John Reed

Zehn Tage, die die Welt erschütterten


Beilagen zu Kapitel IX

1.
Bulletin des Revolutionären Militärkomitees Nr.2

Am 12. November (30. Oktober) abends sandte Kerenski an die revolutionären Truppen die Aufforderung, „die Waffen niederzulegen“. Die Kerenskibande eröffnete Artilleriefeuer. Unsere Artillerie antwortete und brachte den Gegner zum Schweigen. Die Kosaken gingen zum Angriff über. Das mörderische Abwehrfeuer der Matrosen, Rotgardisten und Soldaten zwang die Kosaken zum Rückzug. Unsere Panzerwagen brachen in die Reihen des Gegners ein. Der Feind flieht. Unsere Truppen verfolgen ihn. Es wurde der Befehl erteilt, Kerenski zu verhaften. Zarskoje Selo ist von den revolutionären Truppen genommen.

Die lettischen Schützen. – Das Revolutionäre Militärkomitee hat genaue Nachrichten erhalten, daß die tapferen lettischen Schützen von der Front gekommen sind und im Rücken der Kerenskibanden Stellung bezogen haben.

* * *

Vom Stab des Revolutionären Militärkomitees

Die Einnahme von Gattschina und Zarskoje Selo durch Kerenskitruppen ist dadurch zu erklären, daß an diesem Punkt Artillerie und Maschinengewehre fast völlig fehlten, während die Kavallerie Kerenskis von Anfang an Artillerie besaß.

Die letzten zwei Tage waren für unseren Stab Tage angespannter Arbeit, um die revolutionären Truppen mit der notwendigen Menge von Geschützen, Maschinengewehren, Feldtelefonen u.a. zu versorgen. Als diese Arbeit, mit energischer Unterstützung der Bezirkssowjets und der Industriebetriebe (Putilow-Werk, Obuchow-Werk u.a.), abgeschlossen war, konnte es über den Ausgang des bevorstehenden Zusammenstoßes keinen Zweifel mehr geben; die revolutionären Streitkräfte hatten nicht nur ein zahlenmäßiges Übergewicht, sie besaßen nicht nur eine mächtige materielle Basis, nämlich Petrograd, sondern hatten auch ein gewaltiges moralisches Übergewicht. Alle Petrograder Regimenter gingen mit großer Begeisterung in Stellung. Auf einer Beratung der Garnison wurde eine Kontrollkommission in Stärke von fünf Soldaten gewählt; damit war die völlige Einheit des Willens des Oberbefehlshabers und der Garnison gewährleistet. Auf der Garnisonsberatung wurde einstimmig beschlossen, zu entschiedenen Kampfhandlungen überzugehen.

Am 12. November (30. Oktober) wurde um 3 Uhr nachmittags das Artilleriefeuer mit außerordentlicher Intensität eröffnet. Die Kosaken wurden völlig demoralisiert. Sie entsandten einen Parlamentär in den Stab der Abteilung von Krasnoje Selo, der forderte, den Beschüß einzustellen; er drohte, andernfalls würden 'entschlossene Maßnahmen' unternommen. Ihm wurde die Antwort zuteil, daß das Artilleriefeuer sofort eingestellt wird, wenn Kerenski die Waffen niedergelegt hat.

In dem folgenden Kampf legten alle Truppenteile – Matrosen, Soldaten und Rotgardisten – grenzenlose Tapferkeit an den Tag. Die Matrosen griffen unentwegt an, bis alle Patronen verschossen waren. Die Zahl der Opfer ist noch nicht festgestellt] auf jeden Fall ist sie auf der Seite der konterrevolutionären Truppen größer; ihnen fügte besonders einer unserer Panzerwagen große Verluste zu.

Der Stab Kerenskis gab, aus Furcht vor der völligen Einkesselung, Befehl zum Rückzug, der zu einer regellosen Flucht wurde. Gegen 12 Uhr nachts war Zarskoje Selo einschließlich des Telegrafenamtes von den Truppen der Sowjets genommen, die Kosaken zogen sich auf Gattschina und Kolpino zurück.

Die Stimmung unserer Truppen ist über alles Lob erhaben. Es wurde der Befehl gegeben, die sich zurückziehenden Kosaken zu verfolgen. Vom Telegrafenamt in Zarskoje Selo wurde unverzüglich ein Funkspruch an die Front und an die örtlichen Sowjets gesandt.

(Weitere Ereignisse werden sofort bekanntgegeben werden.)


2.
Die Ereignisse des 13. November (31. Oktober) in Petrograd

Drei Regimenter der Petrograder Garnison weigerten sich, am Kampf gegen Kerenski teilzunehmen. Am Morgen des 13. riefen sie sechzig Delegierte von der Front zu einer gemeinsamen Konferenz zusammen, um Mittel und Wege für die Beendigung des Bürgerkrieges zu finden. Diese Konferenz wählte ein Komitee, das die Kerenskitruppen überzeugen sollte, die Waffen niederzulegen. Es sollte den Soldaten der Provisorischen Regierung folgende Fragen stellen:

  1. Werden die Soldaten und Kosaken Kerenskis das Zentralexekutivkomitee der Sowjets als Träger der Regierungsgewalt, allein dem Kongreß der Sowjets verantwortlich, anerkennen?
  2. Werden die Soldaten und Kosaken die Dekrete des Zweiten Sowjetkongresses anerkennen?
  3. Werden sie das Land- und das Friedensdekret anerkennen?
  4. Sind sie bereit, die Feindseligkeiten einzustellen und zu ihren Einheiten zurückzukehren?
  5. Erklären sie sich mit der Verhaftung Kerenskis, Krasnows und Sawinkows einverstanden?

Auf der Sitzung des Petrograder Sowjets sagte Sinowjew:

„... Der Feind kann nur durch Kampf zerschlagen werden. Die Gefahr liegt darin, daß wir uns der Täuschung hingeben, der Kampf sei beendet. Es wäre ein Verbrechen, auf einen, wenn auch allgemeinen Versuch zu verzichten, die Kosaken auf unsere Seite zu ziehen.

Alle Versuche werden gemacht, aber andererseits wäre es ebenso ein Verbrechen, die Rotgardisten und Soldaten einzuschläfern mit dem Gedanken, die Delegationen werden schon alles machen. Wenn es gestern in der Stadt ruhig gewesen ist,so ist dies ein Ergebnis des militärischen Sieges, ein Ergebnis dessen, daß wir in der Stadt den Aufstand der Offiziersschüler zerschlagen haben ...

Die Mitteilung, daß ein Waffenstillstand abgeschlossen sei, ist falsch.

Der Stab der Revolution wird zu einem Waffenstillstand bereit sein, wenn die Feinde unschädlich gemacht sind. Heute stellt man uns unter dem Eindruck des Sieges der revolutionären Truppen andere Bedingungen als gestern, da Dan uns vorschlug, die Waffen niederzulegen und Kerenski in die Stadt zu lassen. Der Sozialrevolutionär Rekutnikow hat im Namen des Zentralkomitees der Sozialrevolutionäre sich großmütig bereit erklärt, einige Bolschewiki, die ihnen genehm sind, in die Regierung aufzunehmen. Das ist der Nachhall der Siege in der Nacht. Es gibt Gruppen, die warten ab: wird Kerenski die Revolution schlagen oder die Revolution ihn, und je nach dem Schwanken des Gewichts schaukeln sie hierhin und dorthin. Solange nicht gewiß ist, daß Kerenski geschlagen ist, werden diese Gruppen schwanken.“

In der Stadtduma war die allgemeine Aufmerksamkeit ganz und gar auf die Bildung der neuen Regierung konzentriert.

Der Kadett Schingarjow erklärte, die Stadtverwaltung dürfe sich auf keine Übereinkommen mit den Bolschewiki einlassen ...

„Jedes Übereinkommen mit diesen Irren ist undenkbar, solange sie nicht die Waffen niedergelegt und die Autorität der unabhängigen Gerichtsinstitutionen anerkannt haben.“

Jarzew erklärte im Namen der Gruppe „Jedinstwo“, daß ein Übereinkommen mit den Bolschewiki gleichbedeutend wäre mit dem Sieg der Bolschewiki.

Das Stadtoberhaupt Schrejder erklärte im Namen der Sozialrevolutionäre, daß er gegen ein Übereinkommen mit den Bolschewiki sei.

„— Was die Regierung betrifft, so muß sie vom Willen des Volkes ausgehen, und da der Wille des Volkes in den Kommunalwahlen zum Ausdruck gekommen ist, repräsentiert sich der ganze Volkswille, der eine Regierung schaffen könnte, heute in der Stadtduma.“

Nachdem noch eine ganze Reihe von Rednern zu Wort gekommen waren, unter denen nur die Menschewiki – Internationalisten geneigt waren, das Problem der Zulassung der Bolschewiki in die neue Regierung näher zu behandeln, beschloß die Duma, ihre Vertretung auf der Beratung des Wikshel zu belassen, dabei aber vor allem auf der Wiedereinsetzung der Provisorischen Regierung und auf der Nichtzulassung der Bolschewiki in das neue Kabinett zu bestehen.


3.
Antwort Krasnows an das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution

In Beantwortung Ihres Telegramms über Abschluß eines sofortigen Waffenstillstandes hat sich der Oberbefehlshaber, um kein Bruderblut zu vergießen, mit Verhandlungen und mit der Herstellung normaler Beziehungen zwischen den Truppen der Regierung und den Meuterern einverstanden erklärt; darum schlägt er dem Stab der Meuterergruppe vor, seine Truppen nach Petrograd abzuberufen, nachdem die Linie Ligowo-Pulkowo-Kolpino für neutral erklärt worden ist, und Reitervorhuten der Regierungstruppen zur Sicherung der Ruhe in Zarskoje Selo ungehindert durchzulassen. Die Antwort auf diesen Vorschlag soll durch Parlamentäre bis spätestens acht Uhr morgens überreicht werden.

Der Kommandeur des 3. Reiterkorps
Generalmajor Krasnow


4.
Die Ereignisse in Zarskoje Selo

Am Abend, als sich Kerenski aus Zarskoje Selo zurückzog, veranstalteten einige Priester eine Prozession durch die Straßen der Stadt und forderten die Bevölkerung auf, die rechtmäßige Autorität der Provisorischen Regierung zu unterstützen. Als sich die Kosaken zurückgezogen hatten und die ersten Rotgardisten einmarschierten, heißt es in Berichten von Augenzeugen, hetzten die Priester das Volk gegen die Sowjets auf und sprachen Gebete am Grab Rasputins, das hinter dem Zarenpalast liegt. Einer der Priester, Vater Iwan Kutschurow, wurde von den zur Weißglut gereizten Rotgardisten verhaftet und erschossen ...

In dem Augenblick, als die Rotgardisten in die Stadt einmarschierten, wurde der elektrische Strom abgeschaltet, so daß überall in der Stadt tiefe Finsternis herrschte. Der Direktor des Kraftwerkes, Ljubowitsch, wurde von den Sowjettruppen verhaftet und gefragt, warum er das getan habe. Etwas später fand man ihn in dem Raum, in den er gesperrt worden war, mit einem Schuß in der Schläfe und dem Revolver in der Hand.

Die antibolschewistischen Zeitungen erschienen am nächsten Tag mit der Schlagzeile: Plechanow liegt mit 39 Grad Fieber! Plechanow lebt in Zarskoje Selo und lag krank zu Bett. Rotgardisten kamen zu ihm ins Haus. Sie durchsuchten es nach Waffen und stellten dem alten Mann einige Fragen.

„Welcher Gesellschaftsklasse gehören Sie an?“ fragten sie.

„Ich bin ein Revolutionär“, antwortete Plechanow, „der vierzig Jahre lang sein Leben dem Freiheitskampf gewidmet hat!“

„Das ist ja ganz schön“, sagte der Arbeiter, „aber jetzt haben Sie sich doch an die Bourgeoisie verkauft!“

Die Arbeiter kannten Plechanow, den Pionier der russischen Sozialdemokratie, nicht mehr!


5.
Aufruf der sowjetischen Regierung

Die Truppenteile von Gattschina, die von Kerenski betrogen wurden, haben die Waffen niedergelegt und beschlossen, Kerenski in Haft zu setzen. Der Führer des konterrevolutionären Feldzuges, Kerenski, ist geflohen. Die Armee hat sich in ihrer weitaus überwiegenden Mehrheit für den Beschluß des II. Gesamtrussischen Sowjetkongresses und für die Unterstützung der von ihm geschaffenen Regierung ausgesprochen. Dutzende Delegierte von der Front sind nach Petrograd geeilt, um Zeugnis abzulegen, daß die Armee der Sowjetmacht die Treue hält. Keinerlei Entstellung der Tatsachen, keine Verleumdung und Hetze gegen die revolutionären Arbeiter, Soldaten und Matrosen haben den Feinden des Volkes geholfen. Die Revolution der Arbeiter und Soldaten hat gesiegt.

Das Zentralexekutivkomitee des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten wendet sich an die einzelnen Truppenteile, die noch den konterrevolutionären Putschisten folgen: legt unverzüglich die Waffen nieder, vergießt kein Bruderblut für die Interessen der kleinen Handvoll Gutsbesitzer und Kapitalisten! Jeder neue Tropfen Blut des Volkes wird sich an euch rächen. Das Rußland der Arbeiter, der Soldaten, der Bauern verflucht alle, die auch nur eine Minute länger unter den Fahnen der Volksfeinde bleiben.

Kosaken! Geht auf die Seite des siegreichen Volkes über! Eisenbahner, Post- und Telegrafenangestellte! Unterstützt alle wie ein Mann die neue Macht, die Volksmacht.



Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008