MIA > Deutsch > Bebel > Aus meinem Leben, 1. Teil
Der dritte Vereinstag der Arbeitervereine war vom ständigen Ausschuß auf den 3. bis 5. September 1865 nach Stuttgart berufen worden. Auf demselben waren 60 Vereine und ein Gauverband durch 60 Delegierte vertreten. Unter den Delegierten traten unter anderen hervor: Herm. Greulich-Reutlingen, Professor Eckhardt-Mannheim, Bankier Eduard Pfeiffer-Stuttgart, Julius Motteler-Crimmitschau, der schon 1864 in Leipzig war, Streit-Koburg, Staudinger-Nürnberg, Professor Wundt-Heidelberg, der sich nachmals einen großen Namen als Physiologe erworben hat und gegenwärtig Professor an der Universität Leipzig ist. Von den hier Genannten ging Hermann Greulich kurz nach dem Stuttgarter Vereinstag von Reutlingen nach Zürich, woselbst er fast gleichzeitig mit mir, und zwar als Schüler Karl Bürklis und Jean Philipp Beckers, zum Sozialisten wurde. Julius Motteler machte um dieselbe Zeit die gleiche Entwicklung durch. Professor Eckhardt war Redakteur des 1864 in Mannheim gegründeten Deutschen Wochenblatts. Eckhardt stand auf dem äußersten linken Flügel der Demokratie.
Im Lokalkomitee saß neben Bankier Pfeiffer Rechtsanwalt Hölder, später Minister des Innern für Württemberg, der im Namen des Lokalkomitees und der Stadt die Begrüßungsrede hielt. Bandow präsidierte. Die Tagesordnung war wieder überreichlich belastet. Der Punkt „Altersversorgungskassen“ wurde auf Wunsch Sonnemanns abgesetzt; er wollte erst eine Broschüre darüber herausgeben. Ich hatte ein Referat über Speisegenossenschaften, wie solche damals mehrfach in den deutschen Arbeitervereinen der Schweiz für Unverheiratete bestanden. Mein gedruckt erstatteter Bericht war recht dürftig. Meine Rede darüber war die kürzeste von allen. Max Hirsch hatte das Referat über die Eroberung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts. Er befürwortete in der von ihm vorgeschlagenen Resolution, daß die Arbeitervereine sich mit aller Kraft für die Eroberung desselben einsetzen sollten. Diese Resolution rief die Opposition Professor Wundts hervor, der im Namen des Oldenburger und der badischen Vereine, mit Ausnahme von Mannheim, Übergang zur Tagesordnung beantragte, was einen Sturm des Unwillens hervorrief. Schließlich änderte Hirsch seine Resolution dahin, daß statt deutsche Arbeitervereine deutsche Arbeiter gesetzt wurde, worauf sie einstimmig angenommen wurde. Hirzel-Nürnberg referierte über das Koalitionsrecht; er beantragte die Beseitigung aller Schranken, die der Ausübung dieses Rechtes entgegenstünden, und wurde demgemäß einstimmig beschlossen. Ebenso einstimmig wurde der Antrag Bandows auf Aufhebung der Wanderbücher und des Legitimationszwanges angenommen.
Moritz Müller-Pforzheim, ein etwas eigentümlicher, aber eifriger und in seiner Art wohlwollender Bijouteriefabrikant, hatte das Referat über die Frauenfrage, eine Frage, die er als Spezialität behandelte. In seinem schriftlichen Referat verlangte er die volle soziale Gleichheit der Frau mit dem Manne, die Gründung von Fortbildungsanstalten für Arbeiterinnen und die Gründung von Arbeiterinnenvereinen. Die Debatte über diese Frage nahm die meiste Zeit in Anspruch. Professor Eckhardt erklärte ausdrücklich, daß die soziale Befreiung der Frau auch die Gewährung des Stimmrechtes an die Frauen, wie solches der Vereinstag für die Männer fordere, einschließe. Mit dieser Auslegung wurden die Müllerschen Resolutionen mit erheblicher Mehrheit angenommen.
Die Beschlüsse des Stuttgarter Vereinstags bedeuteten in ihrer Gesamtheit einen entschiedenen Ruck nach links. In allen praktischen Fragen der inneren Politik standen jetzt die sogenannten Selbsthilfler und die Lassalleaner auf ein und demselben Boden. Auch die Organisation erlitt eine kleine Verbesserung. Der Beitrag von 2 Talern pro Jahr von jedem Verein bedeutete die finanzielle Ohnmacht des ständigen Ausschusses. Ich machte also in den Flugblättern des ständigen Ausschusses den Vorschlag, zunächst pro Kopf der Vereinsmitglieder einen Groschen Beitrag pro Jahr zu erheben und den Vorsitzenden des ständigen Ausschusses mit 300 Taler zu remunerieren, damit auch eventuell Personen, die finanziell abhängig waren, die Stellung eines Vorsitzenden bekleiden könnten; auch solle der Vorsitzende vom Vereinstag direkt gewählt werden. Endlich schlug ich vor, der großen Kosten wegen den Vereinstag nur alle zwei Jahre zu berufen – was gerade kein Meistervorschlag von mir war – und damit den Gauverbänden eine bessere Entwicklung zu ermöglichen. Nach lebhafter Debatte wurde der Groschenbeitrag, den auch die Organisationskommission vorschlug, angenommen, die anderen Vorschläge wurden abgelehnt. Ebenso entschied der Vereinstag mit 30 gegen 22 Stimmen, daß ein offizielles Vereinsorgan nicht notwendig sei. Man ging durch diesen Beschluß einem Konflikt mit dem Verleger der Koburger Arbeiterzeitung aus dem Wege, die einen starken Anhang unter den Vereinen besaß. Bemerken möchte ich hier, daß die vorhandenen Berichte über die Vereinstage ungemein kurz und sehr lückenhaft sind. In den ständigen Ausschuß wurden gewählt Bandow, Bebel, Eichelsdörfer, M. Hirsch, Hochberger-Eßlingen, König-Hanau, F.A. Lange, Lippold-Glauchau, Richter-Hamburg, Sauerteig-Gotha, Sonnemann, Staudinger-Nürnberg. Sonnemann, der wieder als Vorsitzender vom Ausschuß gewählt worden war, lehnte die Wahl ab. An seine Stelle trat Staudinger, der, wie die Erfahrung zeigte, seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Staudinger, ein älterer Mann, war seines Zeichens Schneidermeister, ihm sollte Ingenieur Hirzel-Nürnberg als Sekretär an die Hand gehen.
Auf keinem Vereinstag trat das Bestreben der verschiedenen bürgerlichen Parteiführer, entscheidenden Einfluß auf die Vereine zu erlangen, so deutlich in die Erscheinung als in Stuttgart. Alle fühlten, daß man in der deutschen Frage einer Entscheidung entgegengehe. Die Auseinandersetzungen zwischen der Linken und der Rechten wurden immer lebhafter und gereizter. Die Gegensätze zwischen Preußen auf der einen und Österreich und der Mehrheit der Mittel- und Kleinstaaten auf der anderen Seite wurden immer schroffer. Die gemeinsame Besetzung der Herzogtümer Schleswig-Holstein durch österreichische und preußische Truppen nach der Niederlage der Dänen und deren Abzug aus den beiden Ländern, die jetzt in deutschen Besitz übergingen, zeitigte immer neue Konfliktsfälle. Das deutsche Volk kam allmählich in einen Zustand hochgradiger Erregung.
Diese Stimmung machte sich auch in den Toasten auf dem Bankett des Vereinstags bemerkbar, das am Sonntag abend im Sitzungslokal des Vereinstags, der Liederhalle, stattfand, in demselben Lokal, in dem 42 Jahre später, August 1907, der erste internationale Arbeiterkongreß auf deutschem Boden tagte. Während die Hölder und Genossen in verblümter Weise sich für die preußische Spitze begeisterten, traten die Demokraten und speziell deren Wortführer Karl Mayer-Stuttgart für eine radikale Lösung ein, die wir Jungen, ohne daß das Wort ausgesprochen wurde, als ein Eintreten für die deutsche Republik ansahen. Karl Mayer, damals der gefeiertste Volksredner Württembergs, dem die Natur eine Stentorstimme verliehen hatte, saß an der Tafel mir schräg gegenüber. Er erhob sich, um mit aller Kraft seiner Lungen und in packenden Bildern gegen den reaktionären Bundestag in Frankfurt loszudonnern, der von seinem Platze müsse, um eine demokratische Einheit Deutschlands zu ermöglichen. Im Eifer der Rede streifte er Rock- und Hemdärmel in die Höhe und zeigte ein paar muskulöse Arme, mit deren Gesten er seine Rede begleitete. Ab und zu schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß Gläser und Teller tanzten. Natürlich fand sein Hoch auf ein freies, demokratisches Deutschland donnernden Beifall. Auch die Stadt Stuttgart hatte sich in Unkosten gestürzt und spendete uns am Montag nachmittag bei einem Spaziergang auf das damalige Schützenhaus einen Trunk schwäbischen Weines mit Vesperbrot.
Bei Streit in Koburg erschien um jene Zeit eine Schrift, betitelt Deutschlands Befreiung aus tiefster Schmach, in der offen für die deutsche Republik Propaganda gemacht wurde, was selbstverständlich nicht ohne Revolution möglich gewesen wäre. Aber der Revolutionsgedanke schreckte damals nicht. Die Reminiszenzen aus den Revolutionsjahren waren durch Reden und Schriften von Beteiligten und Unbeteiligten wieder lebendig geworden. Daß eine siegreiche Revolution möglich sei, daran glaubte mit Ausnahme von Ostelbien fast ganz Deutschland. Ich führte schon an, wie Bismarck und Miquel mit dieser Möglichkeit sich abfanden. Aber auch des letzteren Freund, Herr v. Bennigsen, schrieb schon im Jahre 1850 an seine Mutter einen Brief, in dem er nach Erörterung der damaligen Lage Schleswig-Holsteins also fortfuhr:
„Solange die nationale Partei nicht in Preußen regiert – und noch in diesem Augenblick schwanken die Führer, ob sie der jetzigen Regierung überhaupt eine ernsthafte, auf deren Sturz berechnete Opposition für den nächsten Landtag machen sollen! –, ist der heldenmütige Kampf dieses deutschen Landes vergebens. Ich fürchte nur zu bestimmt, daß wir, um das Maß der Schande und Erbitterung übervoll zu machen, für einige Jahre wenigstens die gänzliche Unterwerfung Schleswig-Holsteins erleben werden. Die Ruhe unserer europäischen Königsgeschlechter über so viel Gräbern soll aber nicht durch böse Erinnerungen und Träume allein gestört werden. In höchstens einem Dutzend Jahren wird es ja wohl wieder gewittern und dreinschlagen, und von uns Jüngeren schwören täglich mehrere im stillen, daß man, einerlei, ob Konstitutioneller oder Radikaler, durch elende Versprechungen im Augenblick der Furcht sich nicht wieder täuschen lassen will. Man wird die ganze Gesellschaft nach Amerika schicken und nachher sich zu einigen suchen, ob man sich einen König oder Präsidenten setzen will. Und das werden die Anhänger v. Gagern und Dahlmann schwerlich wieder hindern, noch auch zu lindern Luft haben ...“
Zwölf Jahre später gehörte der Schreiber dieses Briefes, als Präsident des Deutschen Nationalvereins, zu den einflußreichsten Personen Deutschlands, ja er war vielleicht die einflußreichste. Aber Herr v. Bennigsen befolgte jetzt dieselbe Politik, die er einst an den Gagern und Dahlmann verurteilt hatte. Der Gedanke an eine Revolution gegen das Bismarcksche Preußen war ihm unfaßbar. Und wie er gegen Ende seines Lebens über die Revolution von 1848 und 1849 dachte, ging aus der aufregenden Debatte hervor, die ich zum fünfzigsten Jahrestag des 18. März, am 18. März 1898, absichtlich im deutschen Reichstag hervorgerufen hatte, und wobei Herr v. Bennigsen mein Hauptgegner war.
Wie Lassalle, Marx und Engels über eine kommende Revolution in Deutschland dachten, geht aus dem Briefwechsel zwischen denselben hervor, den Mehring im Verlag Dietz-Stuttgart erscheinen ließ. Auch der siegreiche Zug Garibaldis nach Neapel und Sizilien (1860), der seinem Urheber eine ungeheure Popularität in der ganzen Kulturwelt eintrug, hatte den Glauben an die Macht revolutionärer Massen befestigt.
Daß man selbst in sehr hochstehenden Kreisen Süddeutschlands an die Wahrscheinlichkeit einer Revolution für eine Einheit Deutschlands dachte, zeigen die Memoiren des Fürsten Hohenlohe, der, nachdem er ausgeführt, daß die Zersplitterung Deutschlands auf die Dauer unerträglich sei, sagt: Hieraus erklärt es sich, daß auch die friedlichen, konservativsten Leute in Deutschland dahin geführt werden, zu erklären: wir müssen durch die Revolution zur Einheit kommen, weil wir auf gesetzlichem Wege nicht das Ziel erreichen können. Und unter dem 23. März 1866 schrieb der Prinz Karl von Bayern an Hohenlohe: Mir dünkt, eine günstigere Gelegenheit, ohne Revolution (auch im Original gesperrt) zu einer Bundesreform zu kommen usw.
Wenn man oben so dachte, warum nicht ebenso unten?
Die Verhandlungen und Beschlüsse des Stuttgarter Vereinstags über die Koalitionsfreiheit waren eine Antwort auf die gleichartigen Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses. Schulze-Delitzsch und Faucher – letzterer auch ein sogenannter Nationalökonom, der in einer Leipziger Volksversammlung im Jahre 1864 ernsthaft nachzuweisen versuchte, die soziale Frage könne am besten gelöst werden, wenn jeder die doppelte Buchführung verstehe und eine richtig gehende Uhr habe, um mit der Zeit zu rechnen – hatten beantragt, die §§ 181 und 182 der Gewerbeordnung von 1845, betreffend die Koalitionsverbote, aufzuheben. Seltsamerweise hatten sie aber unterlassen, auch die Aufhebung der §§ 183 und 184 zu beantragen. Nach § 183 konnte die Bildung von Verbindungen unter Fabrikarbeitern, Gesellen, Gehilfen oder Lehrlingen ohne polizeiliche Erlaubnis bestraft werden, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Geldstrafe bis zu 50 Talern oder Gefängnis bis zu vier Wochen, an den Mitgliedern mit Geldstrafe bis zu 20 Talern oder Gefängnis bis zu vierzehn Tagen. Nach § 184 war zu bestrafen das eigenmächtige Verlassen der Arbeit oder die Entziehung zur Verrichtung derselben, oder grober Ungehorsam, oder beharrliche Widerspenstigkeit mit Geldstrafe bis zu 20 Talern oder Gefängnis bis zu vierzehn Tagen. Im Sozialdemokrat J.B. v. Schweitzers und in den Versammlungen zur Rede gestellt, ließen die Antragsteller erklären, der § 183 sei bereits seit fünfzehn Jahren durch die preußische Verfassung aufgehoben und der § 184 habe mit dem Koalitionsrecht nichts zu tun. Diese Auffassung machte auch in unseren Reihen böses Blut, und die Koburger Arbeiterzeitung, die immer entschiedener geworden war, griff darauf die Schulze-Delitzsch und Genossen aufs schärfste an.
Das schwächliche Verhalten der Liberalen in dieser Frage suchte der konservative Oberdemagoge Geheimrat Wagener geschickt auszunutzen, indem er die Liberalen übertrumpfte. Er beantragte, den Kommissionsantrag über den Antrag der Liberalen – weil seine Fassung Zweifel zuließen – abzulehnen und die Regierung aufzufordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen nicht allein sämtliche das Vereinsrecht der Arbeiter beschränkenden Ausnahmebestimmungen der Gewerbeordnung aufgehoben, sondern in Verbindung damit auch solche Organisationen angebahnt respektive zur Ausführung gebracht würden, welche es ermöglichten, daß der Arbeiterstand die ihm gebührende Stellung innerhalb des Staates einnehmen und seine eigenen Interessen selbständig zu handhaben und zu vertreten vermöge. Also Zwangsgewerkvereine, begründet durch das Gesetz.
So die Konservativen zu jener Zeit, als es galt, der liberalen Bourgeoisie das Wasser abzugraben.
Eine andere Angelegenheit, in der die beiden Arbeiterparteien Hand in Hand gingen, war das Kölner Abgeordnetenfest und sein Verlauf. Die Kölner Fortschrittler hatten die fortschrittlichen preußischen Abgeordneten, das heißt also die sehr große Mehrheit der Zweiten Kammer nach Köln zu einem Reformfest für den 22. Juli 1865 geladen, dessen Glanzpunkt ein Bankett im Gürzenich sein sollte. Herr v. Bismarck ließ die Abhaltung des Festes verbieten, und der Kölner Oberbürgermeister Bachem war schwach genug, die Erlaubnis zur Benutzung des Gürzenichsaales zurückzuziehen. Der Vorgang machte gewaltiges Aufsehen. Als die Abgeordneten nach Köln kamen, ließ Herr v. Bismarck ihre Zusammenkünfte durch Polizei und Militär auseinandertreiben. Man dampfte darauf nach Oberlahnstein, um dort auf kleinstaatlich nassauischem Boden zu tun, was im Staate des deutschen Berufs, in Preußen nicht möglich war. Aber auch hier schritt Militär ein und machte eine Versammlung unmöglich.
Gegen diesen Gewaltstreich Bismarcks erhoben sich überall Proteste. In Berlin, in Leipzig und anderwärts gingen Lassalleaner und Arbeitervereinler zusammen, um gegen die Kölner Vorgänge nachdrücklichst zu protestieren und die volle Freiheit der Vereine und Versammlungen zu verlangen. Gleich dem Sozialdemokrat zog die Koburger Arbeiterzeitung gegen die fortschrittlichen Abgeordneten höhnend und spottend zu Felde, die sich nichts weniger als tapfer in dieser Sache benommen hatten.
Diese Vorgänge veranlaßten einen Briefwechsel zwischen Sonnemann und Fr. Alb. Lange. Letzterer war anläßlich des Festes in Köln gewesen. Sonnemann beklagte sich, daß er (Lange) ihm keinen Bericht über die Kölner Vorgänge geschickt, und meinte, die Sozialdemokraten spielten va banque, sie würden aber das Spiel verlieren. Er sende ihm beiliegend einen Brief über die Kölner Vorgänge von Bandow, der leider in dieser wichtigen Zeit krank sei, er möge denselben nach Kenntnisnahme an mich senden, ich solle ihn dann an ihn (Sonnemann) zurückgelangen lassen. Was der Brief enthielt, ist mir nicht mehr erinnerlich. Lange antwortete am 31. Juli 1865:
„Was die Versammlung bei Lantsch (Arbeiterversammlung in Köln) betrifft, so hielt ich es nicht für zweckmäßig, viel davon zu sagen. Die Stimmung an sich war vortrefflich. Ich will aber ebensowenig wie Sie die Verantwortung übernehmen, in der jetzigen Zeit der Gärung auf eigene Faust Parole auszugeben, und das wäre bei einem Bericht über diese Versammlung mit ihren interessanten Folgen nötig gewesen ...
Ich beurteile die Zeit ganz ähnlich wie Sie, als eine äußerst kritische. Übrigens glaube ich nicht, daß Schweitzer völlig va banque spielt. Dann wäre das Spiel schon verloren. Es fällt den Arbeitern jetzt, namentlich im Rheinland, gar nicht ein, sich für das Prinzip zu erheben. Ich glaube, man geht darauf aus, den 'Sozialdemokrat' ehrenvoll totschlagen zu lassen und dann, gestützt auf die öffentlich angebahnte Organisation, das System der geheimen Gesellschaften einzuführen. (?! A.B.) Durch den Glanz des Abgeordnetenfestes lasse ich mich nicht blenden. Ich habe niemals deutlicher gefühlt, daß es mit der bisherigen Fortschrittspartei vorbei ist, aber unsere Zeit ist noch nicht gekommen.
Beobachten und die Fäden in der Hand behalten, Verbindungen erweitern, Freunde sammeln; aber keine Parole ausgeben. Ob wir, falls es Zeit dazu ist, zusammengehen können, wird sich finden. Lassen Sie uns einstweilen den Zusammenhang pflegen ...
Zurückkommend auf die Haltung unseres Blattes (der Flugblätter) und die politisch-soziale Krisis, empfehle ich nochmals, den sozialen Teil ausführlich und interessant, aber objektiv zu halten; den politischen Teil aber scharf, so offen gegen die gesamten Fürsten als nur möglich. Man kann in den Händeln dieser Menschen keine andere Partei ergreifen als gegen alle, und zwar unveränderlich und gegen diejenigen, welche momentan liberal flöten, erst recht.“
In einer Nachschrift schreibt Lange:
„Ich sehe soeben, daß der Anfang meines Briefes unnütz mysteriös ist. Über die Versammlung bei Lantsch sind die Berichte sämtlicher liberaler Blätter total aus der Luft gegriffen. Es war außer W. Angerstein kein Berichterstatter da. Nach der Versammlung organisierte sich ein freiwilliger Zug durch die Stadt zur Begrüßung der Abgeordneten. Vor der Hauptwache Hochrufe auf das Vereinsrecht usw. Die Bewegung war den Lassalleanern ebenso vollständig aus der Hand genommen, wie sie den Liberalen quer ging. Das Volk suchte nach Führern. Es hätte auf einen Wink von Angerstein und mir getan, was wir wollten ... Die ganze Sache machte sich übrigens ganz von selbst. Niemand leitete. Man sah aber, was kommen kann, wenn die Regierung so fortfährt.“
In dem zitierten Schreiben deutet Lange an, daß es später zu einer Spaltung im ständigen Ausschuß und zwischen den Vereinen kommen dürfte. Darüber sprach er sich noch deutlicher aus in einem Brief vom 10. Februar 1865 an Sonnemann. Darin hieß es:
„Meine Stellung zur Arbeiterfrage anlangend, hatte ich anfangs den Plan, mein Verbleiben im Ausschuß von der Aufnahme meines Schriftchens (Die Arbeiterfrage) abhängig zu machen; es scheint mir jetzt jedoch in jeder Beziehung zweckmäßiger, meine Stellung zu behaupten, auch falls ich mit der Mehrheit in etwas schärfere Opposition geraten sollte. Die Geister müssen ja aufeinanderplatzen.“
In den Jahren 1865 und Anfang 1866 schien es eine Zeitlang, als sollten die streitenden Brüder in der Arbeiterbewegung sich zusammenfinden. Abgesehen von den schon erwähnten Fällen, in denen Lassalleaner und Arbeitervereinler gemeinsame Sache machten und gemeinsame Forderungen erhoben, sprach sich am 17. Juli 1865 eine Versammlung des Maingaues, in der als Redner vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Lauer und Welcker aus Frankfurt a.M. auftraten, folgendermaßen aus:
Der Arbeitertag erklärt, daß er im Interesse der guten Sache des Arbeiterstandes die Spaltung in der Arbeiterbewegung für schädlich und nachteilig hält, und erklärt sich die aus Mitgliedern der Arbeiterbildungsvereine des Maingaus und aus Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bestehende Versammlung bereit, allen Schritten zur Vereinigung die Hand zu bieten.
Hauptredner in jener Versammlung war Professor Eckhardt, der seiner Rede das Thema Staatshilfe und Selbsthilfe zugrunde gelegt hatte. Ein ähnlicher Versuch zur Einigung, der Mitte Januar 1866 in Leipzig gemacht wurde, scheiterte; dagegen kam man überein, gemeinsam für die Eroberung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu kämpfen. Der Hauptredner in dieser Versammlung war Professor Wuttke.
Weiter forderte eine andere Volksversammlung kurz danach in Dresden, bei deren Einberufung wieder beide Arbeiterparteien beteiligt waren, ein konstituierendes Parlament auf Grund des allgemeinen Wahlrechts und zu dessen Schutz und Unterstützung die Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung. Die gleichen Forderungen erhob in Berlin eine große Volksversammlung unter Bandows Vorsitz.
Zu Weihnachten 1865 wurde infolge eines Aufrufs von Fritzsche ein Allgemeiner Deutscher Zigarrenarbeiterkongreß nach Leipzig einberufen, auf dem die Gründung eines Verbandes für ganz Deutschland beschlossen wurde. Im folgenden Frühjahr erschien als Organ des Verbandes Der Botschafter, dessen Redakteur Fritzsche wurde. Damit war die erste zentralorganisierte Gewerkschaft Deutschlands gegründet. An der Spitze stand ein dreiköpfiges Direktorium, dessen Vorsitzender Fritzsche war. Lokale Gewerkschaften bestanden um diese Zeit bereits in erheblicher Anzahl, sowohl in Leipzig wie anderwärts. Auch wurde bereits im Sommer 1864 in Zwickau ein Bergknappenverein gegründet, dessen Mitglieder sich über das Zwickau-Lugau-Stollberger Kohlenrevier verbreiteten. Es war dieses die erste deutsche moderne Bergarbeiterorganisation. Der Gründer und Leiter derselben war ein gemaßregelter Bergmann mit Namen Dinter, dessen Bestrebungen von Motteler, W. Stolle und mir, später auch von Liebknecht, lebhaft unterstützt wurden.
Auf einer Landesversammlung im Juli in Glauchau hatte ich den Vorschlag gemacht, dem Ministerium zum Trotz einen Gauverband zu gründen, und es auf dessen Unterdrückung und unsere Bestrafung ankommen zu lassen. Für diesen Vorschlag war aber keine Stimmung vorhanden. So zog ich meinen Antrag zurück. Statt dessen wurde beschlossen, einen Verein zur Förderung und Unterstützung der geistigen und materiellen Interessen der Arbeitervereine zu gründen, dessen Vorsitzender ich wurde. Beschlossen wurde weiter, daß jedes Mitglied pro Jahr einen Groschen Beitrag leisten solle. Der neuen Verbindung traten 29 Vereine mit 4.600 Mitgliedern bei. Dieser Vereinigung legten die Behörden kein Hindernis in den Weg.
Als ich zwanzig Jahre später als Mitglied des sächsischen Landtags dem Nachfolger des Herrn v. Beust, Herrn v. Nostitz-Wallwitz, in der schärfsten Weise zu Leibe rückte wegen der schamlosen Auslegung, die das sächsische Vereins- und Versammlungsgesetz unter ihm gegen uns fand, und dabei erklärte, daß gegenüber seinem Regiment das Regiment des Herrn v. Beust noch ein Ausbund von Liberalismus gewesen sei, beeilte sich Herr v. Beust, diesen Ausspruch zu seiner Rechtfertigung in seine Memoiren aufzunehmen. Er hatte in gewissen Grenzen ein Recht dazu. Was nachher in Sachsen jahrzehntelang an Schikanen und kühnsten Auslegungen auf Grund des Vereins- und Versammlungsgesetzes geleistet wurde, überstieg alle Begriffe. Erklärten doch vom Ministertisch sowohl Herr v. Nostitz-Wallwitz wie sein Nachfolger Herr v. Metzsch wiederholt, die Sozialdemokratie müsse mit anderem Maße gemessen werden wie jede andere Partei. Das hieß also, an Stelle des Rechts tritt die Willkür der Beamten. Und diese haben denn auch an Willkür das Menschenmögliche geleistet.
Im August 1865 hatte Bismarck die Koburger Arbeiterzeitung für Preußen verboten. Unter den Personen, die seinem Regiment ebenfalls zum Opfer fielen, weil sie seiner Politik Widerstand entgegensetzten und den Arbeitern ihren wahren Charakter denunzierten, stand an erster Stelle Liebknecht.
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Zuletzt aktualisiert am 12.7.2007