eingewurzelten Gewohnheiten, die den Soldaten unter der Zucht der Feinde der Arbeiter beigebracht werden, verlieren sich selbstredend nicht in demselben Augenblick, wo diese Soldaten zu den Arbeitern übergehen.“ (Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, S. 38)
Soweit die Nationalgarden in diese Vorgänge eingriffen, geschah es nur in der Absicht, Blutvergießen zu verhindern. Sie erreichten in der Tat, zum Teil mit eigener Lebensgefahr, daß von den durch ihre empörten Soldaten verhafteten Offizieren nur die Genannten getötet und die übrigen laufen gelassen wurden.
Am 19. März protestierte das Zentralkomitee der Nationalgarde sofort dagegen, daß es an den eben erwähnten Bluttaten irgendwie beteiligt sei. In seiner Erklärung, die es im Journal ofnciel der Kommune vom 20. März veröffentlichte, heißt es unter anderem:
„Wir sagen es mit Entrüstung: der blutige Schmutz, mit dem man unsere Ehre zu schänden sucht, ist eine elende Infamie. Niemals wurde von uns eine Exekution beschlossen, niemals hat die Nationalgarde an der Ausübung eines Verbrechens teilgenommen.“
Das war eine kräftige Verurteilung nicht nur der Ankläger, sondern auch jener Taten, deren Urheberschaft der Nationalgarde in die Schuhe geschoben wurde.
Angesichts des Übergangs der Truppen zum Volk blieben der Regierung nur zwei Auswege: entweder den empörten Massen Konzessionen zu machen, mit ihnen zu verhandeln oder zu fliehen. Thiers wollte nichts von Verhandlungen wissen, er flüchtete Hals über Kopf mit seiner Regierung aus Paris und beeilte sich, alle Truppen herauszuziehen, die nicht schon vom Geist der Meuterei angesteckt waren. Selbst die Forts um Paris herum gab er preis, darunter das beherrschende Fort des Mont Valerien.
Wären die Pariser Thiers auf den Fersen geblieben, es wäre ihnen vielleicht gelungen, sich der Regierung zu bemächtigen. Die aus Paris abziehenden Truppen hätten nicht den geringsten Widerstand geleistet. Das bestätigten später ihre Generäle. Dann war die Möglichkeit vorhanden, eine neue Regierung einzusetzen, die freilich noch nicht den Sozialismus durchführen konnte – dazu waren die Verhältnisse noch nicht reif. Wohl aber hätte sie die Nationalversammlung auflösen und eine neue wählen lassen können mit dem Programm: Befestigung der Republik, Selbstverwaltung der Gemeinden, Paris inbegriffen, Ersetzung des stehenden Heeres durch eine Miliz. Mehr verlangte damals die Kommune nicht. Und dies Programm war bei den gegebenen Verhältnissen Frankreichs durchführbar.
Aber Thiers zog unbehelligt ab. Man gestattete ihm, seine Truppen mit sich zu nehmen und in Versailles, zu reorganisieren, mit neuem Geiste zu erfüllen und zu verstärken.
Niemand wurde durch die Flucht der Minister mehr überrascht als die Pariser. Keine Organisation war da, die sofort an Stelle der geflüchteten Machthaber die Leitung der Ereignisse hätte übernehmen können. Noch am Morgen des 19. März war Paris ohne jede Regierung. Von selbst, durch die Wucht der Tatsachen, wurde das Zentralkomitee der Nationalgarde an ihre Stelle gedrängt, eine Körperschaft ohne festes Programm und ohne klare Taktik. Sie entledigte sich zunächst ihrer Verantwortung dadurch, daß sie die Macht einem einzelnen anvertraute, Lullier, dem sie das Oberkommando über, Paris übertrug. Es war der ungeeignetste Mensch, den man sich denken konnte, ein Trunkenbold, bei dem man nicht weiß, ob er
„mehr Narr als Verräter war oder umgekehrt. Dieser Mann häufte in 48 Stunden alles auf, was an groben Mißgriffen, an nicht wieder gutzumachenden Fehlern zu inachen war ... Aber diese unglückliche Wahl Lulliers war schließlich nur ein Anzeichen, ein bezeichnendes Merkmal einer Situation.“ (Dubreuilh, La Commune, S. 283)
Erst am 3. April entschloß man sich zu einem Ausfall gegen Versailles. Aber was am 19. März sicheren Erfolg gebracht hätte, wurde am 3. April Ursache des Verderbens. Die Erwartung, die Soldaten würden wieder, wie am 18. März, zu den Parisern übergehn, wurde bitter enttäuscht. Die Pariser Nationalgarden stießen auf hartnäckigen, überlegenen Widerstand, der sie zurückwarf. Von da an waren sie in die Defensive gedrängt, in die Defensive gegen ganz Frankreich. Damit war damals schon ihr Untergang entschieden. Von da an aber wurde die Pariser Erhebung erst eine ausschließlich proletarische. Bis dahin schwankten weite Kreise der Bourgeoisie, ob sie nicht mit ihr gehen sollten. Nun ließen sie das Proletariat allein den Kampf ausfechten.
Wie ganz anders als am 18. März 1871 in Paris vollzog sich die Insurrektion am 7. November 1917 in Petersburg. Sie war vorbereitet von einem Revolutionskomitee, das die Kräfte der Arbeiter und der Soldaten zum Sturm auf die Regierungsgewalt organisierte, die damals in Petersburg ebensowenig Macht hinter sich hatte, wie Thiers 1871 in Paris.
Aber freilich, die sofortige Besetzung aller Machtpositionen in der Hauptstadt hätte den Sieg der Bolschewiki nicht entschieden, wenn nicht im ganzen Reiche die Machtverhältnisse für sie weit günstiger lagen als 1871 für Paris.
Als Kerenski nach Gatschina floh, wie ehedem Thiers nach Versailles, konnte er nicht auf eine Bauernschaft rechnen, die hinter ihm stand. Die Bauernschaft und mit ihr die Armee trat in Rußland auf die Seite der Revolutionäre, die sich der Hauptstadt bemächtigt hatten. Das verlieh ihrem Regime eine Kraft und eine Dauer, die der Pariser Erhebung versagt blieben. Es fügte ihm aber auch ein ökonomischreaktionäres Element ein, von dem die Pariser Kommune verschont blieb. Deren Diktatur des Proletariats hat sich nie auf Bauernräte gestützt.
Die Pariser Kommune und die Sowjetrepublik waren grundverschieden in ihren Ausgangspunkten. Nicht minder auch in ihren Organen und Methoden.
Allerdings kannte auch die Pariser Kommune eine Organisation, die in Parallele gesetzt werden kann zum Arbeiter- und Soldatenrat. Sie war ja insofern in einer ähnlichen Lage wie die russische Revolution, als sie ebenso wie diese auf ein despotisches Regime folgte, das jegliche öffentliche politische Massenorganisation verhindert und auch die gewerkschaftliche Organisation bis kurz vor seinem Zusammenbruch verboten hatte.
Ebensowenig wie die russischen Arbeiter 1905 und 1917, fanden die französischen nach dem 4. September 1870 starke politische und gewerkschaftliche Organisationen vor, die sie zu geschlossenem Kampf befähigt hätten. Das war ja, wie wir gesehn, einer der Gründe, die Marx so sehr wünschen ließen, daß die Arbeiter die neue Republik zunächst dazu benutzen sollten, sich zu organisieren und zu unterrichten und dadurch zur Herrschaft reif zu machen, und nicht dazu, ihre Kräfte in Putschen, die ihnen auch im günstigsten Fall keine dauernde Herrschaft verhießen, vorzeitig zu vergeuden.
Als sie aber zur Macht gekommen waren, nicht durch einen Putsch, sondern durch eine ihnen aufgezwungene Kraftprobe, da mußten sie trachten, dem Mangel an politischer und gewerkschaftlicher Organisation durch ein Ersatzmittel zu begegnen, das sie fertig vorfanden.
Für die russischen Arbeiter war ein solches gegeben in der Organisation der Großbetriebe.
„Die moderne Industrie hat die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik des industriellen Kapitalisten verwandelt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt.“ (Engels-Marx, Kommunistisches Manifest)
Die „Industriesoldaten“ der Fabrik brauchten bloß die von Kapitalisten angestellten Unteroffiziere und Offiziere durch solche eigener Wahl zu ersetzen, und die Fabrikorganisation wurde zur Klassenorganisation der Fabrikarbeiter. So kamen die Proletarier Rußlands zur Einrichtung der Arbeiterräte. Sie stellt nicht gegenüber der Partei- und Gewerkschaftsorganisation der weiter entwickelten Länder eine höhere Form proletarischer Organisation dar, sondern zunächst nur einen Notbehelf, aus ihrem Fehlen geboren.
Die Pariser Arbeiter verfügten nicht über diesen Notbehelf. Die Pariser Industrie war zum großen Teil Luxusindustrie, nicht Massenindustrie. Noch zur Zeit der zweiten Kommune überwog in ihr „die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters“, indes die „große Fabrik des industriellen Kapitalisten“ fast gänzlich fehlte, im Gegensatz zur Industrie Rußlands, namentlich Petersburgs. Das Russische Reich zeigt seine ökonomische Rückständigkeit in dem Mangel an Industrie, in der geringen Zahl der Industriearbeiter gegenüber den Bauern. Was aber an kapitalistischer Industrie vorhanden ist, trägt die neuesten Typen des Großbetriebs.
Die Pariser Arbeiter mußten zu einem anderen Ersatzmittel für die ihnen fehlende politische und ökonomische Massenorganisation greifen, und sie fanden es in der Nationalgarde.
Die Revolution von 1789 hatte dahin geführt, daß allenthalben in Frankreich, namentlich aber in Paris, das Volk sich bewaffnete. Diese Bewaffnung diente doppelten Zwecken. Die unteren Klassen, Proletarier und ärmeren Kleinbürger, bewaffneten und organisierten sich zu Insurrektionen. Die Revolution hatte ihnen nicht das gebracht, was sie brauchten, und konnte es ihnen nach dem Stand der Dinge nicht bringen. Daher ihr steter Drang, durch bewaffnete Erhebung die Revolution immer weiter zu treiben.
Anders war die Situation der Bourgeoisie, der Kapitalisten, der wohlhabenden Kleinbürger, der in auskömmlicher Lage befindlichen Intellektuellen. Ihnen hatte die Revolution 1789 gebracht, was sie brauchten; sie bewaffneten und organisierten sich, um das Gewonnene zu verteidigen, nach zwei Seiten hin – gegenüber den reaktionären Mächten, die den alten Feudalabsolutismus wieder aufrichten wollten, wie gegenüber den unteren Schichten, die ungeduldig immer weiter drängten. Ihre bewaffnete Organisation war die der Nationalgarde.
Die Bourgeoisie blieb der Sieger in den revolutionären Kämpfen, und mit ihr behauptete sich die Einrichtung der Nationalgarde als einer Wehr der besitzenden Klassen, die ihre Offiziere selbst ernannte und der Regierung gegenüber eine gewisse Selbständigkeit besaß.
Den Höhepunkt ihrer Bedeutung erlangte die Nationalgarde unter dem Julikönigtum, 1830–1848. Sie vermochte jedoch nicht es zu retten, und zeigte sich 1848 sehr unzuverlässig. Napoleon III nahm ihr nach seinem Staatsstreich ihre Selbständigkeit, namentlich das Recht, die Offiziere zu wählen. Doch wagte er es nicht, sie gänzlich abzuschaffen.
Da kam der Krieg von 1870, kamen die ersten Niederlagen. Wieder einmal war das Vaterland in Gefahr, erwachten die Geister von 1793, die Traditionen des siegreichen Kampfes gegen Europa vermöge der levee en masse, der bewaffneten Erhebung des gesamten Volkes.
Unter dem Druck dieser Situation nahm der gesetzgebende Körper in Paris am 11. August auf Antrag Jules Favres ein Gesetz an, das die Nationalgarde aus einer Bürgerwehr in eine allgemeine Volkswehr umwandelte. Zu den 60 alten Bataillonen der Nationalgarde von Paris, die den besitzenden Klassen entnommen waren, gesellten sich dort nun 200 neue der ärmeren Klassen, die sogar das Recht erhielten, ihre eigenen Offiziere zu ernennen.
So wurden die neuen Bataillone der Nationalgarde in Paris zu wahrhaften Organisationen des Proletariats.
Das ganze Gesetz über diese Erweiterung der Nationalgarde war ein Ergebnis plötzlichen Schrecks, nicht reiflicher Überlegung. Seinen Vätern graute bald selbst vor ihrem Kinde, so beschlossen sie alles aufzubieten, damit es nicht erstarke. Man konnte es nicht verhindern, daß die Pariser Proletarier bewaffnet wurden, aber die Militärbehörden von Paris unter dem Kommando Trochus unterließen alles, was geeignet gewesen wäre, die Nationalgarden zu brauchbaren Truppen zu gestalten. Sie verrieten damit ihr Vaterland, aber sie fürchteten die Pariser Arbeiter mehr als die Soldaten Wilhelms.
In Paris befanden sich bei Beginn der Belagerung 100 000 Linientruppen, dazu 100 000 Mobilgarden. Nimmt man an, daß von den mehr als 300 000 Nationalgarden 200 000 felddienstfähig waren, so machte das zusammen eine Armee von 400 000 Mann aus, denen die Deutschen vor Paris nie viel mehr als die Hälfte entgegenzusetzen hatten, die über einen weiten Umkreis verteilt waren.
Man verfügte über genügend Zeit, die Nationalgarde zu schulen, von August an.
Es stand also dem Befehlshaber von Paris gegenüber den Deutschen eine große Übermacht zur Verfügung. Gelang es ihm, den eisernen Ring, der Paris umklammert hielt, an einer Stelle zu durchbrechen, dann waren die Aussichten für die deutsche Armee sehr gering, den Krieg noch zu gewinnen.
Aber alles das hätte vorausgesetzt, „daß man sich sofort daran machte, die Nationalgarde militärisch zu schulen. Und davor schreckte man zurück. Lieber verlor man den Krieg und lieferte Elsaß-Lothringen dem Gegner aus.
Das fühlten die Pariser, und daher ihre Wut gegen die Machthaber, die Frankreich verrieten.
Als Paris kapituliert hatte, die Nationalversammlung gewählt war und ihr Haß gegen die Republik und gegen die Hauptstadt in der provozierendsten Weise zutage trat, da erkannten die Pariser, daß sie einem schweren Konflikt entgegengingen. Die einzige Macht, auf die sie sich stützen konnten, war die Nationalgarde.
Die revolutionären Bataillone hatten schon während der Belagerung enge Fühlung miteinander gehalten, nun schlossen sie sich zu einem Bunde, einer Föderation, zusammen, daher die Föderierten genannt.
Zuerst am 15. Februar traten Delegierte der revolutionären Bataillone zusammen, um über die Föderation zu beraten. Sie setzten eine Kommission zur Ausarbeitung der Statuten ein, die einer neuen Versammlung am 24. Februar vorgelegt wurden. Doch die Versammlung war damals, wo schon der Einzug der Deutschen befürchtet wurde, zu erregt, um zu beraten. Sie unterbrach die Sitzung, um an einer revolutionären Demonstration auf dem Bastilleplatz teilzunehmen.
In den folgenden Tagen tat sich dann ein provisorisches Zentralkomitee der Nationalgarde auf, was höchst notwendig war, angesichts des bevorstehenden Einmarsches der Deutschen, um Kopflosigkeiten zu verhüten. Zu einer definitiven Organisation kam erst eine Delegiertenversammlung am 3. März. Es wurde bestimmt, ein Zentralkomitee der Nationalgarde sollte eingesetzt werden, bestehend aus drei Delegierten für jeden der 20 Bezirke (Arondissements) von Paris. Zwei der drei wurden gewählt durch den Legionsrat, der dritte von den Bataillonschefs der Legion. Die Bataillone eines Arondissements bildeten zusammen eine Legion. Am 15. März traten die so Erwählten als definitives Zentralkomitee zusammen und lösten das bis dahin fungierende provisorische Komitee ab.
Man kann dieses Zentralkomitee, da es von Nationalgarden gewählt war, als Soldatenrat bezeichnen. Es war aber von proletarischen und dem Proletariat nahestehenden Nationalgarden gewählt, denn die Bataillon der Besitzenden taten nicht mit. Nach den Mitteilungen des Zentralkomitees hatte es am 18. März von den 260 Bataillonen der Pariser Nationalgarde 215 hinter sich.
Insofern war es also eine Art Arbeiterrat. Man kann es daher sehr wohl mit einem Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte vergleichen. Trotzdem wurde die Pariser Kommune keine Sowjetrepublik.
Als am 18. März die Regierung Reißaus genommen und die öffentliche Gewalt unbesetzt gelassen hatte, fiel diese von selbst dem Zentralkomitee zu. Das war die einzige Organisation in Paris, die noch allgemeines Ansehen genoß, obwohl alle ihre Mitglieder ganz unbekannte Leute waren.
Am 19. März trat es zusammen, um zu beraten, was tun. Wie so oft, formulierte man auch diesmal das Problem als ein „entweder – oder“, wo ein „sowohl, als auch“ am Platze gewesen wäre. So haben die Sozialisten häufig über die Frage gestritten, ob Reform oder Revolution, anstatt sich zu sagen, daß der Kampf um Reformen und das Streben nach Revolution in einer Weise zu führen sei, in der die eine dieser Bewegungen die andere nicht ausschließt, sondern unterstützt. Am 19. März verlangten im Zentralkomitee die einen, man solle nach Versailles marschieren, andere, man solle sofort an die Wähler appellieren, wieder andere, man solle zunächst revolutionäre Maßregeln ergreifen. Als ob nicht jeder dieser Schritte gleich notwendig gewesen wäre und einer von ihnen den andern ausgeschlossen hätte. Das Zentralkomitee entschloß sich zunächst nur zu einem dieser Schritte, er schien ihm der dringendste zu sein: es wollte zeigen, daß hinter der Pariser Erhebung die Mehrheit der Wähler stehe und wollte der Insurrektion dadurch das größte moralische Gewicht geben. Das war vollständig richtig gedacht, nur wäre es am Platze gewesen, die moralische Autorität des allgemeinen Stimmrechts dem Gegner gegenüber, der sich auf die Armee zu stützen suchte, zu verstärken durch das Mittel militärischer Macht.
Die sofortige Erwählung einer Kommunalverwaltung für Paris auf Grund des allgemeinen Stimmrechts, die das Kaiserreich den Parisern vorenthalten hatte, war freilich unerläßlich geworden. Gleich nach dem Sturze des Kaiserreichs, im September 1870, hatten die Pariser Arbeiter der neuen provisorischen Regierung die Zusicherung abgerungen, die Erwählung einer Kommune werde bald in Angriff genommen werden. Das Nichteinhalten dieses Versprechens hätte zu den Unruhen während der Belagerung nicht wenig beigetragen. Die Insurrektionen des 31. Oktober und des 22. Januar vollzogen sich unter dem Rufe: Es lebe die Kommune!
Daher war die sofortige Ausschreibung der Wahlen zur Kommune notwendig geworden. Sie wurden zuerst auf den 22. März, dann auf den 26. angesetzt. Das Zentralkomitee betrachtete sich bloß als Platzhalter für die Erwählten des allgemeinen gleichen Stimmrechts.
Im Journal officiel de la Republique Française sous La Commune vom 20. März verkündete es den Bürgern von Paris:
„In drei Tagen werdet Ihr berufen sein, in voller Freiheit die Pariser Gemeindevertretung zu erwählen. Dann werden diejenigen, die eine dringende Notwendigkeit veranlaßt hat, die Macht zu ergreifen, ihre provisorischen Befugnisse in die Hände der Erwählten des Volkes niederlegen.“
Es blieb nicht bei dem Versprechen. Nachdem sich die Kommune konstituiert hatte, übergab ihr das Zentralkomitee seine Macht, am 28. März. Ja, es machte sogar Miene, sich vollständig aufzulösen. Doch die Kommune bestand nicht darauf, und so fungierte es weiter unter der Kommune als Teil ihres militärischen Apparats. Das diente nicht zur Vereinfachung der Geschäfte und zur Vereinheitlichung der Kriegführung. Aber das Zentralkomitee versuchte nie, das Prinzip anzutasten, daß den Erwählten des allgemeinen Stimmrechts die oberste Macht gebühre. Nie erhob es den Anspruch, daß alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten, das heißt, im vorliegenden Falle dem Zentralkomitee der Arbeiterbataillone, zufallen solle.
In diesem Punkte war also die Pariser Kommune das gerade Gegenteil der russischen Sowjetrepublik,
Und doch schrieb Friedrich Engels am 18. März 1891, am zwanzigsten Jahrestag der Pariser Kommune:
„Ihr Herren, wollt ihr wissen, wie die Diktatur des Proletariats aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“
Man sieht, Marx und Engels verstanden unter dieser Diktatur keineswegs die Aufhebung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts oder der Demokratie überhaupt.
Bei der Wahl am 26. März wurden 90 Mitglieder der Kommune erwählt. Darunter 15 Regierungsleute und 6 Bürgerlich-Radikale, die in Opposition zur Regierung standen, die Insurrektion aber verurteilten. Eine Sowjetrepublik hätte es gar nicht gestattet, daß solche Elemente der Gegenrevolution sich als Kandidaten präsentieren, geschweige denn sich wählen lassen konnten. Die Kommune bereitete, ihrem Respekt vor der Demokratie entsprechend, der Wahl ihrer bürgerlichen Gegner nicht die geringsten Hindernisse.
Wenn deren Tätigkeit in der Kommune ein rasches Ende nahm, lag das an ihnen selbst. Die Gesellschaft, in die sie geraten waren, behagte ihnen nicht, und sie beeilten sich, ihr Adieu zu sagen. Einige noch vor dem Zusammentritt der Erwählten, die andern in den ersten Tagen der Kommune. Diese Demissionen sowie einige Doppelmandate machten Nachwahlen notwendig, die am 16. April vollzogen wurden.
Die große Mehrheit der Kommunemitglieder stand auf Seiten der Insurrektion. Indes waren unter den revolutionären Mitgliedern der Kommune auch nicht alle Sozialisten.
Die Mehrheit bestand aus einfachen Revolutionären. Die meisten unter ihnen wurden geleitet von den Prinzipien von 1793, von den Traditionen des Jakobinertums. Einige hatten schon 1848 zur damaligen Nachahmung der Bergpartei gehört, so Delescluze und Pyat, nicht wenige waren durch ihren politischen Kampf aus ihrer Berufstätigkeit herausgedrängt, zu Verschwörern und Revolutionären von Profession geworden. Die Alten unter ihnen lebten ganz in den Traditionen der Vorzeit und hatten kein Interesse für neue Verhältnisse und Auffassungen.
„Die anderen, die jungen, waren vielfach Gewaltmenschen ohne feste Grundlage, oft bloße Phrasenhelden, die jetzt Insurrektion spielten, wie sie einige Monate vorher Krieg gespielt hatten, und die mit Redensarten um sich warfen, mit denen sie sich begnügten. Der Revolutionismus der einen wie der andern war auf Äußerlichkeiten gerichtet, oberflächlich und, selbst bei den Besten, auf bloße Gesinnung beschrankt.“
So urteilt über sie der gute Revolutionär Dubreuilh. (La Commune, S. 332)
Die meisten unter ihnen verstanden nichts von Sozialismus, nicht wenige standen ihm direkt feindselig gegenüber, vor allem Delescluze. Man kann sie nicht bürgerliche Politiker in dem Sinne nennen, daß sie die Interessen der Besitzenden vertreten hätten. Im Gegenteil. Sie standen auf Seiten der unteren Klassen, strebten ebensosehr deren Herrschaft an, wie es die Leute der Bergpartei von 1793 getan. Aber ebenso wie diese, wußten sie über die bürgerlichen Eigentums- und Rechtsverhältnisse nicht hinauszugehen, und insofern bildeten sie ein bürgerliches Element. Das war die Mehrheit unter den Revolutionären der Kommune. Nur wenige unter ihnen gehörten zur Arbeiterschaft. Man fand unter ihnen gemaßregelte Beamte, Apotheker, Erfinder, Advokaten, vor allem aber Journalisten.
Verschieden von den Jakobinern waren die Blanquisten, 7 an det Zahl, unter ihnen Blanqui selbst, der jedoch seinen Sitz nicht einnehmen konnte. Es bezeugt, wie wenig die Blanquisten die Insurrektion des 18. März erwarteten, daß Blanqui kurz vor ihrem Ausbruch, um seine Gesundheit zu restaurieren, Paris verlassen hatte. Am 17. März wurde er in Figeac (Departement Lot) verhaftet.
Die Blanquisten stimmten mit den Jakobinern überein in dem Streben, durch eine Insurrektion der unteren Klassen Paris und durch dieses Frankreich mit den Methoden und Mitteln eines Gewaltregimes zu beherrschen. Aber sie gingen über den Jakobinismus hinaus in der Erkenntnis, daß diese Herrschaft nicht genüge, die Ausgebeuteten zu befreien, wenn sie nicht dazu benutzt werde, eine neue gesellschaftliche Ordnung zu schaffen. Sie waren also Sozialisten. Doch überwog bei ihnen immer das politische Interesse über das ökonomische. Sie studierten nicht das ökonomische Leben, suchten nicht systematisches ökonomisches Wissen zu gewinnen, was sie in die bequeme und seit ihnen oft wiederholte Ausrede der Unwissenden hüllten, daß sie es verschmähten, sich in irgendein Dogma einschnüren zu lassen. Sie wollten sich nicht durch „Vorurteile“ und „Schulstreitigkeiten“ „verwirren lassen“. Wenn das Proletariat an der Macht sei, werde es schon wissen, was es zu tun habe. Die Hauptsache sei, ihm diese Macht zu verschaffen. Und als Mittel dazu betrachteten sie die vorbereitete Insurrektion.
Sie hatten nur das Pech, daß die Insurrektionen, die sie vorbereiteten, regelmäßig mißglückten. Und die eine, die glückte, traf sie unvorbereitet.
Indes, die Blanquistische Lehre stellte keine großen Anforderungen an das Denkvermögen und verhieß sofortige Taten. Sie wirkte sehr anziehend auf die Männer der Tat. Trotzdem fand sie unter den Intellektuellen, namentlich den Studenten, noch mehr Beifall als unter den Arbeitern.
Das Zahlenverhältnis dieser Elemente zueinander in der Blanqui-stischen Partei jener Zeit wird unter anderm aus folgendem ersichtlich. Am 7. November 1866 wurde in einem Pariser Cafe eine geheime Sitzung der Blanquistischen Gruppe von der Polizei überrascht und ihre Teilnehmer wurden verhaftet. Es waren 41, von deren jedem der Beruf mitgeteilt wurde. Man zählte unter ihnen 14 Handarbeiter, 4 Handlungsgehilfen, 13 Studenten, 6 Schriftsteller, 1 Advokaten, 1 Handwerksmeister, 1 Rentier, 1 selbständigen Kaufmann. Die Zahl der Studenten wäre noch größer gewesen, aber am 7. November waren die Ferien noch nicht vorüber und viele Studenten von Paris abwesend.
Diese Zusammenkunft war bezeichnend für den Blanquismus nicht nur durch die Art ihrer Zusammensetzung, sondern auch durch ihren Zweck.
Im September 1866 hatte der Kongreß der Internationale in Genf stattgefunden, und die Blanquisten waren dazu geladen worden. Blanqui verbot die Teilnahme, aber zwei der erwählten Delegierten, der Advokat Protot und der Angestellte Humbert, gingen doch hin. Darob große Aufregung im Blanquistischen Lager. Denn zu seinen Traditionen gehörte die Diktatur nicht nur des Proletariats, sondern auch des Führers in der Partei. Beide Arten Diktatur hingen in der Tat innig zusammen. Zum erstenmal seit dem Bestehen der Blanquistischen Organisation war einem Befehl des Parteihauptes zuwidergehandelt worden. Bis dahin hatte man jeden blindlings befolgt. Und auch später hielt man darauf. Die Sitzung am 7. November wurde abgehalten, um über Protot zu Gericht zu sitzen. Sie wurde, ehe sie zu einem Ergebnis kam, gesprengt; einzelne konnten sich flüchten, darunter Protot selbst, die andern wurden, wie wir gesehen, verhaftet. (Vergl. darüber Ch. Da Costa, Les Blanquistes, Paris 1912, S. 17–22)
Unter den Blanquisten der Kommune finden wir den Advokaten Protot wieder, und auch zwei der am 7. November Verhafteten: den Advokaten Tridon und den Studenten Raoul Rigault. Von den andern Gewählten war Blanqui Jurist und Mediziner – er hatte beides studiert –, Eudes Apotheker und Ferre Rechnungsbeamter.
In der ganzen Blanquistischen Fraktion finden wir nur einen Arbeiter, den Kupferschmied Chardon.
Von den in die Kommune gewählten Mitgliedern der Internationale standen zwei in Verbindung mit den Blanquisten, der Gießer Duval und der Student Vaillant.
Man sieht, wie sehr bei ihnen die Intellektuellen überwogen.
Innerhalb der Kommune selbst beschäftigten sich die Jakobiner wie die Blanquisten kaum mit ökonomischen Fragen. Die Kriegführung gegen Versailles, die Polizei in Paris und der Kampf gegen die Kirche, das waren die Aufgaben, denen sie sich widmeten. Auch den letzten Kampf führten sie wie den militärischen gegen Versailles, und den polizeilichen gegen dessen Verbündete in Paris, mit gewaltsamen Mitteln, gegen Äußerlichkeiten und gegen Personen.
Die dritte der Gruppen in der Kommune bildeten die Mitglieder der Internationale, 17 an der Zahl, fast ausschließlich Proudhonisten.
Der Proudhonismus stand in schärfstem Gegensatz zum Blanquismus und Jakobinismus. Das Schreckensregiment von 1793 war ihm nicht ein nachahmenswertes, sondern ein abschreckendes Beispiel. Er sah sehr klar die Schwäche dieses Regiments und die Unvermeidlichkeit seines Mißerfolges. Er begriff, daß die bloße Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat an seiner Klassenlage nichts ändert und seine Ausbeutung nicht beseitigt, daß dies nicht durch eine politische, sondern nur durch eine ökonomische Umwälzung zu erreichen ist. Das machte ihn mißtrauisch gegen die blanquistische Methode der Insurrektion und des Terrorismus, nicht minder aber gegen die Demokratie. In der Februarrevolution von 1848 hatte das Pariser Proletariat sie erobert, und was hatte es dadurch gewonnen?
Ein tiefes Mißtrauen gegen den politischen Befreiungskampf des Proletariats, gegen seine Teilnahme an der Politik, beseelte den Proudhonismus.
Heute kommen wieder ähnliche Gedankengänge auf und werden uns präsentiert als die neuesten Errungenschaften sozialistischen Denkens, als Produkte von Erfahrungen, die Marx nicht kannte und nicht kennen konnte. Und doch sind es nur neue Variationen von Gedanken, die über ein halbes Jahrhundert alt sind und die Marx selbst bekämpfte und überwand.
Allerdings zeigt die heutige Lesart dieser Anschauungen eine kleine Abänderung. Aber sie haben dadurch an Richtigkeit nicht gewonnen. Proudhon zeigte die Nichtigkeit der Politik für die Befreiung des Proletariats, die nur durch eine ökonomische Umwandlung bewirkt werden kann. Heute predigt man die Nichtigkeit der Demokratie, die unfähig sei, das Proletariat zu befreien, solange es in den Ketten des Kapitalismus schmachte.
Aber wenn die ökonomische Befreiung der politischen vorausgehen muß, dann wird logischerweise jede politische Betätigung des Proletariats gleich unnütz, welcher Art immer sie sein mag.
Während der Blanquismus einseitig ausschließlich den politischen Kampf gegen die bestehende Staatsmacht ins Auge faßte, suchte der Proudhonismus ebenso einseitig ausschließlich nach Mitteln, durch die das Proletariat sich ökonomisch selbst befreien konnte, ohne Hilfe der Staatsmacht.
Daher warfen die Blanquisten dem Proudhonismus vor, daß er die Arbeiter entnerve, vom Kampf gegen das zweite Kaiserreich abhalte, unter dem er blühte. Auch Marx klagte Proudhon an, daß
„er mit L. Bonaparte kokettierte, ihn in der Tat den französischen Arbeitern mundgerecht zu machen strebt“. (in seinem Nachruf vom Januar 1865, abgedruckt in der deutschen Ausgabe des Elend der Philosophie, 2. Aufl., S. XXXII)
Dafür aber trat bei den Proudhonisten, weil für sie das ökonomische Moment in erster Linie maßgebend war, das Bewußtsein des Klassengegensatzes zwischen Proletariat und Bourgeoisie und die Erkenntnis, daß das Proletariat sich aus eigener Kraft zu befreien habe, viel schärfer hervor, als bei den Blanquisten. Waren diese in hohem Grade eine Studentenpartei, so bildeten die Proudhonisten die eigentliche Arbeiterpartei in Frankreich unter dem zweiten Kaiserreich.
Als in den sechziger Jahren die Arbeiterbewegung allenthalben aus dem Todesschlaf erwachte, in den sie durch die Reaktion nach 1848 versenkt worden war, und als sich die Internationale der Arbeiter bildete, da waren es in Frankreich die Proudhonisten, die sich ihr anschlössen – Grund genug für Blanqui, seinen Anhängern den Beitritt zu verbieten wie wir gesehn.
In der Internationale lernten sie aber eine ihnen neue Praxis und auch eine neue Theorie kennen, die sie vom einseitigen Proudhonismus um so eher abführte, als gerade zur Zeit der Gründung des Internationalen Arbeiterbundes ihr Meister Proudhon starb (19. Januar 1865) und in Frankreich neue Bedingungen für den Klassenkampf auftraten.
Proudhon hatte eine rein ökonomische Arbeiterbewegung ohne Politik gewollt. Das konnte nur eine sein, die auf jeden Kampf verzichtete, bei dem sie mit der Staatsgewalt in Konflikt geraten konnte. Ganz friedliche Mittel: Genossenschaften, Tauschbanken, auf Gegenseitigkeit beruhende Unterstützungskassen sollten die Arbeiter befreien. Diese Gedanken waren in Paris möglich, dessen Industrie, wie schon Letont, noch sehr wenig großindustrielle Züge zeigte, wo der ausbeutende Kapitalist den Arbeitern noch mehr in der Gestalt des zinsnehmenden Geldkapitalisten und des Kaufmanns, der die Arbeitsprodukte zu Markte brachte, als des industriellen Unternehmers erschien.
In der Internationale lernten die französischen Proudhonisten den englischen industriellen Großkapitalismus kennen, und eine Arbeiterbewegung, die ihm entsprach, die auf ökonomischem Boden den Hauptnachdruck auf Kampforganisationen legte, auf die Gewerkschaften, auf Streiks, von denen Proudhon nichts wissen wollte.
Über dieser Praxis erhob sich eine Theorie, die auf der tiefsten Einsicht in die Gesetze der modernen Gesellschaft und des gesellschaftlichen Lebens überhaupt beruhte, eine Theorie, die noch von den wenigsten Mitgliedern der Internationale gekannt und auch von denen nicht immer begriffen wurde, deren Schöpfer aber doch durch seine große Überlegenheit das ganze Wirken der Internationale mit seinem Geiste erfüllte.
In der Marxschen Theorie war die Einseitigkeit des Proudhonismus wie des Blanquismus überwunden. Mit dem Proudhonismus erkannte er, daß die ökonomischen Verhältnisse die grundlegenden sind, und daß ohne deren Änderung kein politischer Wechsel, welcher Art immer, das Proletariat zu befreien vermöge. Aber nicht minder erkannte er die Unentbehrlichkeit des Besitzes der Staatsgewalt, um die Herrschaft des Kapitals zu brechen und die für die Befreiung des Proletariats erheischten ökonomischen Wandlungen durchzusetzen.
Die grundlegende Bedeutung des ökonomischen Faktors erhielt bei Marx einen ganz anderen Charakter als bei Proudhon. Die Ökonomie machte in seinen Augen die Politik nicht überflüssig, sondern notwendig; von ihr hing der Charakter und das Ergebnis der politischen Kämpfe und deren Rückwirkung auf die Ökonomie ab. Die ökonomischen Ver-hältnise selbst aber erkannte er als einen stetig fortschreitenden Prozeß, der als politisches Resultat heute möglich und morgen unvermeidlich macht, was gestern noch unmöglich war.
Die ökonomischen Verhältnisse und Tendenzen zu studieren und ihnen jeweilig die politischen Ziele und Methoden anzupassen, das war ihm das Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik. Die Blanquisten und Proudhonisten sahen dagegen von dieser historischen Auffassung völlig ab. Die Aufgabe bestand für sie nicht darin, in jedem gegebenen Moment auf Grund ökonomischer Einsicht herauszufinden, was möglich und notwendig war, sondern ein Mittel zu finden, das unter allen Umständen, unter allen historischen und ökonomischen Bedingungen das von ihnen gewünschte Resultat ergab. Haben die Sozialisten das richtige Mittel gefunden, dann sind sie imstande, den Sozialismus durchzuführen, wo sie wollen. Diese Denkweise glaubten wir durch den Marxismus überwunden zu haben. Aber heute macht sie sich wieder breit. Wieder einmal fragt man in Moskau oder Budapest nicht, welche Politik unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen möglich und notwendig, sondern geht von der Auffassung aus, da der Sozialismus sofort für die Proletarier erwünscht sei, hätten die Sozialisten auch überall, wo sie zur Macht kommen, die Aufgabe, ihn sofort durchzuführen. Ihre Aufgabe ist es nicht, zu untersuchen, ob und inwieweit dieses möglich, sondern die, wo der Stein der Weisen zu finden, das Universalheilmittel, das unter allen Umständen Sozialismus produziert. Und man glaubt heut, diese Frage gelöst zu haben durch Proklamierung der Diktatur auf Grund des Rätesystems. Unter dem zweiten französischen Kaiserreich vermeinten die Blanquisten im Putsch, die Proudhonisten in der Tauschbank den Stein der Weisen entdeckt zu haben.
Marx ist stets nur von wenigen völlig begriffen worden. Er setzte zu große Gedankenarbeit und eine zu große Unterordnung der persönlichen Wünsche und Bedürfnisse unter die Erkenntnis der objektiven Verhältnisse voraus. Aber im allgemeinen setzten sich doch die von ihm wie von Engels gewiesenen Mittel, Wege und Ziele am Ende immer wieder durch, weil eben die Logik der Dinge für sie sprach.
So drängte auch unter den französischen Internationalisten das marxistische Denken allmählich das proudhonistische zurück.
Sobald in Frankreich die Arbeiterbewegung wieder auflebte, wurden Gewerkschaften und Streiks unvermeidlich. Das Kaiserreich suchte die Bewegung in gesetzliche, unpolitische Bahnen zu lenken und erlaubte 1864 die Bildung von Gewerkschaften sowie die Durchführung von Streiks – in demselben Jahre, in dem die Internationale gegründet wurde. Deren Mitglieder, die Proudhonisten, wurden nicht nur gedrängt, in der von selbst auflebenden Arbeiterbewegung mitzutun, die Verhältnisse brachten sie, als die vornehmsten Vertreter der ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse, an die Spitze ihrer Organisationen und Bewegungen. Es war unvermeidlich, daß sie dabei in Konflikt mit der Staatsgewalt gerieten. So kamen sie auf die Bahn des politischen Kampfes, des Kampfes gegen das Kaiserreich.
Unter diesen Umständen wurde das in seinen Ausgangspunkten proudhonistische Denken der französischen Internationalisten immer mehr von marxistischen Gedankengängen durchsetzt. Doch gab es beim Ausbruch des Aufstandes der Kommune keinen von ihnen, den man als Marxisten bezeichnen könnte. Sie hatten ihre alte proudhonistische Gruhdlage verloren und einen neuen festen Boden noch nicht gewonnen. Ihre Begriffe zeigten sich ziemlich unklar. Immerhin waren sie diejenigen Mitglieder der Kommune, die das ökonomische Leben am eingehendsten untersucht und sich mit seinen Bedürfnissen am besten vertraut gemacht hatten.
Sie bildeten die eigentliche Arbeitervertretung in der Kommune. Lissagaray sagt darüber:
„Man hat die Kommune eine Regierung der Arbeiterklasse genannt. Das ist ein großer Irrtum. Die Arbeiterklasse war beim Kampf, bei der Verwaltung, und ihr Hauch allein hat diese Bewegung großgemacht, aber sie war sehr wenig bei der Regierung beteiligt ... Die Abstimmung vom 26. März hatte auf 70 revolutionäre Wahlen nur 25 Arbeiter ergeben.“ (Geschichte der Kommune, 2. Aufl., S. 145)
Aber von diesen 25 gehörte die Mehrheit – 13 – zur Internationale, die doch nur 17 Vertreter in der Kommune zählte. Nur 4 unter den Internationalen waren Nichtarbeiter, und von denen neigte einer, der Student Vaillant, zu den Blanquisten. Unter den 13 aus der Arbeiterschaft hervorgegangenen Internationalisten finden wir die bedeutendsten Köpfe der Kommune, den Buchbinder Varlin, den Ziseleur Theiß, den Färber Malon, den Juwelier Frankel.
Ihrer Parteistellung entsprechend, überließen sie die Werke der Gewalttat, Kriegführung und Polizei, den Jakobinern und Blanquisten, und wendeten sich den Werken des Friedens zu, der Gemeindeverwaltung und den ökonomischen Umwandlungen. Nur einer von ihnen zeigte sich kriegerisch, der Gießer Duval, und der neigte, wie wir wissen, ebenso wie Vaillant, zum Blanquismus. Er war einer der Kommandierenden beim Ausfall am 3. April, wurde gefangen genommen und auf Befehl des Generals Vinoy erschossen, einer der ersten Märtyrer der Kommune.
Seine Genossen aus der Internationale waren fast nur auf ökonomischen Gebieten beschäftigt und leisteten dort Hervorragendes, namentlich in der Verwaltung, so Theiß in der Post, Varlin und Avrial in der Intendantur, trotz der großen Schwierigkeiten, die ihnen daraus erwuchsen, daß die hohen Beamten aus Paris oder doch von ihren Ämtern flohen und die Arbeiter plötzlich eine leitende Tätigkeit auf ihnen ganz fremden Gebieten übernehmen mußten. Neben den Internationalisten des Rats der Kommune waren auch andere Mitglieder der Pariser Internationale in gleicher Weise erfolgreich tätig, so, der Bronzearbeiter Camelinat, der im April die Münze übernahm und dort in den wenigen Wochen seiner Wirksamkeit Verbesserungen einführte, die nach dem Falle der Kommune beibehalten wurden. Dann Bastelica, der die Direktion der Oktrois übernahm, und Combault, Direktor der indirekten Steuern. Beides Arbeiter. Eine der ersten Handlungen der Kommune bestand darin, daß sie die einzelnen Gebiete der Exekutive nicht einzelnen Ministern, sondern Kommissionen zuwies. Die Kommission für Arbeit, Industrie und Austausch, also diejenige, welche die sozialistische Seite der Kommune repräsentierte, bestand aus den Internationalisten Malon, Frankel, Theiß, Dupont (Korbmacher), Avrial (Mechaniker), Gerardin und dem einen Jakobiner Puget, dessen Berul ich nicht verzeichnet finde.
Von den fünf Mitgliedern der Kommission für Finanzwesen gehörten drei zur Internationale, der Färber Victor Clement, Varlin und der wohlhabende Philanthrop Beslay, einer der wenigen Bourgeois in der Internationale. Daneben noch der Jakobiner Regere, Tierarzt und alter Kämpfer gegen das Kaiserreich, sowie der Kassierer Jourde, der zu keiner besonderen Richtung zählte, der eigentliche Leiter des Finanzwesens, bei dem Millionen durch seine Hände gingen, indes seine Frau fortfuhr, die Wäsche der Familie selbst in der Seine zu waschen, und er selbst während der zwei Monate seiner Amtsführung nie teurer speiste, als zu 1 Francs 60 Centimes.
In den beiden Kommissionen der Arbeit und der Finanzen wurde ganz anders gearbeitet als in denen für Kriegswesen und Polizei. Der Gegensatz der Methoden wird sehr gut gekennzeichnet von Mendelsson in seinem Nachtrag zu Lissagarays Geschichte der Kommune (deutsche Ausgabe, 2. Aufl.):
„Das geringste Verhältnis von tüchtigen und ernsthaften Kräften hatte die Kriegsverwaltung der Kommune aufzuweisen. Hier sehen wir die Unfähigkeit, die Unwissenheit, die Eitelkeit, das Fehlen jedes Gefühls der Verantwortlichkeit, sich breitmachen. Hier finden wir den Reflex aller traurigen desorganisierenden Umstände, unter denen die sozialistische Bewegung während des Kaiserreichs gelitten hatte. Und wir haben nur von der Place Vendome zu der Präfektur der Polizei zu gehen, um das zweite Reflexbild dieser Verhältnisse zu erhalten.
Wir ruhen aus nach der lärmenden Wichtigtuerei der Polizei und Generalstab spielenden Neu-Hebertisten, wenn wir in das Ministerium der Arbeit und des Austauschs hinübergehen. Der Name zeigt uns schon den Einfluß der Proudhonschen Doktrin, doch waren die gewissenhaften und bescheidenen Mitglieder der Internationale so beschäftigt mit der möglichen Arbeit, daß sie die unmöglichen Phantasien durchaus beiseite ließen. Da sie sich als Ausschuß des Arbeitervolkes betrachteten, sahen sie nicht in den Galons und Ehrenzeichen den Ausdruck ihrer Macht; sie schufen eine Kommission der Initiative aus Vertretern der Gewerkschaften und Arbeitervereine. So kam es, daß dieses Ministerium seine Arbeit so verrichtete, daß man sagen konnte, es tat nach Maßgabe der Umstände, was es tonnte und ging an keine Sache, die nicht ausführbar war.“
In diesem Ministerium waren die Sozialisten konzentriert, es stand Marx am nächsten, seine Aufgabe war die eigentlich revolutionäre in der Kommune, und doch zeichnete es sich durch eine Behutsamkeit aus, die geradezu überraschend ist.
Den Grund dieser Vorsicht, die auch dem Finanzministerium eigen war, gab Jourde an, gelegentlich der Debatte über die Pfandleihanstalten: Es war beantragt, daß verpfändete Kleider, Hausrat, Werkzeuge im Werte bis zu 20 Francs vom 12. Mai an umsonst an ihre Eigentümer zurückgegeben werden sollten. Die Anstalten seien vom Staate zu entschädigen. Im Laufe dieser Debatte forderte Avrial, an Stelle der Pfandleihanstalten solle ein besser arbeitendes Institut gesetzt werden. Darauf erwiderte Jourde:
„Man sagt, schafft ein Institut. Das ist leicht gesagt, aber man muß Zeit haben, um zu studieren, ehe man schafft. Wenn man Avrial sagen würde: schafft Lafetten, schafft Kanonen, würde er Zeit verlangen. Die verlange ich auch.“ (Sitzung vom 6. Mai, Journal officiel, vom 7. Mai, S. 493)
Die Kommune fand keine Zeit, um Großes auf sozialem Gebiete zu schaffen. Und ihre besten Köpfe wollten sich an keine Aufgabe wagen, ohne sie gründlich studiert zu haben. Die meisten ihrer sozialen Maßregeln würden heute kleinlich erscheinen, so die Aufhebung der Nachtarbeit der Bäcker, das Verbot der Geldstrafen in den Betrieben.
Der weitestgehende Beschluß kam über das Stadium der Untersuchung nicht hinaus. Während der Belagerung und nach dem 18. März waren eine Reihe von Betrieben in Paris von ihren Besitzern, die flüchteten, verlassen und geschlossen worden. Auf Antrag Avrials wurde eine Enquete über diesen für die Arbeiterschaft sehr bedenklichen Zustand eingesetzt. Der Beschluß lautete:
„In Erwägung des Umstandes, daß zahlreiche Betriebe von denjenigen, die sie leiteten, eingestellt wurden, um sich ihren bürgerlichen Verpflichtungen zu entziehen und ohne die Interessen der Arbeiter zu berücksichtigen …
In Erwägung, daß durch diese feige Flucht von ihrem Posten zahlreiche für das kommunale Leben wesentliche Arbeiten unterbrochen wurden und das der Arbeiter gefährdet ist, beschließt die Kommune von Paris:
Die Gewerkschaften der Arbeiter werden zusammenberufen, um eine Studienkommission einzusetzen zu dem Zwecke:
1. Eine Statistik der geschlossenen Betriebe aufzunehmen sowie ein genaues Inventar des Zustandes, in dem sie sich befinden sowie der Arbeitsinstrumente, die sie enthalten.
2. Einen Bericht zu erstatten über die praktischen Maßregeln, die zu ergreifen wären, um diese Betriebe sofort in Gang zu bringen, nicht mehr durch die Deserteure, die sie verlassen haben, sondern durch Genossenschaften der Arbeiter, die in ihnen beschäftigt waren.
3. Einen Vorschlag der Verfassung für diese Genossenschaften auszuarbeiten.
4. Ein Schiedsgericht einzusetzen, das nach der Rückkehr der in Rede stehenden Unternehmer die Bedingungen festsetzt, unter denen diese Betriebe definitiv in den Besitz der Arbeitsgenossenschaften übergehen, und die Höhe der Entschädigung bestimmt, die von den Genossenschaften den Besitzern zu zahlen sind.
Diese Untersuchungskommission hat ihren Bericht der Kommunekommission für Arbeit und Austausch zu erstatten, die den Auftrag bekommt, in kürzester Zeit der Kommune den Entwurf eines Dekrets zu unterbreiten, das den Interessen der Kommune und der Arbeiter gerecht wird.“
Dieser Erlaß ist datiert vom 16. April. (Journal officiel, 17. April) Die Untersuchungskommission trat am 10. und 18. Mai zusammen. Kurz darauf erfolgte die Niederschlagung der Kommune. Zu praktischen Vorschlägen kam jene Sozialisierungskommission also nicht. Doch ist ihre Einsetzung von Bedeutung dadurch, daß sie den Weg erkennen läßt, den die Sozialisten der Kommune bei längerem Bestände des proletarischen Regimes wohl gegangen wären.
Von einer „Vollsozialisierung“, einer sofortigen Beseitigung des gesamten Unternehmertums, ist keine Rede. Im Gegenteil, man wirft den Unternehmern vor, daß sie feige ihre Betriebe verlassen und aufgehört haben, ihre Arbeiter zu beschäftigen.
Gleichzeitig wurde ihnen freilich auch der entgegengesetzte Vorwurf gemacht. Das Zentralkomitee der zwanzig Arrondissements (nicht zu verwechseln mit dem der Nationalgarde), das sich schon während der Belagerung gebildet hatte, beschwerte sich darüber, daß die Unternehmer ihre Arbeiter in den Betrieben festhalten und dadurch verhindern, ihrer Pflicht als Nationalgarden zu genügen.
Nur die von ihren Besitzern im Stiche gelassenen Unternehmungen sollten nach dem Plane der Kommune zunächst sozialisiert werden, und auch die erst nach eingehenden Vorarbeiten.
Ein anderer Schritt in der Richtung der Sozialisierung wurde geplant in bezug auf die Lieferungen für die Armee, Uniformen und Geschütze. Diese Lieferungen sollten möglichst an Arbeitergenossenschaften übertragen werden auf Grund von Lieferungsverträgen, die auszuarbeiten wären von der Intendantur in Gemeinschaft mit den Gewerkschaften und dem Arbeitsministerium. Erhalten ist der Entwurf einer Arbeitsordnung, der von den Arbeitern der mit der Reparatur von Waffen beschäftigten Werkstätten des Louvre der Kommune vorgelegt wurde, und der einen zehnstündigen Arbeitstag festsetzte.
Dieses Reglement, das 22 Paragraphen umfaßt, ist abgedruckt im Journal officiel der Kommune vom 21. Mai, S. 628–29. Es bezeichnet sehr gut die Sozialisierungstendenzen der sozialistischen Arbeiter der Kommune.
Nach diesem Reglement erwählten die Arbeiter den Vertreter der Werkstätten bei der Kommune, den Betriebsleiter, sowie die Werkführer. Ein Betriebsrat wurde eingesetzt, bestehend aus den Genannten, wozu noch ein Arbeiter von jedem Arbeitstisch (banc) kommt. Von der Kommune sollte ein Überwachungsrat eingesetzt werden, der über alle Operationen des Betriebes auf dem laufenden erhalten werden sollte und dem die Einsicht in die Bücher stets freizuhalten war.
Die Arbeiter selbst zeigten sich aufs eifrigste darauf bedacht, die Interessen der Kommune zu wahren. Im Artikel 15 wurde die Arbeitszeit nicht auf 8, wie der Genfer Kongreß der Internationale 1866 forderte, sondern auf 10 Stunden festgesetzt. In dringenden Fällen wurde Überzeit gestattet, wenn der Betriebsrat zustimmte. Für Überstunden sollte kein erhöhter Lohn gezahlt werden. Dabei wurden die Löhne sehr niedrig angesetzt. Für den Direktor auf 250 Francs pro Monat, den Betriebsleiter auf 210, die Werkmeister auf 70 Centimes pro Stunde. Für die gewöhnlichen Arbeiter wurde kein Minimal-, sondern ein Maximallohn festgesetzt; er sollte 60 Centimes pro Stunde nicht überschreiten.
Bezeichnend ist noch die Bestimmung des Artikels 16. Er setzt fest, daß immer ein Arbeiter bei Nacht in der Werkstatt sein müsse, für den Fall, daß Waffen gebraucht würden. Jeder Arbeiter war der Reihe nach verpflichtet, eine Nachtwache zu übernehmen. Zum Schluß heißt es:
„Da es unter gegebenen Umständen aufs dringendste notwendig ist, mit den Pfennigen der Kommune sparsam umzugehen, werden diese Nachtwachen nicht vergütet.“ (Journal officiel, S. 629)
Wahrhaftig, diese Arbeiter betrachteten die Zeit ihrer „Diktatur“ nicht als eine günstige Konjunktur für eine Lohnbewegung. Die große, allgemeine Sache stand ihnen höher als ihr persönliches Interesse.
Trotz seines vulkanischen Temperaments fand Marx an diesem vorsichtigen Vorgehen nichts auszusetzen. Er sagte in seinem Bürgerkrieg in Frankreich (S. 53):
„Die große soziale Maßregel der Kommune war ihr eigenes arbeitendes Dasein. Ihre besonderen Maßregeln konnten nur die Richtung andeuten, in der eine Regierung des Volkes durch das Volk sich bewegt.“
Nachdem Marx so die Diktatur des Proletariats als die Regierung des Volks durch das Volk, also die Demokratie bezeichnet hat, fährt er fort und lobt die finanziellen Maßregeln der Kommune als „ausgezeichnet durch ihre Einsicht und Mäßigung“. (S. 54)
Kurz vorher deutet Marx in der gleichen Schrift die Grundsätze an, von denen eine Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus geleitet sein muß:
„Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix- und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie weiß, daß, um ihre eigene Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform hervorzuarbeiten, der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt, daß sie, die Arbeiterklasse, lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen hat, durch welche die Menschen, wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoße der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.“ (S. 50)
Man hat aus dem Satz, daß die Arbeiterklasse keine Ideale zu verwirklichen hat, geschlossen, Marx habe der sozialistischen Bewegung kein Ziel setzen, kein bestimmtes Programm geben wollen. Aber dagegen spricht schon der Umstand, daß er selbst sozialistische Programme ausgearbeitet hat, vom Kommunistischen Manifest 1847 an bis zu dem Programm der französischen Arbeiterpartei, das er 1880 unter Mitwirkung von Guesde und Lafargue abfaßte. In den hier zitierten Sätzen gibt er bereits das Ziel der sozialistischen Bewegung an: die Befreiung der Arbeiterklasse durch ihren siegreich fortschreitenden Klassenkampf, und die „Hervorarbeitung“ einer „höheren Lebensform“, die aus der Herrschaft der Arbeitenden auf der Grundlage der modernen Technik entspringen muß.
Man könnte ja Marx entgegenhalten, daß diese Ziele doch auch nichts anderes seien, als Ideale. Also habe sie doch Ideale zu verwirklichen. Unter den Idealen, die nicht zu verwirklichen sind, versteht Marx hier offenbar transzendente Ideale, solche, die jenseits von Raum und Zeit liegen, eine ewige Gerechtigkeit und Freiheit. Die Ziele der Arbeiterbewegung ergaben sich ihm aus der ökonomischen Entwicklung; die besonderen Formen ihrer Verwirklichung sind selbst in beständiger Entwicklung begriffen, von Raum und Zeit abhängig. Der Sozialismus ist ihm keine „fix und fertige Utopie“, sondern ein Prozeß, der eine lange Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse und der Arbeiterklasse voraussetzt und durch ihren politischen Sieg nicht abgeschlossen, sondern nur in Gang gebracht wird dadurch, daß sie „die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit setzt“.
Schon zwei Jahrzehnte vorher hatte Marx eine langjährige Schulung der Arbeiterklasse und die Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse als Vorbedingungen der sozialen Revolution bezeichnet.
Nach dem Zusammenbruch der Revolution von 1848 kam er durch das Studium der ökonomischen Verhältnisse zur Erkenntnis, die Revolution sei einstweilen abgeschlossen. Das brachte ihn in Konflikt mit vielen seiner Genossen, die darin einen Verrat an der Revolution sahen. Die Massen hätten das Bedürfnis, den. Willen nach Revolution, und darum sei sie unvermeidlich. Ihnen entgegnete Marx im September 1850:
„An die Stelle der kritischen Auffassung setzt die Minorität (des Kommunistenbundes) die dogmatische, an die Stelle der materialistischen die idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution. Während wir den Arbeiter sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur, um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: ,Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen.’ Während wir speziell die deutschen Arbeiter auf die unentwickelte Gestalt des deutschen Proletariats hinweisen, schmeichelt ihr aufs plumpste dem Nationalgefühl und dem Standesvorurteil der deutschen Handwerker, was allerdings populärer ist. Wie von den Demokraten das Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so von euch das Wort Proletariat. Wie die Demokraten schiebt ihr der revolutionären Entwicklung die Phrase der Revolution unter.“ (Marx, Enthüllungen über den Kommunistenkongreß zu Köln, neuer Abdruck, 1885, S. 21)
Wenn Marx sich dagegen wandte, daß der bloße Wille zum Triebrad der Revolution gemacht werde, wollte er natürlich nicht sagen, daß der Wille mit ihr gar nichts zu tun habe. Ohne das Wollen ist kein bewußtes Handeln möglich. Ohne den Willen nicht nur keine Revolution, sondern überhaupt keine Geschichte. Die erste Vorbedingung jeder sozialen Bewegung bildet ein starker Wille gesellschaftlicher Schichten, der einem tiefgefühlten Bedürfnis entspringt.
Doch mit dem Willen allein ist es nicht abgetan. Soll die Bewegung Erfolg haben, dann muß mehr vorhanden sein als der bloße Wille, das bloße Bedürfnis. Ich kann den Willen haben, ewig zu leben. Er kann ungemein stark sein. Trotzdem wird er mich vor dem Tode nicht schützen. Soll die Bewegung Erfolg haben, dann muß der Wille sich auf Mögliches richten, muß das Bedürfnis die Mittel zu. seiner Befriedigung vorfinden. Es müssen aber auch die Wollenden die Kraft besitzen, sich gegen auftretende Widerstände durchzusetzen. Aufgabe der Einsicht ist es, durch Erforschung der wirklichen Verhältnisse das Mögliche vom Unmöglichen zu sondern und die gegenseitigen Kraftverhältnisse klarzulegen und so zu bewirken, daß die Kräfte der Menschen sich auf das jeweilig Durchführbare beschränken. So wird jeder Kraftverschwendung vorgebeugt, werden die vorhandenen Kräfte intensiver ausgenutzt.
Diese Einsicht ist in gesellschaftlichen. Dingen jedoch nicht leicht zu erlangen. Denn die ökonomische Grundlage der Gesellschaft ist in beständiger Entwicklung und Veränderung begriffen, damit ändern shh auch die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die Mittel, ihnen zu genügen, die Kräfte, das Zweckmäßigste durchzuführen. Dabei wird die Gesellschaft immer umfangreicher, komplizierter und undurchsichtiger. Wohl wächst auch die menschliche Intelligenz und verbessern sich die Methoden der Erkenntnis. Aber der Menschengeist dient nicht immer dazu, die wirklichen Verhältnisse zu erkennen. Er ist stets bemüht, den Bedürfnissen seiner Träger zu dienen, wo aber die wirklichen Verhältnisse die Befriedigung dieser Bedürfnisse unmöglich machen, ist er nur zu sehr geneigt, in diese Verhältnisse eine seinem Wollen freundlichere Seite hineinzudichten. Der Mensch will nicht sterben. Die Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse sagt ihm, daß er sterben muß. Doch der menschliche Scharfsinn hat in diesen Verhältnissen Anzeichen dafür zu entdecken gewußt, daß wir nach dem Tode weiter bestehen. Die Proletarier des Römerreichs lebten in schmutzigster Armut, doch fühlten sie aufs stärkste das Bedürfnis nach einem freudigen, arbeitslosen Genußleben. Die wirklichen Verhältnisse schlossen ein solches für sie aus. Doch ihr Geist verhieß ihnen ein solches Leben trotz alledem im Tausendjährigen Reich, dem sie entgegenzugehen vermeinten. Der Gedanke der Gottheit war das Mittel, die Schwachen stark, das Unmögliche möglich zu machen. Sie sollte das kleine, mißhandelte Judenvolk zu Herren der Welt erheben, sie sollte den empörten Scharen wehrloser Bauern und Proletarier im Zeitalter der Reformation den Sieg bringen über die wohlgerüsteten und waffengeübten Heere der Fürsten.
Im 19. Jahrhundert hörten die Proletarier auf, an eine solche rettende Gottheit zu glauben, aber das Bild der großen französischen Revolution, in der zeitweise die Proletarier von Paris ganz Europa getrotzt hatten, ließ vielfach einen neuen Wunderglauben in ihnen erstehen, den an die Wunderkräfte der Revolution und des revolutionären Proletariats, das „zu einem heiligen Wesen gemacht“, wurde. Es brauchte bloß zu wollen, und es konnte alles, was es wollte. Wenn es trotzdem zu nichts kam, lag das bloß daran, daß es nicht wollte.
Dieser idealistischen Auffassung gegenüber brachte Marx die materialistische zur Geltung, die forderte, daß man stets die wirklichen Verhältnisse in Betracht ziehe. Diese Verhältnisse machten wohl die Befreiung der Arbeiterklasse und eine höhere Lebensform zu einem Ziele, dem „die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene Entwicklung unwiderstehlich entgegenstrebt“, dies Ziel war aber nicht als „fix und fertige Utopie“ sofort zu erreichen; es selbst bildet nicht ein für alle Zeiten fertiges Gebilde, sondern erzeugt nur eine neue Art gesellschaftlicher Bewegung und Entwicklung.
Die Arbeiterklasse ist also nicht stets und unter allen Umständen reif dazu, die Herrschaft zu übernehmen. Sie muß überall eine gewisse Entwicklung durchmachen, die sie dazu befähigt. Indes kann sie sich den Augenblick nicht wählen, der sie ans Ruder bringt. Gelangt sie aber daran, dann darf sie nicht die Produktionsweise, die sie vorfindet, einfach umkrempeln; sie muß an das Vorhandene anknüpfen und es im Sinne des Proletariats weiterentwickeln, „die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit setzen“, was unter verschiedenen Verhältnissen sehr Verschiedenes bedeutet. Sie wird das in jedem Moment Zweckmäßige um so eher finden, je klarer sie die wirklichen Verhältnisse erkennt und ihnen Rechnung trägt.
Als nach dem Sturze Napoleons die Möglichkeit einer proletarischen Revolution in Paris auftauchte, flößte das Marx große Bedenken ein. Wohl waren die Pariser die intelligentesten Arbeiter der damaligen Welt. Sie bewohnten nicht umsonst das Herz dieser Welt, die Heimat der Aufklärung und der Revolutionen. Jedoch hatte das Kaiserreich ihnen eine gute Schule und die Freiheit der Presse sowie politischer und lange Zeit hindurch auch gewerkschaftlicher Organisation vorenthalten. Ausnutzung der Republik zur besseren Schulung und Organisierung der Arbeitermassen, Verteidigung der Republik mit aller Kraft, das erschien Marx als das damalige Gebot der Stunde.
Gegen die Besitzergreifung der politischen Macht durch die Arbeiter sprach auch der Umstand, daß der größte Teil des Landes noch agrarisch und Paris selbst stark kleinbürgerlich war.
Indessen hängt die Weltgeschichte nicht von unserem bloßen Wollen ab. Es kann das Kommen einer Revolution ebensowenig hinausschieben wie beschleunigen. Die Erhebung der Pariser Arbeiter und ihr Sieg vom 18. März wurden unvermeidlich. Nun galt es, sich klarzumachen, was die wirklichen Verhältnisse dem siegreichen Proletariat durchzuführen gestatteten und darauf alle Kräfte zu konzentrieren. Marx betrachtete als wichtigste Aufgabe der Pariser Kommune noch nicht die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise. An Kugelmann schrieb er darüber am 12. April 1871:
„Wenn Du das letzte Kapitel meines Achtzehnten Brumaire nachliest, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bureaukratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer heroischen Pariser Parteigenossen.“ (Abgedruckt Neue Zeit, XX, 1, S. 709)
Von Sozialismus ist in dem Briefe keine Rede. Als die Hauptaufgabe der Kommune bezeichnete Marx die Zerstörung des bureaukratisch-militärischen Machtapparates.
Natürlich kann das Proletariat nirgends ans Ruder kommen, ohne neben Veränderungen in der Organisation des Staates auch solche in der Organisation des Produktionsprozesses anzustreben, die seine Lage verbessern. Wenn man alle Eingriffe der politischen Gewalt zu diesem Zwecke als Sozialismus bezeichnen will, dann gab es auch unter der Kommune Sozialismus. Aber er war von dem, was man heute darunter versteht, weit entfernt. Natürlich lag das zum Teil am Mangel an Zeit. Die ganze Erhebung dauerte nur einige Wochen. Zum großen Teil daran, daß sie sich auf das kleinindustrielle Paris beschränkte. Dort konnte auf der gegebenen ökonomischen Basis kaum viel mehr geschehen als die Unterstützung der Umwandlung einzelner Werkstätten in Produktivgenossenschaften. Die Zusammenfassung eines ganzen Industriezweigs zu einem einheitlichen Produktionsorganismus und Regelung seines Absatzes wie seiner Rohstoffversorgung wäre kaum schon möglich gewesen. Fürs ganze Land hätte, wenn es der Kommune gelungen wäre, den ganzen staatlichen Regierungsapparat an sich zu ziehen, dazu noch die Verstaatlichung der Eisenbahnen, vielleicht auch schon die der Kohlengruben und Eisenhütten kommen können. Alles das hätte den Kapitalismus nicht ausgeschaltet, war zum Teil im benachbarten Deutschland schon zu finden oder in Vorbereitung, aber es hätte unter einem proletarisch-demokratischen Regime die gesellschaftliche Lage der Arbeiterklasse bereits bedeutend gehoben.
Neben der Kürze der Zeit und der ökonomischen Rückständigkeit des Landes kam als weiteres erhebliches Hindernis der „Sozialisierung“ auch die theoretische Unwissenheit der Männer der Kommune in Betracht. Die Jakobiner und Blanquisten kümmerten sich blutwenig um ökonomische Dinge. Die Internationalisten, wie wir gesehen, legten ihnen die größte Wichtigkeit bei. Doch waren sie gerade zur Zeit der Kommune theoretisch baltlos. Sie waren im Begriff, die proudhonistische Basis aufzugeben, aber noch nicht so weit, sich mit klarem Bewußtsein auf die marxistische zu stellen.
Indes, trotz ihrer Furchtsamkeit stimmte Marx der Methode der Kommune zu, die ökonomischen Dinge erst zu erforschen, ehe man an ihre Änderung ging, und nicht mit übereilten Dekreten Fehlschläge herbeizuführen, die verwirren und entmutigen mußten. Mochte diese Vorsicht mehr theoretischer Unsicherheit als theoretischer Einsicht entspringen, sie stimmte zu dem, was Marx als Konsequenz seiner materialistischen Auffassung für notwendig erkannte, daß uns in der Revolution nicht der bloße Wille, sondern die Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse zu leiten habe.
Zutreffend kennzeichnet Dubreuilh diese Seite der Pariser Erhebung in seiner Commune (S. 419):
„Eine Politik methodischer Expropriation war schon wegen des sehr triftigen Grundes nicht möglich (ganz abgesehen von dem Widerstand der andern Klassen), weil die Lohnarbeiter in ihrer Masse kaum das Funktionieren der Gesellschaft auf einei andern Grundlage als der überlieferten begriffen und keine der genossenschaftlichen und gewerkschaftlichen Institutionen entwickelt hatten, die erforderlich sind, um nach Aufhebung aller kapitalistischen Einrichtungen ein normales Funktionieren der Produktion und des Austausche zu sichern. Ein neues Regime, namentlich ein sozialistisches, improvisiert man nicht durch Dekrete; die Dekrete, die Gesetze sollen vielmehr schon bestehende Verhältnisse sichern. Wenn die Kommune versuchte, auf diesem Gebiete ihrer Zeit voranzuschreiten, dann hätte sie wahrscheinlich nur erreicht, daß ein Teil ihrer eigenen und besten Kräfte sich gegen sie selbst wendete, ohne daß sich bei den Lohnarbeitern ein lebhafterer Schwung und eine kräftigere Hingebung fühlbar gemacht hätte. Sie durfte nicht mehr tun, als unter der Decke der Demokratisierung der politischen Einrichtungen eine allgemeine soziale Umwandlung anzubahnen. Und das tat sie auch.“
Derart war auf sozialem Gebiet das Wirken jener historischen Erscheinung beschaffen, von der Engels sagte, daß sie das Marxsche Wort von der Diktatur des Proletariats veranschauliche.
Die Marxsche Methode der Sozialisierung, der die der Kommune so nahe kam, muß heute auch die unsrige sein.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß die gleiche Methode die gleiche Zurückhaltung im heutigen Deutschland mit sich bringen müsse, die von der Kommune 1871 in Paris gezeigt wurde. Ein halbes Jahrhundert gewaltigster kapitalistischer Entwicklung ist inzwischen verflossen. Der ungeheure Fortschritt, der gemacht wurde, äußert sich schon darin, daß damals nur das eine Paris sich erhob, in einer nicht rein proletarischen Erhebung, ohne Rückhalt im Lande, und daß es der Übermacht des mit Bureaukratie und hoher Finanz verbündeten Agrariertums erlag, das die Mehrheit der Bevölkerung ausmachte (1872 53 Prozent). Im Jahre 1918 dagegen brach die deutsche Revolution in allen Gebieten des Reiches aus, überall geführt vom Proletariat. Die deutsche Landwirtschaft umfaßt fast nur noch ein Viertel der Bevölkerung (1907 29 Prozent) und die Industrie ist zum Riesenbetrieb, ja zur Kartellierung ganzer Industriezweige fortgeschritten. Das Pariser Proletariat kam 1871 eben erst aus dem bonopartistischen Regime heraus, das ihm alle Mittel der Aufklärung und der Massenorganisation vorenthalten hatte. Das deutsche Proletariat trat jetzt in seine Revolution ein mit der politischen und gewerkschaftlichen Schulung eines halben Jahrhunderts, mit politischen und ökonomischen Organisationen, die Millionen von Mitgliedern umfaßten. Und endlich waren die Sozialisten von Paris 1871 eben im Begriff, eine ökonomische Theorie aufzugeben, die sich als unzureichend erwiesen hatte. Sie waren aber noch nicht so weit gekommen, eine neue, höherstehende zu erfassen. Der deutsche Sozialismus von heute verfügt über die historische und ökonomische Einsicht und die klare Methode einer Theorie, die von den Sozialisten aller Länder als die höchststehende anerkannt wird und die selbst das bürgerliche Denken befruchtet, kraft ihrer gewaltigen Überlegenheit über jede andere der bestehenden ökonomischen Gesamtanschauungen.
Unter solchen Bedingungen kann man weit rascher, umfassender, energischer oozialisieren, als es 1871 möglich gewesen wäre.
Wir haben von einer ökonomischen Methode der Kommune gesprochen, aber auch schon erkennen lassen, daß eine solche im vollen Sinne des Wortes bei ihr nicht zu finden ist. Von einer bewußten, planmäßig angewandten Methode kann man bei der Kommune nicht reden. Schon deshalb nicht, weil in ihr einander sehr widersprechende Richtungen zusammenarbeiteten. Die Art des Vorgehens der Kommune war das Ergebnis ihres Widerstreits, nicht einer bestimmten Theorie. Die Sozialisten selbst in der Kommune waren theoretisch nicht sehr klar und sie bildeten die Minderheit. Trotzdem beherrschte ihr Geist die ökonomischen Äußerungen des Pariser Gemeinwesens, da die Mehrheit der Ökonomie nur wenig Gewicht beilegte und sich auf diesem Gebiete noch unsicherer fühlte als die Minderheit.
Anders als mit der Ökonomie war es mit der Politik der Kommune bestellt. Da waren die Gegensätze weit schroffer, die in der Kommune zutage traten. Sie zerrissen sie fast und beeinträchtigten ihre Arbeitsfähigkeit. Aber die allgemeine Tendenz, die sich dabei durchsetzte, gestaltete sich unter dem Druck der Verhältnisse zu einer Mittellinie, die Marx ebenso akzeptierte, wie die Art des Vorgehens in der Ökonomie.
Wir wissen bereits, daß die Mehrheit der Kommune aus Jakobinern und Blanquisten bestand. Wenn sie für die Kommune von Paris eintraten, meinten sie darunter eine nach der Art von 1793, ein Gemeinwesen, das ganz Frankreich beherrschte, ihm seinen Willen aufzwang. Sie waren radikale Republikaner und Freidenker, wollten den ganzen Machtapparat der Monarchie zerstören, Pfaffentum wie Bureaukratie und stehende Armee. Und doch hätten sie die beherrschende Stellung von Paris nur herbeiführen können durch eine Staatsorganisation, die einer in Paris residierenden Zentralstelle die stärksten Gewaltmittel zur Verfügung stellte. Sie vergaßen, daß die Pariser Kommune von 1793 durch die Mittel zentralisierter Gewalt, die sie entwickelte, dem Kaiserreich Bonapartes den Weg bahnte. Alles Heil erwarteten sie von einem Wohlfahrtsausschuß mit diktatorischer Gewalt, ohne zu bedenken, daß eine Diktatur, die sich nicht auf eine straff disziplinierte Armee und Verwaltungsorganisation stützt, eine bloße Schattendiktatur ist.
In schroffstem Gegensatz zu den zentralisierenden Jakobinern standen die Proudhonisten, die den Traditionen von 1793 mit scharfer Kritik, ja mit förmlichem Abscheu gegenüberstanden. Sie erkannten die Illusionen, die zur Schreckensherrschaft geführt, das Proletariat genarrt, es zu blutiger Verwilderung gebracht hatten, ohne es seiner Befreiung im geringsten näher zu führen. Nicht minder kritisch aber standen sie der Demokratie gegenüber. Das allgemeine Wahlrecht hatte 1848 die reaktionäre Nationalversammlung produziert, es wurde zur Stütze des Kaiserreichs. In der Tat bot bei der damaligen ökonomischen Zusammensetzung Frankreichs die Staatspolitik, mochte sie diktatorisch oder demokratisch sein, keine Aussicht, daß sie ein Mittel der direkten, sofortigen Befreiung des Proletariats werde. Nach einem solchen Mittel suchten aber damals die Sozialisten. Der Gedanke der Entwicklung überhaupt und damit auch der Bedeutung, die die Demokratie für die Entwicklung der politischen Einsicht und organisatorischen Befähigung des Proletariats und dadurch für seine schließliche Befreiung gewinnen könne – dieser Gedanke lag ihnen noch fern. Für die sofortige Befreiung des Proletariats waren damals weder Diktatur noch Demokratie geeignet. Das verstanden die Proudhonisten sehr gut. Aber nicht gut war die Konsequenz, die sie daraus zogen. Ganz ohne jede Politik, wie sie am liebsten gewollt hätten, konnten sie doch nicht auskommen Nun bot die Kommunalpolitik in einzelnen industriellen Gemeinden dem Proletariat ganz andere Aussichten, als die Staatspolitik in einem überwiegend agrarischen Lande. Die Demokratie in der Gemeinde wurde ihnen ebenso wichtig, wie im Staate gleichgültig. Und die scharfen Kritiker und Verhöhner der staatlichen Parlamente, dieser „Schwatzbuden“, hatten gegen kommunale „Schwatzbuden“ und Parlamente durchaus nichts einzuwenden.
Die Souveränität der Gemeinde wurde das Ideal der Proudhonisten. Dieser Gedanke bezeugt schon den kleinbürgerlichen Stand der Industrie, mit dem sie rechneten. Auch dachten sie nicht daran, den Warenaustausch aufzuheben. Indes gab es doch auch zu ihrer Zeit schon Betriebszweige, deren wirtschaftliche Bedeutung über die einzelne Gemeinde hinausreichte. Um deren Funktionieren zu regeln, sollten sich die einzelnen Gemeinden in freien Vereinbarungen zusammenschließen. So hofften die Proudhonisten auch in dem agrarischen Frankreich das industrielle Proletariat sofort zu befreien. Sie vergaßen nur die Kleinigkeit, daß der Gedanke der Auflösung des Staates in souveräne Kommunen auch ein Staatsgedanke war, dessen Durchführung die Niederwerfung der bestehenden Staatsgewalt voraussetzte, gerade das, was die Proudhonisten umgehen wollten.
Die Idee der Kommune im proudhonistischen Sinne war also das gerade Gegenteil dieser Idee im jakobinischen Sinne. Für die Jakobiner war die Kommune von Paris ein Mittel, die Staatsgewalt zur Beherrschung ganz Frankreichs zu gewinnen. Für die Proudhonisten war die Souveränität jeder Kommune ein Mittel, der Staatsgewalt ein Ende zu machen.
Arthur Arnould kennzeichnet in seiner Histoire populaire et parlamentaire de la Commune de Paris sehr gut den Gegensatz der beiden Richtungen der „revolutionären Jakobiner“ und der „sozialistischen Föderalisten“:
„Die gleichen Worte wurden von den verschiedenen Mitgliedern der Versammlung auf zwei verschiedene Arten aufgefaßt. Für die einen bildete die Kommune von Paris den Ausdruck, die Verkörperung der ersten Anwendung des regierungsfeindlichen Prinzips, den Krieg gegen die alten Auffassungen des zentralistischen despotischen Einheitsstaates. Die Kommune bedeutete für sie den Triumph des Prinzips der Autonomie, der freien Föderation von Gruppen und der möglichst direkten Regierung des Volkes durch das Volk. In ihren Augen bildete die Kommune die erste Etappe einer großen, ebenso sozialen wie politischen Revolution, die mit den alten Prozeduren gründlich aufzuräumen habe. Sie war die absolute Verneinung der Idee der Diktatur; sie war die Ergreifung der Macht durch das Volk selbst, und daher die Vernichtung jeder außerhalb des Volkes oder über ihm stehenden Gewalt. Die Männer, die so fühlten, dachten, wollten, bildeten jene Gruppe, die man später die Sozialisten oder die Minderheit nannte.
Für die anderen bildete die Kommune von Paris im Gegenteil die Fortsetzung der alten Kommune von 1793. Sie repräsentierte in ihren Augen die Diktatur im Namen des Volkes, eine ungeheure Konzentration von Macht in den Händen weniger, und die Zerstörung der alten Einrichtungen dadurch, daß man neue Männer an die Spitze dieser Einrichtungen setzte, die man für den Augenblick in Waffen des Krieges im Dienste des Volkes gegen die Feinde des Volkes verwandelte.
Unter den Männern dieser autoritativen Gruppe war die Idee des zentralistischen Einheitsstaates keineswegs völlig verschwunden. Wenn sie das Prinzip der Gemeindeautonomie und der freien Föderation der Gruppen akzeptierten und auf ihre Fahnen schrieben, geschah es nur, weil der Wille von Paris sie dazu zwang ... Sie blieben beherrscht vor Denkgewohnheiten, die sie in einem langen Dasein von Kämpfen erworben. Sobald es zum Handeln kam, gerieten sie wieder auf den Weg, dem sie solange gefolgt, und ließen sich, gewiß mit gutem Glauben, dazu verleiten, die alten Methoden auf neue Ideen anzuwenden. Sie begriffen nicht, daß in solchen Fällen die Form fast stets über den Inhalt siegt und daß diejenigen, die die Freiheit durch Mittel der Diktatur oder der Willkür zu begründen suchen, dasjenige töten, was sie retten wollen. Diese Gruppe, die übrigens aus sehr verschiedenartigen Elementen bestand, bildete die Mehrheit und nannte sich ‚revolutionäre Jakobiner’.“
Dubreuilh zitiert diese Ausführungen mit dem Bemerken, daß sie nur auf die Extreme der beiden Richtungen völlig zuträfen. Das stimmt. Doch gilt es für alle Richtungen, die man zeichnen will. Man wird bei jeder eine Reihe von Schattierungen entdecken. Aber will man sie klar erkennen, muß man ihren konsequentesten Ausdruck, gewissermaßen ihren klassischen, zur Beobachtung herausheben.
Die Gegensätze waren ungeheuer, sie wären vielleicht nicht zu überbrücken gewesen, wenn die Kommune siegte. Aber sie siegte nicht, und schon das zwang den Widerstreitenden eine mittlere Linie auf.
Vom 3. April an sah sich die Kommune in die Defensive gedrängt, mußte sie jeden Gedanken daran aufgeben, Frankreich zu erobern und zu beherrschen. Damit war der Realisierung des jakobinischen Gedankens jeder Boden entzogen. Weit entfernt davon, durch die Kommune zu herrschen, mußte man froh sein, wenn es gelang, zu verhindern, daß die Freiheiten von Paris durch das reaktionäre Frankreich erdrückt wurden.
Ebensowenig war aber unter diesen Umständen daran zu denken, daß der proudhonistische Traum in Erfüllung ging, der französische Staat zertrümmert und seinen Gemeinden völlige Souveränität zugestanden wurde.
Die zentralistischen Jakobiner wie die föderalistischen Proudho-nisten wurden durch die Macht der Verhältnisse gezwungen, sich das gleiche Ziel zu setzen, das bei einigermaßen günstigen Machtverhältnissen damals erreichbar, eine Notwendigkeit für ganz Frankreich war und von vielen seiner bürgerlichen Politiker selbst gefordert wurde: die. Selbstverwaltung der Gemeinden, ihre Selbständigkeit innerhalb der von der staatlichen Demokratie gezogenen Grenzen, die Einengung des Machtbereichs der staatlichen Bureaukratie sowie die Ersetzung des stehenden Heeres durch eine Miliz.
Die Internationalisten ließen sich auf diese Anerkennung des demokratischen Staates um so eher ein, als sie ja, wie wir bereits wissen, in den letzten Jahren des Kaiserreichs in den Kampf gegen dieses, also in die Staatspolitik, hineingezogen worden waren und angefangen hatten, den strengen Proudhonismus mit marxistischen Ideen zu durchziehn.
Das Endergebnis war eine Politik, die Marx sehr wohl anerkennen durfte. Wäre er in Paris gewesen, er hätte sich weder der einen noch der anderen Richtung anschließen können. Er wäre isoliert gewesen. Jedoch die Macht der Verhältnisse und die Klugheit der besten Köpfe der Kommune, die auch hier mehr den „wirklichen Verhältnissen“ Rechnung trug, als dem „bloßen Willen“, erzeugte im Endergebnis Richtlinien einer Politik, die sich der seinen stark näherten. Für sie gilt freilich noch mehr als für die ökonomischen Maßregeln das Wort Mendelsons (in seinem Nachwort zu Lissagaray, S. 525):
„Die Schöpfer der Kommune scheinen selbst nicht zu wissen, was sie geschaffen haben.“
Die politischen Neuschöpfungen der Kommune vollzogen sich unter den schwersten inneren Kämpfen zwischen den beiden Richtungen. Das große Übel, an dem die Kommune krankte, war ihr Mangel an Organisation, eine natürliche Folge des Mangels an organisatorischen Gewohnheiten und Fähigkeiten im damaligen Pariser Proletariat, das eben erst aus dem Kaiserreich hervorging.
Die Kommune stand von Anfang an im Kriegszustand mit Versailles. Nie sind Organisation und Disziplin nötiger, als im Kriege. Sie fehlten der Kommune völlig. Die Bataillone der Kommune wurden befehligt von Offizieren, die sie selbst gewählt hatten. Diese Offiziere waren damit unabhängig vom Oberkommando, aber abhängig von ihren Wählern. Auf diese Weise kann man eine schlagkräftige Armee nicht organisieren, sie ist nur dort am Platz, wo die Desorganisierung der Armee geboten ist. Das haben auch die Bolschewiki in Rußland eingesehen, die der Macht der Soldatenräte und der Wahl der Offiziere durch die Mannschaften bald ein Ende machten, als sie in einen ernsthaften Krieg verwickelt wurden.
Ob die einzelnen Bataillone der Nationalgarde den Befehlen des Oberkommandos gehorchten, hing ganz von ihrem Belieben ab. Kein Wunder, daß die Zahl der wirklichen Kämpfer der Kommune gering war. Sold wurde an 162.000 Mann und 6.500 Offiziere gezahlt, aber die Zahl derjenigen, die ins Feuer gingen und sich schlugen, schwankte nach dem verhängnisvollen 3. April zwischen 20–30.000. Diese Tapferen hatten die ganze furchtbare Last des Kampfes gegen eine wohldisziplinierte und ausgerüstete Übermacht zu tragen, die in der zweiten Hälfte des Mai 120.000 Mann erreichte.
Die Desorganisation von unten wurde noch vermehrt durch die von oben. Neben der Kommune blieb das Zentralkomitee der Nationalgarde bestehen. Es hatte der Kommune alle Macht abgetreten, fuhr jedoch fort, sich in alle Anordnungen hineinzumischen, die die Nationalgarde betrafen.
Marx bezeichnet es in seinem Brief an Kugelmann über die Kommune vom 12. April 1871 als einen Fehler, daß „das Zentralkomitee“ seine Macht zu früh aufgab, um der Kommune Platz zu machen. (Neue Zeit, XX, S. 709) Er begründet leider diesen Satz nicht, wir wissen also nicht, warum ihm das als Fehler erschien. Man darf wohl annehmen, wegen der Rückwirkung auf die Kriegführung. Er bezeichnet diesen Fehler als zweiten, den die Pariser begingen, der erste habe darin bestanden, daß sie nicht nach dem 18. März sofort nach Versailles marschierten. Diese Fehler könnten bewirken, daß sie unterlägen.
Indessen waren leider alle die grundlegenden Fehler, welche die militärische Situation der Kommune von Anfang an hoffnungslos machten, bereits vor dem Zusammentritt der Kommune gemacht worden. Nichts deutet darauf hin, daß die Kriegführung unter der Oberleitung des Zentralkomitees erfolgreicher gewesen wäre, als unter der Leitung der Kommune. Im Gegenteil, jenes Komitee zeigte sich noch schwankender als sie. Das Kriegführen ist eben nicht die starke Seite des Proletariats.
Am schlimmsten aber war das Nebeneinanderbestehn zweier voneinander unabhängiger Obergewalten, zu denen sich noch eine dritte Gewalt gesellte, die in die Kriegführung hineinredete, das Komitee der Artillerie.
„Das am 18. März entstandene Artilleriekomitee machte dem Kriegsministerium die Kanonen streitig. Das letztere besaß nämlich die vom Marsfeld, während das Komitee die vom Montmartre in Händen hatte.“ (Lissagaray, Geschichte der Kommune, S. 205)
Man suchte der allgemeinen Desorganisation abzuhelfen durch Verstärkung der Regierungsgewalt. An Stelle der Exekutivkommissionen, von denen wir schon gesprochen, trat am 20. April ein Exekutivausschuß, bestehend aus 9 Mann, je einem Delegierten aus jeder der 9 Kommissionen. Aber das Übel lag zu tief, als daß es durch eine derartige Änderung zu beseitigen war. Da erinnerten sich die Jakobiner der Traditionen von 1793 und forderten einen Wohlfahrtsausschuß mit diktatorischer Gewalt, der die Kommune selbst zur Nichtigkeit verurteilen sollte. Das unaufhaltsame Vordringen der Versailler Truppen veranlaßte das Kommunemitglied Miot, „der einen der schönsten Barte von 1848 besaß“ (Lissagaray, S. 223) am 28. April die Errichtung eines Wohlfahrtsausschusses zu fordern, also einer neuen Kommission, die über den anderen Kommissionen stehen sollte. Über die Notwendigkeit einer kraftvolleren Exekutive waren alle einig, doch über den Namen erhob sich eine heftige Debatte. Die revolutionären Jakobiner glaubten, wenn man die Kommission als Wohlfahrtsausschuß bezeichne, erteile man ihr dadurch schon die siegreiche Kraft der französischen Republik von 1793 mit ihrem Wohlfahrtsausschuß. Aber gerade diese Tradition, die an das Schreckensregiment erinnerte, stieß die Proudhonisten ab.
Mit 34 gegen 28 Stimmen wurde am 1. Mai die Bildung des Ausschusses beschlossen. Bei seiner Erwählung enthielt sich der größte Teil der Minderheit (23) der Stimme mit folgender Begründung:
„Wir haben keine Kandidaten aufgestellt, wir wollten niemand in eine Einrichtung wählen, die uns ebenso verderblich wie nutzlos erscheint. Denn wir sehen im Wohlfahrtsausschuß die Verleugnung der Prinzipien sozialer Reform, denen die kommunale Revolution des 18. März entsprungen ist.“
Der Wohlfahrtsausschuß, der die Energie der Kommune aufs höchste steigern, ihrer Desorganisation ein Ende machen sollte, begann damit, diese zu vermehren, indem er die Kommune spaltete.
Schon dadurch verlor der Ausschuß jede moralische Kraft. Dazu kam, daß diejenigen, die fast allein ernsthafte Arbeit in der Kommune leisteten, die Internationalisten ihm fernblieben. Von seinen Mitgliedern waren bis auf eines alle, wie sich Lissagaray ausdrückt, nach dem Herzen der „Schreier“.
Schon am 9. Mai setzte man diesen unfähigen Ausschuß ab, um einen neuen zu wählen. Diesmal beteiligte sich die Minderheit an der Wahl, nachdem sie gesehn, daß hinter dem gefürchteten Namen nichts weniger steckte, als eine wirkliche Diktatur. Doch inzwischen hatte sich der Gegensatz zwischen Mehrheit und Minderheit so verschärft, daß jene den unbegreflichen Fehler beging, kein Mitglied der letzteren in den Ausschuß zu wählen.
Der zweite Wohlfahrtsausschuß zeigte sich ebenso unfähig wie der erste, er übertrumpfte diesen noch darin, daß er aktiv gegen die Minderheit vorging, eine Reihe ihrer Mitglieder aus ihrem Amt entfernte, und so die Kommune ihrer besten Köpfe beraubte.
Das führte zu offenem Bruch: Am 16. Mai veröffentlichte die Minderheit in den Blättern eine Erklärung, in der sie gegen die Abdankung der Kommune. zugunsten einer unverantwortlichen Diktatur protestierte und verkündete, sie werde sich von nun an nicht weiter an den Arbeiten der Kommune beteiligen und nur noch in den Bezirken und in der Nationalgarde tätig sein. Auf diese Weise, hieß es zum Schluß, hofften sie der Kommune den inneren Zwist zu ersparen, den sie meiden wollten, denn Mehrheit wie Minderheit dienten dem gleichen Ziel. Trotz des versöhnlichen Schlusses schien diese Erklärung den völligen Bruch zu bedeuten.
Jedoch war die Minderheit, obwohl für Verwaltungsarbeiten und die Erfassung ökonomischer Probleme befähigter als die Mehrheit, in ihrer Politik nicht sehr entschlossen und konsequent. Sie hatte gegen die Diktatur des ersten Wohlfahrtsausschusses durch Wahlenthaltung am 1. Mai protestiert, am 9. dieselbe Diktatur anerkannt, indem sie Kandidaten für den zweiten Ausschuß aufstellte. Am 15. wieder hatte sie beschlossen, gegen die „gleiche Diktatur öffentlich durch Einstellung ihrer Arbeit in der Kommune zu protestieren, am 16., dem Tage der Veröffentlichung ihres Protestes, gab sie jedoch ihren Freunden, namentlich dem Föderalrat der Internationale, nach, die sie drängten, nicht die Einheit der Kommune vor dem eindringenden Feinde zu sprengen, und am 17. erschienen 15 der 22 Unterzeichner des Manifestes wieder in der Sitzung des Rats. Aber die Mehrheit wurde dadurch nicht besänftigt, trotz der Vermittlungsversuche einiger vernünftiger unter ihren Mitgliedern, darunter Vaillant. Eine versöhnliche Resolution wurde abgelehnt und ein Antrag Miots angenommen, der lautete:
„Die Kommune wird die Haltung jener Mitglieder der Minderheit vergessen, die ihre Unterschriften zu ihrer Erklärung zurückziehen. Sie tadelt diese Erklärung.“
Dubreuilh bemerkt dazu (S. 440):
„So standen Jakobiner und Föderalisten als feindliche Brüder vor der letzten Schlacht auf den Barrikaden, vor dem Tode.“
Am 21. drangen die Versailler Truppen in Paris ein. Am 22. fand die letzte Sitzung der Kommune statt.
Ihre Politik bietet uns ein merkwürdiges Schauspiel. Von den beiden Richtungen, die in der Kommune vertreten waren, wurde jede von einem Programm geleitet, das, konsequent angewandt, nicht durchführbar war und das seine Bekenner zu sehr unzweckmäßigen Aktionen verleitete. Aber trotz alledem ergab das Aufeinanderwirken der beiden Programme unter dem Druck der Verhältnisse ein politisches Programm, das nicht nur durchführbar war, sondern das sogar den Bedürfnissen Frankreichs in höchstem Maße entsprach, das heute noch einen sehr fruchtbaren Kern in sich birgt: Sowohl die Forderung der Selbstverwaltung der Gemeinden wie die der Aufhebung des stehenden Heeres – diese beiden Grundforderungen der Kommune, sind heute nicht minder notwendig für den Aufschwung Frankreichs, wie zur Zeit der zweiten Pariser Kommune.
Man kann nicht vom Wohlfahrtsausschuß sprechen, ohne an das Schreckensregiment zu denken, dessen Seele er 1793 bildete. Es war ganz natürlich, daß der Gegensatz in der Frage der Diktatur des Wohlfahrtsausschusses seine Fortsetzung fand in der Frage des Terrorismus. Die Jakobiner waren von vornherein ebenso von der Anerkennung des Terrorismus als Kampfmittel erfüllt, wie die Internationalisten ihn ablehnten.
Schon in der Eröffnungssitzung der Kommune machte sich der Gegensatz bemerkbar. Ein Mitglied beantragte die Abschaffung der Todesstrafe. „Ah, er will den Kopf Vinoys (des Generals der Vei sailler) retten“, wurde ihm zugerufen.
Vor dem Föderalrat der Internationale formulierte Frankel am 29. April die Politik der Internationale mit den Worten:
„Wir wollen das Recht der Arbeiter begründen und das ist nur möglich durch Überredung und moralische Kraft.“
Auf der anderen Seite finden wir Leute, wie den Dramaturgen Felix Pyat, den Rechnungsbeamten Theophil Ferre und den Studenten Raoul Rigault, die sich in blutrünstigen Phrasen nicht genug tun konnten.
Im Prinzip mußten eigentlich alle Jakobiner für terroristische Maßregeln sein. Aber in ihrer Praxis war nicht viel davon zu merken. Dem humanen Geist, der die ganze Demokratie, bürgerliche wie proletarische, damals durchwehte, konnten auch die meisten von ihnen sich nicht entziehen. Dazu kam, daß die Verhältnisse für die zweite Pariser Kommune nicht bestanden, die in der ersten den Terrorismus erzeugt hatten. Die zweite Kommune setzte sich nicht die unlösbare Aufgabe, ein den proletarischen Interessen genügendes Gemeinwesen auf bürgerlicher Grundlage aufzubauen. Und sie war in ihrer Machtanwendung auf Paris beschränkt, dessen Mehrheit so entschieden auf ihrer Seite stand, daß sie es nicht notwendig hatte, ihre Gegner durch Gewaltmaßregeln einzuschüchtern. Der Gegner, der ihr gefährlich wurde, stand außer den Mauern ihres Gemeinwesens und war mit den Mitteln des Terrorismus nicht zu erreichen.
So fehlte der Antrieb, die terroristische Tradition in die Praxis umzusetzen. Was Raoul Rigault und Ferre im Sicherheitsausschuß durch Unterdrückung der Presse und Verhaftungen leisteten, war mehr schlechte Nachahmung des Kaiserreichs als der Schreckensherrschaft, die mit ganz anderen Mitteln arbeitete. Der blanquistische Student Rigault hatte unter dem Kaiserreich seine Lorbeeren im steten Kampf mit der Polizei erworben, deren Schliche und Pfiffe er auf das genaueste kannte. Schon am 9. März, also noch vor der Insurrektion, berichtete Lauser über ihn:
„Von denjenigen, die ihn kennen, wurden mir über seine Manie und Geschicklichkeit, der Polizei nachzuspüren, ihre Verfolgungen zu durchkreuzen und auf eigene Faust gelegentlich selbst den Polizeipräfekten von Paris zu spielen, die seltsamsten Dinge erzahlt.“ (Unter der Pariser Kommune. Ein Tagebuch, Leipzig 1878. S. 18)
Am 18. März bekam er schon Gelegenheit, von Amts wegen den Polizeipräfekten von Paris zu spielen. Seine erste Tat in der Nacht vom 18. zum 19. März bestand darin, sich in der Polizeipräfektur festzusetzen.
Seine Polizeipraxis begegnete bald lebhaftem Widerstand von allen Seiten, namentlich der Internationalisten. Sie hatte mit den Prinzipien von 1793 wenig zu tun, obwohl er an einer Geschichte der Kommune von 1793 arbeitete.
Andererseits darf man die Erschießungen der Generäle Thomas und Clement, wie wir schon bemerkt, der Kommune nicht anrechnen. Sie geschahen, ehe es noch eine gab, trotz des Widerstandes des Zentralkomitees.
Nur eine Maßregel der Kommune kann man als eine terroristische, auf Einschüchterung des Gegners durch Vergewaltigung Wehrloser berechnete, bezeichnen, die Verhaftung der Geiseln.
Daß das Nehmen von Geiseln eine zwecklose Prozedur ist, die Grausamkeiten nur selten verhindert, weit öfter nur dazu dient, die Grausamkeit des Konflikts, durch den es veranlaßt wird, zu vermehren, hat die Erfahrung oft genug bewiesen.
Aber es war für die Kommune schwer, etwas anderes zu tun, wenn sie nicht ganz ohne jeglichen Widerstand dulden wollte, daß die Versailler die Gefangenen erschossen, die sie machten, was seit dem 3. April in zahlreichen Fällen stattfand.
„Unter dem Druck der Empörung, die durch die Exekution Duvals (eines der Befehlshaber der Nationalgarde, den die Versailler beim Ausfall vom 3. April gefangennahmen), sowie der Gefangenen von Puteaux und Chatillon hervorgerufen wurde, verlangten mehrere Mitglieder der Kommune, man solle sofort eine Anzahl von Reaktionären erschießen, die vor allem aus dem Klerus von Paris genommen werden sollten. Andere Jakobiner und namentlich Delescluze, entsetzt über diese Übertreibungen, schlugen dann das Dekret über die Geiseln vor. Es war bestimmt, die Versailler Elemente zum Einhalt auf dem blutigen Wege zu bringen, auf den sie sich blindlings gestürzt hatten. Durch eine Art stillschweigendes Einverständnis kam man überein, daß dieses Dekret nicht ausgeführt werden sollte.“ (Fiaux, guerre civile de 1871, S. 246)
Dieses Dekret entsprang also nicht dem Bestreben, Menschenleben zu vernichten, sondern dem, Menschenleben zu retten. Auf der einen Seite die Versailler zu bewegen, auf weitere Erschießungen zu verzichten, und auf der andern Seite die Pariser zu veranlassen, von sofortigen Repressalien abzusehen.
„Immer edelmütig und gerecht, selbst in seinem Zorn,“ hieß es in der Proklamation der Kommune vom 5. April, „verabscheut das Volk das Blutvergießen ebenso wie den Bürgerkrieg. Aber es hat die Pflicht, sich vor den barbarischen Attentaten seiner Feinde zu schützen, und so schwer es ihm fällt, es wird nach dem Grundsatz handeln: Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ (Journal officiel, 6. April, S. 169)
In Wirklichkeit zeigte sich die Kommune wohl edelmütig und gerecht, sie verfuhr aber nicht nach dem Grundsatze: Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Das Dekret der Kommune über die Geiseln bestimmt, daß jede des Einverständnisses mit Versailles angeschuldigte Person sofort anzuklagen und zu verhaften sei. Ein Gerichtshof sei einzusetzen, der binnen 24 Stunden die Angeklagten zu vernehmen und binnen 48 Stunden zu verurteilen habe. Doch sollte jeder Verurteilte nicht etwa erschossen, sondern als Geisel verhaftet bleiben. Auch alle Kriegsgefangenen seien dem gleichen Gerichtshof vorzuführen, der zu entscheiden habe, ob sie frei gelassen oder als Geiseln zurückbehalten werden sollten. Endlich war bestimmt, daß jede Erschießung eines gefangenen Kämpfers oder Anhängers der Kommune durch die Versailler mit der Erschießung der dreifachen Zahl von Geiseln beantwortet werde.
Diese letzte und furchtbarste Bestimmung des Dekrets blieb ein toter Buchstabe, wurde von der Kommune nie ausgeführt, obwohl die Versailler nach kurzer Unterbrechung fortfuhren, Gefangene, die sie machten, zu erschießen, unbekümmert darum, daß sie dadurch das Leben ihrer in Paris als Geiseln verhafteten Freunde in Gefahr brachten.
Thiers selbst legte es förmlich darauf an, die Kommune zu Bluttaten zu reizen. Er wußte sehr wohl, daß jede erschossene Geisel nicht der Kommune, sondern ihm in der öffentlichen Meinung der ganzen, noch von bürgerlichem Fühlen und Denken beherrschten Welt nützte, die die Erschießungen zahlloser Gefangener durch die Versailler mit Gemütsruhe hinnahm, dagegen schon über die bloße Verhaftung von Geiseln in Paris aufs äußerste empört war.
Seine elende Gesinnung zeigte Thiers in der Angelegenheit der Auswechslung von Geiseln.
Nach dem Erlaß des Dekrets vom 5. April waren in Paris einige Geistliche, ein Bankier Jecker, der Urheber der mexikanischen Expedition, sowie der Präsident des Kassationshofs, Bonjean, als Geiseln in Haft genommen worden. Die Kommune erbot sich nun zu einem Tausch. Sie wollte die verhafteten Geistlichen, den Erzbischof Darboy, den Pfarrer Deguerry und den Generalvikar Lagarde sowie den Präsidenten Bonjean freigeben, wenn die Versailler Regierung dem verhafteten Blanqui die Freiheit gab.
Sie war gutmütig genug, den Generalvikar Lagarde mit einem Brief Darboys an Thiers am 12. April nach Versailles ziehen zu lassen, nachdem er geschworen, zurückzukehren, wenn die. Verhandlungen scheitern sollten.
Schon vorher, am 8. April, hatte Darboy einen Brief an Thiers gerichtet, und diesen beschworen, keine Gefangenen mehr erschießen zu lassen. Thiers schwieg. Am 13. April veröffentlichte ein Pariser Journal, L’Affranchi, diesen Brief. Nun antwortete Thiers, aber mit einer Lüge, indem er alle Nachrichten von Erschießungen als Verleumdungen bezeichnete.
Eine Antwort auf den zweiten Brief, den Lagarde überbrachte, verhielt dieser erst Ende April. Aber der Generalvikar war trotz seines Schwurs so vorsichtig, nicht in den Rachen des Löwen zurückzukehren. In dieser Antwort wurde Blanquis Freilassung abgelehnt, aber der Erzbischof mit der Versicherung getröstet, das Leben der Geiseln sei nicht gefährdet.
Weitere Versuche des päpstlichen Nuntius und des amerikanischen Gesandten Washburne, zugunsten des Austauschs zu intervenieren, blieben ebenso erfolglos. So ist es Thiers zuzuschreiben, wenn die Genannten, außer Lagarde, sich als Geiseln noch im Gefängnisse von Mazas befanden, als die Kommune zusammenbrach und die Macht verlor, sie zu schützen.
Er hatte recht gehabt mit seiner Behauptung, die allerdings seine Verleumdungen über die Bestialität der Kommune Lügen strafte, daß das Leben der Geiseln unter der Kommune nicht gefährdet sei. Aber er selbst arbeitete aufs eifrigste darauf hin, die Schutzwehr der Geiseln, das Regime der Kommune, niederzuwerfen, und zwar unter Umständen, die das Leben der Geiseln aufs äußerste gefährdeten.
Durch Verrat drangen die Versailler in Paris an einem Sonntag, am 21. Mai, ein, ganz überraschend, zur selben Zeit, zu der im Garten der Tuilerien ein Volkskonzert stattfand, an dessen Schluß ein Generalstabsoffizier die Zuhörer einlud, am nächsten Sonntag wiederzukommen, wobei er hinzufügte:
„Thiers hatte versprochen, gestern in Paris einzurücken. Thiers ist nicht eingerückt, er wird nicht einrücken.“
Zur selben Minute zogen die Versailler in Paris ein. Die Bevölkerung war so überrumpelt, die Truppen der Kommune so erschöpft, daß es den Versaillern bei raschem, entschlossenem Vormarsch wahrscheinlich gelungen wäre, ganz Paris zu besetzen, ohne erheblichen Widerstand zu finden. Aber sie rückten nur langsam vor, und gaben dadurch den Kämpfern der Kommune Zeit, sich zu sammeln zu wütendem Straßenkampf, der die ganze Woche dauerte, die blutige Maiwoche, und alle Leidenschaften um so mehr aufs wahnsinnigste erhitzte, als die Versailler keinen Pardon gaben, nicht nur alle mit den Waffen in der Hand Gefangenen, deren Erschießung befohlen war, sondern alle Verdächtigen niedermachten. Manche Historiker der Kommune deuten an, das langsame Vorrücken der Versailler habe den Zweck verfolgt, den Widerstand und damit die Zahl der Opfer und die Größe der Niederlage zu steigern.
„Paris hätte in 24 Stunden genommen werden können, wenn die Armee auf den Quais des linken Ufers vorwärtsgegangen wäre; sie hätte Widerstand nur beim Marineministerium, auf dem Montmartre, in Menilmontant gefunden. Bei dem langsamen Vordringen in Paris, das dem Widerstand Zeit gab, sich zu organisieren, machte man acht- bis zehnmal mehr Gefangene als es Kämpfer gab, man erschoß mehr Menschen, als hinter den Barrikaden standen, während die Armee bloß 600 Tote und 7.000 Verwundete verlor.“ (G. Bourgin, L’histoire de La Commune, S. 108)
Die Zahl der Toten der Kommune überstieg 20.000, wurde von manchen auf 30.000 geschätzt. Der Chef der Militärjustiz, General Appert, zählte 17.000 Tote. Die Zahl der Opfer, die nicht zur Kenntnis der Behörden kamen, läßt sich nicht feststellen, betrug aber sicher mehr als 3.000.
Daß in diesem furchtbaren Wüten bei manchem der Rachedurst die Oberhand gewann, ist kein’ Wunder. Er wurde um so wilder, je ohnmächtiger er war, je weniger er die Niederlage abzuwenden vermochte. Nun erst, als die Kommune aufgehört hatte, zu existieren, begannen die Erschießungen der Geiseln. Am 21. waren die Versailler eingedrungen, am 22. hatte der Straßenkampf seinen Anfang genommen, am 24. wurden die ersten Geiseln erschossen.
Indes auch da, obwohl die Erschießungen mehr das Ergebnis verzweifelter Wut und blinden Rachedurstes als vorbedachten Handelns waren, zeigte sich der Gegensatz zwischen Jakobinern und Internationalisten.
Den Beginn mit den Erschießungen machte der fanatische Blanquist Raoul Rigault, er ließ in der Nacht vom 23. zum 24. neben einigen am 18. März festgenommenen Gendarmen den Mitte April verhafteten Redakteur Chaudey töten, der am 22. Januar auf das Volk hatte schießen lassen, wobei Rigaults Freund, Sapia, an seiner Seite gefallen war.
Am 24. wurde Rigault seinerseits verhaftet und niedergeschossen. Um dieselbe Zeit forderte der alte Blanquist Genton die Hinrichtung von 6 Geiseln, unter denen die uns schon bekannten Erzbischof Darboy, Präsident Bonjean und Pfarrer Deguerry. Der Blanquist Ferre erteilte ihm dazu die Vollmacht.
„Das Peloton der Exekution war fast ausschließlich aus jungen Leuten, fast Kindern, gebildet. Bei den meisten dieser Verbrechen sind die Beteiligten kaum mannbare junge Leute, erregt durch die Laster der Städte, und deren Leidenschaften, die ihnen früher wachsen als der Bart, für das Gefühl der Verantwortlichkeit keinen Platz lassen.“ (Fiaux, Guerre civile, S. 528)
Die gleiche Beobachtung können wir leider heute in Deutschland auf Schritt und Tritt bei denen machen, die das Kriegsrecht zur Ausführung bringen.
Am 26. ist es wieder der Blanquist Ferre, der verfügt, 48 Geiseln, meist Priester, Geheimpolizisten und Gendarmen, die am 18. März auf das Volk geschossen hatten, sollten dem Obersten Gois übergeben werden, ebenfalls einem Blanquisten. Er führte sie mit sich, gefolgt von einer bewaffneten Menge, die außer Rand und Band war, da sie wußte, sie habe keinen Pardon zu erwarten und sie sei selbst zum Tode verurteilt. In verzweifelndem Wahnsinn stürzte sie sich auf die Geiseln und machte einen nach dem andern nieder. Vergebens versuchten die Internationalisten Varlin und Serailler, sie zu retten. Fast wurden sie darob selbst von der wütenden Menge gelyncht, die sie als Versailler beschimpfte.
Am 28. Mai wurde derselbe Varlin, der sein Leben für die Rettung der Geiseln aufs Spiel gesetzt, auf die Denunziation eines Priesters hin, der ihn auf der Straße erkannte, von den Versaillern verhaftet und erschossen.
Von den unzähligen Opfern, die die Mordlust der Sieger an den Gefangenen noch während des Kampfes und nach ihm forderte, sprechen die bürgerlichen Elemente nicht, die sich über den Terrorismus der Kommune entrüsten. Dagegen finden sie nicht genug Worte schärfster Verdammnis, wenn sie auf die fünf Dutzend Geiseln zu sprechen kommen, die nach dem Sturze der Kommune dem Rachedurst und der Unzurechnungsfähigkeit einiger von den Versaillern mit dem unvermeidlichen Tode bedrohten Insurgenten zum Opfer fielen.
Gerade die Geschichte der Geiseln bezeugt aufs deutlichste, wie fern die Kommune jeden? Terrorismus war. Es wird in der Geschichte keinen Bürgerkrieg geben, ja kaum einen nationalen Krieg, in dem die eine Seite trotz der blutigsten Unmenschlichkeiten der anderen Seite die Gebote der Menschlichkeit so hoch hielt und so streng in ihrer Praxis beobachtete, im Gegensatz zu den blutrünstigen Phrasen einiger ihrer Radikalinskis, wie es in dem französischen Bürgerkrieg von 1871 der Fall war.
Und darum hat die zweite Pariser Kommune ganz anders geendet als die erste, die ein so energisches Schreckensregiment ausgebildet hatte. Das Schreckensregiment der ersten Kommune fiel, ohne daß die Pariser Arbeiter Widerstand leisteten; ja sein Fall wurde von vielen als Erleichterung empfunden, mit Beifall begrüßt. Als am 9. Thermidor 1794 die Streitkräfte der beiden feindlichen Parteien aufeinanderstießen, machten die Anhänger Robespierres kehrt, ehe noch ein Schuß gefallen war, und liefen auseinander.
An der zweiten Pariser Kommune dagegen hingen die Pariser mit begeisterter Zähigkeit bis zum äußersten. Es bedurfte der erbittertsten Straßenkämpfe einer ganzen Woche, um ihrer Herr zu werden. Die Zahl der Opfer an Toten, Gefangenen, Geflüchteten, die der Todeskampf der Kommune kostete, erreichte fast die Summe von 100 000 (man schätzte sie im Juli 1871 auf 90 000, Bourgin, La Commune, S. 183).
Wohl war die zweite Kommune von den schroffsten Gegensätzen zerrissen worden. Wir haben gesehn, in welcher Feindschaft ihre beiden Richtungen dem letzten Kampf entgegengingen. Aber nie hat eine von ihnen die andere durch terroristische Mittel vergewaltigt, die Mehrheitler (Bolschewiki heißt zu deutsch Mehrheitler) und die Minderheitler (russisch Menschewiki) kämpften zusammen trotz alledem bis zum Ende.
Und so haben auch alle Richtungen des Sozialismus in der Kommune die gemeinsame Vertretung des gesamten kämpfenden Proletariats erblickt. In ihrer Anerkennung vereinten sich Marx und Bakunin, Lassalleaner und Eisenacher.
Die erste Regierung des Proletariats hat sich tief eingegraben in die Herzen aller, die nach der Befreiung der Menschheit lechzen. Die gewaltige Wirkung dieser „Diktatur des Proletariats“ auf seinen Emanzipationskampf in allen Ländern beruhte nicht zum wenigsten darauf, daß sie völlig durchdrungen war von dem Geiste der Humanität, der die Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts beseelte.
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7.1.2012