Max Stirner

 

Der Einzige und
sein Eigentum

 

Zweite Abteilung
Ich

4. Der Eigner

B – Mein Verkehr

In der Gesellschaft, der Sozietät, kann höchstens die menschliche Forderung befriedigt werden, indes die egoistische stets zu kurz kommen muß.

Weil es kaum Jemand entgehen kann, daß die Gegenwart für keine Frage einen so lebendigen Anteil zeigt, als für die „soziale“, so hat man auf die Gesellschaft besonders sein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte Interesse weniger leidenschaftlich und verblendet, so würde man über die Gesellschaft nicht so sehr die Einzelnen darin aus den Augen verlieren, und erkennen, daß eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben. Sollte z. B. im jüdischen Volke eine Gesellschaft entstehen, welche einen neuen Glauben über die Erde verbreitete, so dürften diese Apostel doch keine Pharisäer bleiben.

Wie Du bist, so gibst Du Dich, so benimmst Du Dich gegen die Menschen: ein Heuchler als Heuchler, ein Christ als Christ. Darum bestimmt den Charakter einer Gesellschaft der Charakter ihrer Mitglieder: sie sind die Schöpfer derselben. So viel müßte man wenigstens einsehen, wenn man auch den Begriff „Gesellschaft“ selbst nicht prüfen wollte.

Immer fern davon, Sich zur vollen Entwicklung und Geltung kommen zu lassen, haben die Menschen bisher auch ihre Gesellschaften nicht auf Sich gründen, oder vielmehr, sie haben nur „Gesellschaften“ gründen und in Gesellschaften leben können. Es waren die Gesellschaften immer Personen, mächtige Personen, sogenannte „moralische Personen“, d. h. Gespenster, vor welchen der Einzelne den angemessenen Sparren, die Gespensterfurcht, hatte. Als solche Gespenster können sie am füglichsten mit dem Namen „Volk“ und respektive „Völkchen“ bezeichnet werden: das Volk der Erzväter, das Volk der Hellenen usw., endlich das – Menschenvolk, die Menschheit (Anacharsis Cloots schwärmte für die „Nation“ der Menschheit), dann jegliche Unterabteilung dieses „Volkes“, das seine besonderen Gesellschaften haben konnte und mußte, das spanische, französische Volk usw., innerhalb desselben wieder die Stände, die Städte, kurz allerlei Körperschaften, zuletzt in äußerster Zuspitzung das kleine Völkchen der – Familie. Statt zu sagen, die spukende Person aller bisherigen Gesellschaften sei das Volk gewesen, könnten daher auch die beiden Extreme genannt werden, nämlich entweder die „Menschheit“ oder die „Familie“, beide die „naturwüchsigsten Einheiten“. Wir wählen das Wort „Volk“, weil man seine Abstammung mit dem griechischen Polloi, den „Vielen“ oder der „Menge“ zusammengebracht hat, mehr aber noch deshalb, weil die „nationalen Bestrebungen“ heute an der Tagesordnung sind, und weil auch die neuesten Empörer diese trügerische Person noch nicht abgeschüttelt haben, obwohl andererseits die letztere Erwägung dem Ausdruck „Menschheit“ den Vorzug geben müßte, da man von allen Seiten drauf und dran ist, für die „Menschheit“ zu schwärmen.

Also das Volk, – die Menschheit oder die Familie –, haben seither, wie es scheint, Geschichte gespielt: kein egoistisches Interesse sollte in diesen Gesellschaften aufkommen, sondern lediglich allgemeine, nationale oder Volksinteressen, Standesinteressen, Familieninteressen und „allgemein menschliche Interessen“. Wer aber hat die Völker, deren Untergang die Geschichte erzählt, zu Fall gebracht? Wer anders als der Egoist, der seine Befriedigung suchte! Schlich sich einmal ein egoistisches Interesse ein, so war die Gesellschaft „verdorben“ und ging ihrer Auflösung entgegen, wie z. B. das Römertum beweist mit seinem ausgebildeten Privatrecht, oder das Christentum mit der unaufhaltsam hereinbrechenden „vernünftigen Selbstbestimmung“, dem „Selbstbewußtsein“, der „Autonomie des Geistes“ usw.

Das Christenvolk hat zwei Gesellschaften hervorgebracht, deren Dauer mit dem Bestande jenes Volkes ein gleiches Maß behalten wird: es sind dies die Gesellschaften: Staat und Kirche. Können sie ein Verein von Egoisten genannt werden? Verfolgen Wir in ihnen ein egoistisches, persönliches, eigenes, oder verfolgen Wir ein volkstümliches (volkliches, d. h. ein Interesse des Christen-Volkes), nämlich ein staatliches und kirchliches Interesse? Kann und darf Ich in ihnen Ich selbst sein? Darf Ich denken und handeln wie Ich will, darf Ich Mich offenbaren, ausleben, betätigen? Muß Ich nicht die Majestät des Staates, die Heiligkeit der Kirche unangetastet lassen?

Wohl, Ich darf nicht, wie Ich will. Aber werde Ich in irgendeiner Gesellschaft eine so ungemessene Freiheit des Dürfens finden? Allerdings nein! Mithin könnten Wir ja wohl zufrieden sein? Mitnichten! Es ist ein Anderes, ob Ich an einem Ich abpralle, oder an einem Volke, einem Allgemeinen. Dort bin Ich der ebenbürtige Gegner meines Gegners, hier ein verachteter, gebundener, bevormundeter; dort steh’ Ich Mann gegen Mann, hier bin Ich ein Schulbube, der gegen seinen Kameraden nichts ausrichten kann, weil dieser Vater und Mutter zu Hilfe gerufen und sich unter die Schürze verkrochen hat, während Ich als ungezogener Junge ausgescholten werde und nicht „räsonieren“ darf; dort kämpfe Ich gegen einen leibhaftigen Feind, hier gegen die Menschheit, gegen ein Allgemeines, gegen eine „Majestät“, gegen einen Spuk. Mir aber ist keine Majestät, nichts Heiliges eine Schranke, nichts, was Ich zu bewältigen weiß. Nur was Ich nicht bewältigen kann, das beschränkt noch meine Gewalt, und Ich von beschränkter Gewalt bin zeitweilig ein beschränktes Ich, nicht beschränkt durch die Gewalt außer Mir, sondern beschränkt durch die noch mangelnde eigene Gewalt, durch die eigene Ohnmacht. Allein „die Garde stirbt, doch sie ergibt sich nicht!“ Vor Allem nur einen leibhaftigen Gegner!

Mit jedem Gegner wag’ ich’s,
Den ich kann sehen und in’s Auge fassen,
Der, selbst voll Mut, auch mir den Mut entflammt usw.

Viele Privilegien sind freilich mit der Zeit vertilgt worden, allein lediglich um des Gemeinwohls, um des Staates und Staatswohls willen, keineswegs zur Stärkung Meiner. Die Erbuntertänigkeit z. B. wurde nur aufgehoben, damit ein einziger Erbherr, der Herr des Volkes, die monarchische Macht, gestärkt werde: die Erbuntertänigkeit unter dem Einen wurde dadurch noch straffer. Nur zu Gunsten des Monarchen, er heiße: „Fürst“ oder „Gesetz“, sind die Privilegien gefallen. In Frankreich sind die Bürger zwar nicht Erbuntertanen des Königs, dafür aber Erbuntertanen des „Gesetzes“ (der Charte). Unterordnung wurde beibehalten, nur erkannte der christliche Staat, daß der Mensch nicht zweien Herren dienen könne (dem Gutsherrn und dem Fürsten usw.); darum erhielt Einer alle Vorrechte; er kann nun wieder einen über den andern stellen, kann „Hochgestellte“ machen.

Was aber kümmert Mich das Gemeinwohl? Das Gemeinwohl als solches ist nicht mein Wohl, sondern nur die äußerste Spitze der Selbstverleugnung. Das Gemeinwohl kann laut jubeln, während Ich „kuschen“ muß, der Staat glänzen, indes Ich darbe. Worin anders liegt die Torheit der politischen Liberalen, als darin, daß sie das Volk der Regierung entgegensetzen und von Volksrechten sprechen? Da soll denn das Volk mündig sein usw. Als könnte mündig sein, wer keinen Mund hat! Nur der Einzelne vermag mündig zu sein. So wird die ganze Frage der Preßfreiheit auf den Kopf gestellt, wenn sie als ein „Volksrecht“ in Anspruch genommen wird. Sie ist nur ein Recht oder besser die Gewalt des Einzelnen. Hat ein Volk Preßfreiheit, so habe Ich, obwohl mitten in diesem Volke, sie nicht: eine Volksfreiheit ist nicht meine Freiheit, und die Preßfreiheit als Volksfreiheit muß ein gegen Mich gerichtetes Preßgesetz zur Seite haben.

Dies muß überhaupt gegen die heurigen Freiheitsbestrebungen geltend gemacht werden:

Volksfreiheit ist nicht meine Freiheit!

Lassen Wir die Kategorie: Volksfreiheit und Volksrecht gelten, z. B. das Volksrecht, daß Jedermann Waffen tragen darf. Verwirkt man denn nicht ein solches Recht? Sein eigenes Recht kann man nicht verwirken, wohl aber ein Recht, das nicht Mir, sondern dem Volke gehört. Ich kann eingesperrt werden um der Volksfreiheit willen, kann als Sträfling des Waffenrechts verlustig gehen.

Der Liberalismus erscheint als der letzte Versuch einer Schöpfung der Volksfreiheit, einer Freiheit der Gemeinde, der „Gesellschaft“, des Allgemeinen, der Menschheit, der Traum einer mündigen Menschheit, eines mündigen Volkes, einer mündigen Gemeinde, einer mündigen „Gesellschaft“.

Ein Volk kann nicht anders, als auf Kosten des Einzelnen frei sein; denn nicht der Einzelne ist bei dieser Freiheit die Hauptsache, sondern das Volk. Je freier das Volk, desto gebundener der Einzelne: das athenische Volk schuf gerade zur freiesten Zeit den Ostrazismus [1*], verbannte die Atheisten, vergiftete den redlichsten Denker.

Wie rühmt man nicht Sokrates über seine Gewissenhaftigkeit, die ihn dem Rate, aus dem Kerker zu entweichen, widerstehen läßt. Er ist ein Tor, daß er den Athenern ein Recht einräumt, ihn zu verurteilen. Darum geschieht ihm allerdings Recht; warum bleibt er auch mit den Athenern auf gleichem Boden stehen! Warum bricht er nicht mit ihnen? Hätte er gewußt und wissen können, was er war, er hätte solchen Richtern keinen Anspruch, kein Recht eingeräumt. Daß er nicht entfloh, war eben seine Schwachheit, sein Wahn, mit den Athenern noch Gemeinsames zu haben, oder die Meinung, er sei ein Glied, ein bloßes Glied dieses Volkes. Er war aber vielmehr dieses Volk selbst in Person und konnte nur sein eigener Richter sein. Es gab keinen Richter über ihm; wie er selbst denn wirklich einen offenen Richterspruch über sich gefällt und sich des Prytaneums [2*] wert erachtet hatte. Dabei mußte er bleiben, und wie er kein Todesurteil gegen sich ausgesprochen hatte, so auch das der Athener verachten und entfliehen. Aber er ordnete sich unter und erkannte in dem Volke seinen Richter, dünkte sich klein vor der Majestät des Volkes. Daß er sich der Gewalt, welcher er allein unterliegen konnte, als einem „Rechte“ unterwarf, war Verrat an ihm selbst: es war Tugend. Christus, welcher sich angeblich der Macht über seine himmlischen Legionen enthielt, wird dadurch von den Erzählern die gleiche Bedenklichkeit zugeschrieben. Luther tat sehr wohl und klug, sich die Sicherheit seines Wormser Zuges verbriefen zu lassen, und Sokrates hätte wissen sollen, daß die Athener seine Feinde seien, er allein sein Richter. Die Selbsttäuschung von einem „Rechtszustande, Gesetze“ usw. mußte der Einsicht weichen, daß das Verhältnis ein Verhältnis der Gewalt sei.

Mit Rabulisterei [3*] und Intrigen endigte die griechische Freiheit. Warum? Weil die gewöhnlichen Griechen noch viel weniger jene Konsequenz erreichen konnten, die nicht einmal ihr Gedankenheld Sokrates zu ziehen vermochte. Was ist denn Rabulisterei anders, als eine Art, ein Bestehendes auszunutzen, ohne es abzuschaffen? Ich könnte hinzusetzen, „zu eigenem Nutzen“, aber es liegt ja in „Ausnutzung“. Solche Rabulisten sind die Theologen, die Gottes Wort „drehen und deuteln“; was hätten sie zu drehen, wenn das „bestehende“ Gotteswort nicht wäre? So diejenigen Liberalen, die an dem „Bestehenden“ nur rütteln und drehen. Alle sind sie Verdreher gleich jenen Rechtsverdrehern. Sokrates erkannte das Recht, das Gesetz an; die Griechen behielten fortwährend die Autorität des Gesetzes und Rechtes bei. Wollten sie bei dieser Anerkenntnis gleichwohl ihren Nutzen, wollte Jeder den seinigen behaupten, so mußten sie ihn eben in der Rechtsverdrehung oder Intrige suchen. Alcibiades, ein genialer Intrigant, leitet die Periode des atheniensischen „Verfalls“ ein; der Spartaner Lysander und Andere zeigen, daß die Intrige allgemein griechisch geworden. Das griechische Recht, worauf die griechischen Staaten ruhten, mußte von den Egoisten innerhalb dieser Staaten verdreht und untergraben werden, und es gingen die Staaten zu Grunde, damit die Einzelnen frei wurden, das griechische Volk fiel, weil die Einzelnen aus diesem Volke sich weniger machten, als aus sich. Es sind überhaupt alle Staaten, Verfassungen, Kirchen usw. an dem Austritt der Einzelnen untergegangen; denn der Einzelne ist der unversöhnliche Feind jeder Allgemeinheit, jedes Bandes, d. h. jeder Fessel. Dennoch wähnt man bis auf den heutigen Tag, „heilige Bande“ brauche der Mensch, er, der Todfeind jedes „Bandes“. Die Weltgeschichte zeigt, daß noch kein Band unzerrissen blieb, zeigt, daß der Mensch sich unermüdet gegen Bande jeder Art wehrt, und dennoch sinnt man verblendet wieder und wieder auf neue Bande, und meint z. B. bei dem rechten angekommen zu sein, wenn man ihm das Band einer sogenannten freien Verfassung, ein schönes, konstitutionelles Band anlegt: die Ordensbänder, die Bande des Vertrauens zwischen „———“ scheinen nachgerade zwar etwas mürbe geworden zu sein, aber weiter als vom Gängelbande zum Hosen- und Halsbande hat man’s nicht gebracht.

Alles Heilige ist ein Band, eine Fessel.

Alles Heilige wird und muß verdreht werden von Rechtsverdrehern; darum hat unsere Gegenwart in allen Sphären solche Verdreher in Menge. Sie bereiten den Rechtsbruch, die Rechtlosigkeit vor.

Arme Athener, die man der Rabulisterei und Sophistik, armer Alcibiades, den man der Intrige anklagt. Das war ja eben euer Bestes, euer erster Freiheitsschritt. Eure Aeschylus, Herodot usw. wollten nur ein freies griechisches Volk haben; Ihr erst ahndetet etwas von eurer Freiheit.

Ein Volk unterdrückt diejenigen, welche über seine Majestät hinausragen, durch den Ostrazismus gegen die übermächtigen Bürger, durch die Inquisition gegen die Ketzer der Kirche, durch die – Inquisition gegen die Hochverräter im Staate usw.

Denn dem Volke kommt es nur auf seine Selbstbehauptung an; es fordert „patriotische Aufopferung“ von Jedem. Mithin ist ihm Jeder für sich gleichgültig, ein Nichts, und es kann nicht machen, nicht einmal leiden, was der Einzelne und nur dieser machen muß, nämlich seine Verwertung. Ungerecht ist jedes Volk, jeder Staat gegen den Egoisten.

Solange auch nur Eine Institution noch besteht, welche der Einzelne nicht auflösen darf, ist die Eigenheit und Selbstangehörigkeit Meiner noch sehr fern. Wie kann Ich z. B. frei sein, wenn Ich eidlich an eine Konstitution, eine Charte, ein Gesetz Mich binden, meinem Volke „Leib und Seele verschwören“ muß? Wie kann Ich eigen sein, wenn meine Fähigkeiten sich nur so weit entwickeln dürfen, als sie die „Harmonie der Gesellschaft nicht stören“ (Weitling). [69]

Der Untergang der Völker und der Menschheit wird Mich zum Aufgange einladen.

Horch, eben da Ich dies schreibe, fangen die Glocken an zu läuten, um für den morgenden Tag die Feier des tausendjährigen Bestandes unseres lieben Deutschlands einzuklingeln. Läutet, läutet seinen Grabgesang! Ihr klingt ja feierlich genug, als bewegte eure Zunge die Ahnung, daß sie einem Toten das Geleit gebe. Deutsches Volk und deutsche Völker haben eine Geschichte von tausend Jahren hinter sich: welch langes Leben! Geht denn ein zur Ruhe, zum Nimmerauferstehen, auf daß Alle frei werden, die Ihr so lange in Fesseln hieltet. – Tot ist das Volk. – Wohlauf Ich!

O Du mein vielgequältes, deutsches Volk – was war deine Qual? Es war die Qual eines Gedankens, der keinen Leib sich erschaffen kann, die Qual eines spukenden Geistes, der vor jedem Hahnenschrei in nichts zerrinnt und doch nach Erlösung und Erfüllung schmachtet. Auch in Mir hast Du lange gelebt, Du lieber – Gedanke, Du lieber – Spuk. Fast wähnte Ich schon das Wort deiner Erlösung gefunden, für den irrenden Geist Fleisch und Bein entdeckt zu haben: da höre Ich sie läuten, die Glocken, die Dich zur ewigen Ruhe bringen, da verhallt die letzte Hoffnung, da summt die letzte Liebe aus, da scheide Ich aus dem öden Hause der Verstorbenen und kehre ein zu den – Lebendigen:

Denn allein der Lebende hat Recht.

Fahre wohl, Du Traum so vieler Millionen, fahre wohl, Du tausendjährige Tyrannin deiner Kinder!

Morgen trägt man Dich zu Grabe; bald werden deine Schwestern, die Völker, Dir folgen. Sind sie aber alle gefolgt, so ist – die Menschheit begraben, und Ich bin mein eigen, Ich bin der lachende Erbe!

Das Wort „Gesellschaft“ hat seinen Ursprung in dem Worte „Sal“. Schließt Ein Saal viele Menschen ein, so macht’s der Saal, daß diese Menschen in Gesellschaft sind. Sie sind in Gesellschaft und machen höchstens eine Salon-Gesellschaft aus, indem sie in den herkömmlichen Salon-Redensarten sprechen. Wenn es zu wirklichem Verkehr kommt, so ist dieser als von der Gesellschaft unabhängig zu betrachten, der eintreten oder fehlen kann, ohne die Natur dessen, was Gesellschaft heißt, zu alterieren. Eine Gesellschaft sind die im Saale Befindlichen auch als stumme Personen, oder wenn sie sich lediglich in leeren Höflichkeitsphrasen abspeisen. Verkehr ist Gegenseitigkeit, ist die Handlung, das commercium [4*] der Einzelnen; Gesellschaft ist nur Gemeinschaftlichkeit des Saales, und in Gesellschaft befinden sich schon die Statuen eines Museum-Saales, sie sind „gruppiert“. Man pflegt wohl zu sagen: „man habe diesen Saal gemeinschaftlich inne“, es ist aber vielmehr so, daß der Saal Uns inne oder in sich hat. So weit die natürliche Bedeutung des Wortes Gesellschaft. Es stellt sich dabei heraus, daß die Gesellschaft nicht durch Mich und Dich erzeugt wird, sondern durch ein Drittes, welches aus Uns beiden Gesellschafter macht, und daß eben dieses Dritte das Erschaffende, das Gesellschaft Schaffende ist.

Ebenso eine Gefängnis-Gesellschaft oder Gefängnis-Genossenschaft (die dasselbe Gefängnis genießen). Hier geraten Wir schon in ein inhaltreicheres Drittes, als jenes bloß örtliche, der Saal, war. Gefängnis bedeutet nicht mehr nur ein Raum, sondern ein Raum mit ausdrücklicher Beziehung auf seine Bewohner: es ist ja nur dadurch Gefängnis, daß es für Gefangene bestimmt ist, ohne die es eben ein bloßes Gebäude wäre. Wer gibt den in ihm Versammelten ein gemeinsames Gepräge? Offenbar das Gefängnis, da sie nur mittelst des Gefängnisses Gefangene sind. Wer bestimmt also die Lebensweise der Gefängnis-Gesellschaft? Das Gefängnis! Wer bestimmt ihren Verkehr? Etwa auch das Gefängnis? Allerdings können sie nur als Gefangene in Verkehr treten, d. h. nur so weit, als die Gefängnis-Gesetze ihn zulassen; aber daß sie selbst, Ich mit Dir, verkehren, das kann das Gefängnis nicht bewirken, im Gegenteil, es muß darauf bedacht sein, solchen egoistischen, rein persönlichen Verkehr (und nur als solcher ist er wirklich Verkehr zwischen Mir und Dir) zu verhüten. Daß Wir gemeinschaftlich eine Arbeit verrichten, eine Maschine ziehen, überhaupt etwas ins Werk setzen, dafür sorgt ein Gefängnis wohl; aber daß Ich vergesse, Ich sei ein Gefangener, und mit Dir, der gleichfalls davon absieht, einen Verkehr eingehe, das bringt dem Gefängnis Gefahr, und kann von ihm nicht nur nicht gemacht, es darf nicht einmal zugelassen werden. Aus diesem Grunde beschließt die heilige und sittlich gesinnte französische Kammer, die „einsame Zellenhaft“ einzuführen, und andere Heilige werden ein Gleiches tun, um den „demoralisierenden Verkehr“ abzuschneiden. Die Gefangenschaft ist das Bestehende und – Heilige, das zu verletzen kein Versuch gemacht werden darf. Die leiseste Anfechtung der Art ist strafbar, wie jede Auflehnung gegen ein Heiliges, von dem der Mensch befangen und gefangen sein soll.

Wie der Saal, so bildet das Gefängnis wohl eine Gesellschaft, eine Genossenschaft, eine Gemeinschaft (z. B. Gemeinschaft der Arbeit), aber keinen Verkehr, keine Gegenseitigkeit, keinen Verein. Im Gegenteil, jeder Verein im Gefängnisse trägt den gefährlichen Samen eines „Komplotts“ in sich, der unter begünstigenden Umständen aufgehen und Frucht treiben könnte.

Doch das Gefängnis betritt man gewöhnlich nicht freiwillig und bleibt auch selten freiwillig darin, sondern hegt das egoistische Verlangen nach Freiheit. Darum leuchtet es hier eher ein, daß der persönliche Verkehr sich gegen die Gefängnisgesellschaft feindselig verhält und auf die Auflösung eben dieser Gesellschaft, der gemeinschaftlichen Haft, ausgeht.

Sehen Wir Uns deshalb nach solchen Gemeinschaften um, in denen Wir, wie es scheint, gerne und freiwillig bleiben, ohne sie durch Unsere egoistischen Triebe gefährden zu wollen.

Als eine Gemeinschaft der geforderten Art bietet sich zunächst die Familie dar. Eltern, Gatten, Kinder, Geschwister stellen ein Ganzes vor oder machen eine Familie aus, zu deren Erweiterung auch noch die herbeigezogenen Seitenverwandten dienen mögen. Die Familie ist nur dann eine wirkliche Gemeinschaft, wenn das Gesetz der Familie, die Pietät oder Familienliebe, von den Gliedern derselben beobachtet wird. Ein Sohn, welchem Eltern und Geschwister gleichgültig geworden sind, ist Sohn gewesen; denn da die Sohnschaft sich nicht mehr wirksam beweist, so hat sie keine größere Bedeutung, als der längst vergangene Zusammenhang von Mutter und Kind durch den Nabelstrang. Daß man einst in dieser leiblichen Verbindung gelebt, das läßt sich als eine geschehene Sache nicht ungeschehen machen, und insoweit bleibt man unwiderruflich der Sohn dieser Mutter und der Bruder ihrer übrigen Kinder; aber zu einem fortdauernden Zusammenhange käme es nur durch fortdauernde Pietät, diesen Familiengeist. Die Einzelnen sind nur dann im vollen Sinne Glieder einer Familie, wenn sie das Bestehen der Familie zu ihrer Aufgabe machen; nur als konservativ halten sie sich fern davon, an ihrer Basis, der Familie, zu zweifeln. Eines muß jedem Familiengliede fest und heilig sein, nämlich die Familie selbst, oder sprechender: die Pietät. Daß die Familie bestehen soll, das bleibt dem Gliede derselben, solange es sich vom familienfeindlichen Egoismus frei erhält, eine unantastbare Wahrheit. Mit Einem Worte –: Ist die Familie heilig, so darf sich Keiner, der zu ihr gehört, lossagen, widrigenfalls er an der Familie zum „Verbrecher“ wird; er darf niemals ein familienfeindliches Interesse verfolgen, z. B. keine Mißheirat schließen. Wer das tut, der hat „die Familie entehrt“, hat ihr „Schande gemacht“ usw.

Hat nun in einem Einzelnen der egoistische Trieb nicht Kraft genug, so fügt er sich und schließt eine Heirat, welche den Ansprüchen der Familie konveniert, ergreift einen Stand, der mit ihrer Stellung harmoniert u. dergl., kurz er „macht der Familie Ehre.“

Wallt hingegen in seinen Adern das egoistische Blut feurig genug, so zieht er es vor, an der Familie zum „Verbrecher“ zu werden und ihren Gesetzen sich zu entziehen.

Was von beiden liegt Mir näher am Herzen, das Familienwohl oder mein Wohl? In unzähligen Fällen werden beide friedlich miteinander gehen und der Nutzen, welcher der Familie zu Teil wird, zugleich der meinige sein und umgekehrt. Da läßt sich’s schwer entscheiden, ob Ich eigennützig oder gemeinnützig denke, und Ich schmeichle Mir vielleicht wohlgefällig mit meiner Uneigennützigkeit. Aber es kommt der Tag, wo ein Entweder – Oder Mich zittern macht, wo Ich meinen Stammbaum zu entehren, Eltern, Geschwister, Verwandte vor den Kopf zu stoßen im Begriff stehe. Wie dann? Nun wird sich’s zeigen, wie Ich im Grunde meines Herzens gesonnen bin; nun wird’s offenbar werden, ob Mir die Pietät jemals höher gestanden als der Egoismus, nun wird der Eigennützige sich nicht länger hinter den Schein der Uneigennützigkeit verkriechen können. Ein Wunsch steigt in meiner Seele auf, und wachsend von Stunde zu Stunde wird er zur Leidenschaft. Wer denkt auch gleich daran, daß schon der leiseste Gedanke, welcher gegen den Familiengeist, die Pietät, auslaufen kann, ein Vergehen gegen denselben in sich trägt, ja wer ist sich denn im ersten Augenblick sogleich der Sache vollkommen bewußt! Julie in Romeo und Julie ergeht es so. Die unbändige Leidenschaft läßt sich endlich nicht mehr zähmen und untergräbt das Gebäude der Pietät. Freilich werdet Ihr sagen, die Familie werfe aus Eigensinn jene Eigenwilligen, welche ihrer Leidenschaft mehr Gehör schenken als der Pietät, aus ihrem Schoße; die guten Protestanten haben dieselbe Ausrede gegen die Katholiken mit vielem Erfolg gebraucht und selbst daran geglaubt. Allein es ist eben eine Ausflucht, um die Schuld von sich abzuwälzen, nichts weiter. Die Katholiken hielten auf den gemeinsamen Kirchenverband, und stießen jene Ketzer nur von sich, weil dieselben auf den Kirchenverband nicht so viel hielten, um ihre Überzeugungen ihm zu opfern; jene also hielten den Verband fest, weil der Verband, die katholische, d. h. gemeinsame und einige Kirche, ihnen heilig war; diese hingegen setzten den Verband hintan. Ebenso die Pietätslosen. Sie werden nicht ausgestoßen, sondern stoßen sich aus, indem sie ihre Leidenschaft, ihren Eigenwillen höher achten als den Familienverband.

Nun glimmt aber zuweilen ein Wunsch in einem minder leidenschaftlichen und eigenwilligen Herzen, als das der Julie war. Die Nachgiebige bringt sich dem Familienfrieden zum Opfer. Man könnte sagen, auch hier walte der Eigennutz vor, denn der Entschluß komme aus dem Gefühl, daß die Nachgiebige sich mehr durch die Familieneinigkeit befriedigt fühle als durch die Erfüllung ihres Wunsches. Das möchte sein; aber wie, wenn ein sicheres Zeichen übrig bliebe, daß der Egoismus der Pietät geopfert worden? Wie, wenn der Wunsch, welcher gegen den Familienfrieden gerichtet war, auch nachdem er geopfert worden, wenigstens in der Erinnerung eines einem heiligen Bande gebrachten „Opfers“ bliebe? Wie, wenn die Nachgiebige sich bewußt wäre, ihren Eigenwillen unbefriedigt gelassen und einer höhern Macht sich demütig unterworfen zu haben? Unterworfen und geopfert, weil der Aberglaube der Pietät seine Herrschaft an ihr geübt hat!

Dort hat der Egoismus gesiegt, hier siegt die Pietät, und das egoistische Herz blutet; dort war der Egoismus stark, hier war er – schwach. Die Schwachen aber, das wissen Wir längst, das sind die – Uneigennützigen. Für sie, diese ihre schwachen Glieder, sorgt die Familie, weil sie der Familie angehören, Familienangehörige sind, nicht sich angehören und für sich sorgen. Diese Schwachheit lobt z. B. Hegel, wenn er der Wahl der Eltern die Heiratspartie der Kinder anheimgestellt wissen will.

Als einer heiligen Gemeinschaft, welcher der Einzelne auch Gehorsam schuldig ist, kommt der Familie auch die richterliche Funktion zu, wie ein solches „Familiengericht“ z. B. im Cabanis von Wilibald Alexis beschrieben wird. Da steckt der Vater im Namen des „Familienrates“ den unfolgsamen Sohn unter die Soldaten und stößt ihn aus der Familie aus, um mittelst dieses Strafaktes die befleckte Familie wieder zu reinigen. – Die konsequenteste Ausbildung der Familien-Verantwortlichkeit enthält das chinesische Recht, nach welchem für die Schuld des Einzelnen die ganze Familie zu büßen hat.

Heutigen Tages indessen reicht der Arm der Familiengewalt selten weit genug, um den Abtrünnigen ernstlich in Strafe zu nehmen (selbst gegen Enterbung schützt der Staat in den meisten Fällen). Der Verbrecher an der Familie (Familien-Verbrecher) flüchtet in das Gebiet des Staates und ist frei, wie der Staatsverbrecher, der nach Amerika entkommt, von den Strafen seines Staates nicht mehr erreicht wird. Er, der seine Familie geschändet hat, der ungeratene Sohn, wird gegen die Strafe der Familie geschützt, weil der Staat, dieser Schutzherr, der Familienstrafe ihre „Heiligkeit“ benimmt und sie profaniert, indem er dekretiert, sie sei nur – „Rache“: er verhindert die Strafe, dies heilige Familienrecht, weil vor seiner, des Staates, „Heiligkeit“ die untergeordnete Heiligkeit der Familie jedesmal erbleicht und entheiligt wird, sobald sie mit dieser höhern Heiligkeit in Konflikt gerät. Ohne den Konflikt läßt der Staat die kleinere Heiligkeit der Familie gelten; im entgegengesetzten Falle aber gebietet er sogar das Verbrechen gegen die Familie, indem er z. B. dem Sohne aufgibt, seinen Eltern den Gehorsam zu verweigern, sobald sie ihn zu einem Staatsverbrechen verleiten wollen.

Nun, der Egoist hat die Bande der Familie zerbrochen und am Staate einen Schirmherrn gefunden gegen den schwer beleidigten Familiengeist. Wohin aber ist er nun geraten? Geradesweges in eine neue Gesellschaft, worin seines Egoismus dieselben Schlingen und Netze warten, denen er soeben entronnen. Denn der Staat ist gleichfalls eine Gesellschaft, nicht ein Verein, er ist die erweiterte Familie. („Landesvater – Landesmutter – Landeskinder.“)

Was man Staat nennt, ist ein Gewebe und Geflecht von Abhängigkeit und Anhänglichkeit, ist eine Zusammengehörigkeit, ein Zusammenhalten, wobei die Zusammengeordneten sich ineinander schicken, kurz gegenseitig voneinander abhängen: er ist die Ordnung dieser Abhängigkeit. Gesetzt, der König, dessen Autorität Allen bis zum Büttel herunter Autorität verleiht, verschwände, so würden dennoch Alle, in welchen der Ordnungssinn wach wäre, die Ordnung gegen die Unordnung der Bestialität aufrechterhalten. Siegte die Unordnung, so wäre der Staat erloschen.

Ist dieser Liebesgedanke aber, sich ineinander zu schicken, aneinander zu hängen, und voneinander abzuhängen, wirklich fähig, Uns zu gewinnen? Der Staat wäre hiernach die realisierte Liebe, das Füreinandersein und Füreinanderleben Aller. Geht über den Ordnungssinn nicht der Eigensinn verloren? Wird man sich nicht begnügen, wenn durch Gewalt für Ordnung gesorgt ist, d. h. dafür, daß Keiner dem Andern „zu nahe trete“, mithin, wenn die Herde verständig disloziert oder geordnet ist? Es ist ja dann Alles in „bester Ordnung“, und diese beste Ordnung heißt eben – Staat!

Unsere Gesellschaften und Staaten sind, ohne daß Wir sie machen, sind vereinigt ohne unsere Vereinigung, sind prädestiniert und bestehen oder haben einen eigenen, unabhängigen Bestand, sind gegen Uns Egoisten das unauflösliche Bestehende. Der heurige Weltkampf ist, wie man sagt, gegen das „Bestehende“ gerichtet. Man pflegt dies jedoch so zu mißverstehen, als sollte nur, was jetzt besteht, mit anderem, besserem Bestehenden vertauscht werden. Allein der Krieg dürfte vielmehr dem Bestehen selbst erklärt sein, d. h. dem Staate (status), nicht einem bestimmten Staate, nicht etwa nur dem derzeitigen Zustande des Staates; nicht einen andern Staat (etwa „Volksstaat“) bezweckt man, sondern seinen Verein, die Vereinigung, diese stets flüssige Vereinigung allen Bestandes. – Ein Staat ist vorhanden, auch ohne mein Zutun: Ich werde in ihm geboren, erzogen, auf ihn verpflichtet und muß ihm „huldigen“. Er nimmt Mich auf in seine „Huld“, und Ich lebe von seiner „Gnade“. So begründet das selbständige Bestehen des Staates meine Unselbständigkeit, seine „Naturwüchsigkeit“, sein Organismus, fordert, daß meine Natur nicht frei wachse, sondern für ihn zugeschnitten werde. Damit er natürwüchsig sich entfalten könne, legt er an Mich die Schere der „Kultur“; er gibt Mir eine ihm, nicht Mir, angemessene Erziehung und Bildung, und lehrt Mich z. B. die Gesetze respektieren, der Verletzung des Staatseigentums (d. h. Privateigentums) Mich enthalten, eine Hoheit, göttliche und irdische, verehren usw., kurz er lehrt Mich – unsträflich sein, indem Ich meine Eigenheit der „Heiligkeit“ (heilig ist alles Mögliche, z. B. Eigentum, Leben der Andern usw.) „opfere“. Darin besteht die Art der Kultur und Bildung, welche Mir der Staat zu geben vermag: er erzieht Mich zu einem „brauchbaren Werkzeug“, einem „brauchbaren Gliede der Gesellschaft.“

Das muß jeder Staat tun, der Volksstaat so gut wie der absolute oder konstitutionelle. Er muß es tun, so lange Wir in dem Irrtum stecken, er sei ein Ich, als welches er sich denn den Namen einer „moralischen, mystischen oder staatlichen Person“ beilegt. Diese Löwenhaut des Ichs muß Ich, der Ich wirklich Ich bin, dem stolzierenden Distelfresser abziehen. Welchen mannigfachen Raub habe Ich in der Weltgeschichte Mir nicht gefallen lassen. Da ließ Ich Sonne, Mond und Sternen, Katzen und Krokodilen die Ehre widerfahren, als Ich zu gelten; da kam Jehova, Allah und Unser Vater und wurden mit dem Ich beschenkt; da kamen Familien, Stämme, Völker und endlich gar die Menschheit, und wurden als Iche honoriert; da kam der Staat, die Kirche mit der Prätention, Ich zu sein, und Ich sah allem ruhig zu. Was Wunder, wenn dann immer auch ein wirklich Ich dazu trat und Mir ins Gesicht behauptete, es sei nicht mein Du, sondern mein eigenes Ich. Hatte das Gleiche doch der Menschensohn par excellence getan, warum sollte es nicht auch ein Menschensohn tun? So sah Ich denn mein Ich immer über und außer Mir und konnte niemals wirklich zu Mir kommen.

Ich glaubte nie an Mich, glaubte nie an meine Gegenwart und sah Mich nur in der Zukunft. Der Knabe glaubt, er werde erst ein rechtes Ich, ein rechter Kerl sein, wenn er ein Mann geworden; der Mann denkt, erst jenseits werde er etwas Rechtes sein. Und, daß Wir gleich näher auf die Wirklichkeit eingehen, auch die Besten reden’s heute noch einander vor, daß man den Staat, sein Volk, die Menschheit und was weiß Ich Alles in sich aufgenommen haben müsse, um ein wirkliches Ich, ein „freier Bürger“, ein „Staatsbürger“, ein „freier oder wahrer Mensch“ zu sein; auch sie sehen die Wahrheit und Wirklichkeit Meiner in der Aufnahme eines fremden Ichs und der Hingebung an dasselbe. Und was für eines Ichs? Eines Ichs, das weder ein Ich noch ein Du ist, eines eingebildeten Ichs, eines Spuks.

Während im Mittelalter die Kirche es wohl vertragen konnte, daß vielerlei Staaten in ihr vereinigt lebten, so lernten die Staaten nach der Reformation, besonders nach dem dreißigjährigen Kriege, es tolerieren, daß vielerlei Kirchen (Konfessionen) sich unter Einer Krone sammelten. Alle Staaten sind aber religiöse und respektive „christliche Staaten“, und setzen ihre Aufgabe darin, die Unbändigen, die „Egoisten“, unter das Band der Unnatur zu zwingen, d. i. sie zu christianisieren. Alle Anstalten des christlichen Staates haben den Zweck der Christianisierung des Volkes. So hat das Gericht den Zweck, die Leute zur Gerechtigkeit zu zwingen, die Schule den, zur Geistesbildung zu zwingen, kurz den Zweck, den christlich Handelnden gegen den unchristlich Handelnden zu schützen, das christliche Handeln zur Herrschaft zu bringen, mächtig zu machen. Zu diesen Zwangsmitteln rechnete der Staat auch die Kirche, er verlangte eine – bestimmte Religion von Jedem. Dupin sagte jüngst gegen die Geistlichkeit: „Unterricht und Erziehung gehören dem Staate“.

Staatssache ist allerdings alles, was das Prinzip der Sittlichkeit angeht. Daher mischt sich der chinesische Staat so sehr in die Familienangelegenheit, und man ist da nichts, wenn man nicht vor Allem ein gutes Kind seiner Eltern ist. Die Familienangelegenheit ist durchaus auch bei Uns Staatsangelegenheit, nur daß unser Staat in die Familien ohne ängstliche Aufsicht – Vertrauen setzt; durch den Ehebund hält er die Familie gebunden, und ohne ihn kann dieser Bund nicht gelöst werden.

Daß der Staat Mich aber für meine Prinzipien verantwortlich macht und gewisse von Mir fordert, das könnte Mich fragen lassen: Was geht ihn mein „Sparren“ (Prinzip) an? Sehr viel, denn er ist das – herrschende Prinzip. Man meint, in der Ehescheidungssache, überhaupt im Eherechte, handle sich’s um das Maß von Recht zwischen Kirche und Staat. Vielmehr handelt sich’s darum, ob ein Heiliges über den Menschen herrschen solle, heiße dies nun Glaube oder Sittengesetz (Sittlichkeit). Der Staat beträgt sich als derselbe Herrscher wie die Kirche es tat. Diese ruht auf Frömmigkeit, jener auf Sittlichkeit.

Man spricht von der Toleranz, dem Freilassen der entgegengesetzten Richtungen u. dgl., wodurch die zivilisierten Staaten sich auszeichnen. Allerdings sind einige stark genug, um selbst den ungebundensten Meetings zuzusehen, indes andere ihren Schergen auftragen, auf Tabakspfeifen Jagd zu machen. Allein für einen Staat wie für den anderen ist das Spiel der Individuen untereinander, ihr Hin- und Hersummen, ihr tägliches Leben, eine Zufälligkeit, die er wohl ihnen selbst überlassen muß, weil er damit nichts anfangen kann. Manche seigen freilich noch Mücken und verschlucken Kamele, während andere gescheiter sind. In den letzteren sind die Individuen „freier“, weil weniger geschuhriegelt. Frei aber bin Ich in keinem Staate. Die gerühmte Toleranz der Staaten ist eben nur ein Tolerieren des „Unschädlichen“, „Ungefährlichen“, ist nur Erhebung über den Kleinlichkeitssinn, nur eine achtungswertere, großartigere, stolzere – Despotie. Ein gewisser Staat schien eine Zeit lang ziemlich erhaben über die literarischen Kämpfe sein zu wollen, die mit aller Hitze geführt werden durften; England ist erhaben über das Volksgewühl und – Tabakrauchen. Aber wehe der Literatur, die dem Staate selbst an den Leib geht, wehe den Volksrottierungen, die den Staat „gefährden“. In jenem gewissen Staate träumt man von einer „freien Wissenschaft“, in England von einem „freien Volksleben“.

Der Staat läßt die Individuen wohl möglichst frei spielen, nur Ernst dürfen sie nicht machen, dürfen ihn nicht vergessen. Der Mensch darf nicht unbekümmert mit dem Menschen verkehren, nicht ohne „höhere Aufsicht und Vermittlung“. Ich darf nicht Alles leisten, was Ich vermag, sondern nur so viel, als der Staat erlaubt, Ich darf nicht meine Gedanken verwerten, nicht meine Arbeit, überhaupt nichts Meiniges.

Der Staat hat immer nur den Zweck, den Einzelnen zu beschränken, zu bändigen, zu subordinieren, ihn irgend einem Allgemeinen untertan zu machen; er dauert nur so lange, als der Einzelne nicht Alles in Allem ist, und ist nur die deutlich ausgeprägte Beschränktheit Meiner, meine Beschränkung, meine Sklaverei. Niemals zielt ein Staat dahin, die freie Tätigkeit der Einzelnen herbeizuführen, sondern stets die an den Staatszweck gebundene. Durch den Staat kommt auch nichts Gemeinsames zu Stande, so wenig als man ein Gewebe die gemeinsame Arbeit aller einzelnen Teile einer Maschine nennen kann: es ist vielmehr die Arbeit der ganzen Maschine als einer Einheit, ist Maschinenarbeit. In derselben Art geschieht auch Alles durch die Staatsmaschine; denn sie bewegt das Räderwerk der einzelnen Geister, deren keiner seinem eigenen Antriebe folgt. Jede freie Tätigkeit sucht der Staat durch seine Zensur, seine Überwachung, seine Polizei zu hemmen, und hält diese Hemmung für seine Pflicht, weil sie in Wahrheit Pflicht der Selbsterhaltung ist. Der Staat will aus den Menschen etwas machen, darum leben in ihm nur gemachte Menschen; jeder, der Er Selbst sein will, ist sein Gegner und ist nichts. „Er ist nichts“ heißt so viel, als: der Staat verwendet ihn nicht, überläßt ihm keine Stellung, kein Amt, kein Gewerbe u. dergl.

E. Bauer [70] träumt in den liberalen Bestrebungen II., 50 noch von einer „Regierung, welche aus dem Volke hervorgehend, nie gegen dasselbe in Opposition stehen könne“. [71] Zwar nimmt er (S. 69) das Wort „Regierung“ selbst zurück: „In der Republik gilt gar keine Regierung, sondern nur eine ausführende Gewalt. Eine Gewalt, welche rein und allein aus dem Volke hervorgeht, welche nicht dem Volke gegenüber eine selbständige Macht, selbständige Prinzipien, selbständige Beamten hat, sondern welche in der einzigen, obersten Staatsgewalt, in dem Volke ihre Begründung, die Quelle ihrer Macht und ihrer Prinzipien hat. Der Begriff Regierung paßt also gar nicht in den Volksstaat.“ Allein die Sache bleibt dieselbe. Das „Hervorgegangene, Begründete, Entquollene“ wird ein „Selbständiges“ und tritt, wie ein Kind aus dem Mutterleibe entbunden, gleich in Opposition. Die Regierung, wäre sie nichts Selbständiges und Opponierendes, wäre gar nichts.

„Im freien Staate gibt es keine Regierung usw.“ (S. 94.) Dies will doch sagen, das Volk, wenn es der Souverän ist, läßt sich nicht leiten von einer oberen Gewalt. Ist’s etwa in der absoluten Monarchie anders? Gibt es da etwa für den Souverän eine über ihm stehende Regierung? Über dem Souverän, er heiße Fürst oder Volk, steht nie eine Regierung, das versteht sich von selbst. Aber über Mir wird in jedem „Staate“ eine Regierung stehen, sowohl im absoluten als im republikanischen oder „freien“. Ich bin in Einem so schlimm daran, wie im Andern.

Die Republik ist gar nichts anderes, als die – absolute Monarchie: denn es verschlägt nichts, ob der Monarch Fürst oder Volk heiße, da beide eine „Majestät“ sind. Gerade der Konstitutionalismus beweist, daß Niemand nur Werkzeug sein kann und mag. Die Minister dominieren über ihren Herrn, den Fürsten, die Deputierten über ihren Herrn, das Volk. Es sind also hier wenigstens schon die Parteien frei, nämlich die Beamtenpartei (sogenannte Volkspartei). Der Fürst muß sich in den Willen der Minister fügen, das Volk nach der Pfeife der Kammern tanzen. Der Konstitutionalismus ist weiter als die Republik, weil er der in der Auflösung begriffene Staat ist.

E. Bauer leugnet (S. 56), daß das Volk im konstitutionellen Staate eine „Persönlichkeit“ sei; dagegen also in der Republik? Nun, im konstitutionellen Staate ist das Volk – Partei, und eine Partei ist doch wohl eine „Persönlichkeit“, wenn man einmal von einer „staatlichen“ (S. 76) moralischen Person überhaupt sprechen will. Die Sache ist die, daß eine moralische Person, heiße sie Volkspartei oder Volk oder auch „der Herr“, in keiner Weise eine Person ist, sondern ein Spuk.

Ferner fährt E. Bauer fort (S. 69): „die Bevormundung ist das Charakteristische einer Regierung.“ Wahrlich noch mehr das eines Volkes und „Volksstaates“; sie ist das Charakteristische aller Herrschaft. Ein Volksstaat, der „alle Machtvollkommenheit in sich vereinigt“, der „absolute Herr“, kann Mich nicht mächtig werden lassen. Und welche Chimäre, die „Volksbeamten“ nicht mehr „Diener, Werkzeuge“ nennen zu wollen, weil sie den „freien, vernünftigen Gesetzeswillen des Volkes ausführen“ (S. 73). Er meint (S. 74): „Nur dadurch, daß alle Beamtenkreise sich den Ansichten der Regierung unterordnen, kann Einheit in den Staat gebracht werden;“ sein Volksstaat soll aber auch „Einheit“ haben; wie wird da die Unterordnung fehlen dürfen, die Unterordnung unter den – Volkswillen.

„Im konstitutionellen Staate ist es der Regent und seine Gesinnung, worauf am Ende das ganze Regierungsgebäude beruht.“ (Ebendaselbst S. 130.) Wie wäre das anders im „Volksstaate“? Werde Ich da nicht auch von der Volks-Gesinnung regiert und macht es für Mich einen Unterschied, ob Ich Mich in Abhängigkeit gehalten sehe von der Fürsten-Gesinnung oder von der Volks-Gesinnung, der sogenannten „öffentlichen Meinung“? Heißt Abhängigkeit so viel als „religiöses Verhältnis“, wie E. Bauer richtig aufstellt, so bleibt im Volksstaate für Mich das Volk die höhere Macht, die „Majestät“ (denn in der „Majestät“ haben Gott und Fürst ihr eigentliches Wesen), zu der Ich im religiösen Verhältnis stehe. – Wie der souveräne Regent, so würde auch das souveräne Volk von keinem Gesetze erreicht werden. Der ganze E. Bauersche Versuch läuft auf einen Herren-Wechsel hinauS.  Statt das Volk frei machen zu wollen, hätte er auf die einzig realisierbare Freiheit, auf die seinige, bedacht sein sollen.

Im konstitutionellen Staate ist endlich der Absolutismus selbst in Kampf mit sich gekommen, da er in eine Zweiheit zersprengt wurde: es will die Regierung absolut sein, und das Volk will absolut sein. Diese beiden Absoluten werden sich aneinander aufreiben.

E. Bauer eifert dagegen, daß der Regent durch die Geburt, durch den Zufall gegeben sei. Wenn nun aber „das Volk die einzige Macht im Staate“ (S. 132) geworden sein wird, haben Wir dann nicht an ihm einen Herrn aus Zufall? Was ist denn das Volk? Das Volk ist immer nur der Leib der Regierung gewesen: es sind Viele unter Einem Hute (Fürstenhut) oder Viele unter Einer Verfassung. Und die Verfassung ist der – Fürst. Fürsten und Völker werden so lange bestehen, als nicht beide zusammenfallen. Sind unter Einer Verfassung mancherlei „Völker“, z. B. in der altpersischen Monarchie und heute, so gelten diese „Völker“ nur als „Provinzen“. Für Mich ist jedenfalls das Volk eine – zufällige Macht, eine Natur-Gewalt, ein Feind, den Ich besiegen muß.

Was hat man unter einem „organisierten“ Volke sich vorzustellen (ebendaselbst S. 132)? Ein Volk, „das keine Regierung mehr hat“, das sich selbst regiert. Also worin kein Ich hervorragt, ein durch den Ostrazismus organisiertes Volk. Die Verbannung der Iche, der Ostrazismus, macht das Volk zum Selbstherrscher.

Sprecht Ihr vom Volke, so müßt Ihr vom Fürsten reden; denn das Volk, soll es Subjekt sein und Geschichte machen, muß, wie alles Handelnde, ein Haupt haben, sein „Oberhaupt“. Weitling stellt dies im „Trio“ dar [72], und Proudhon äußert: une société, pour ainsi dire acéphale, ne peut vivre. [73] [5*]

Die vox populi [6*] wird Uns jetzt immer vorgehalten, und die „öffentliche Meinung“ soll über die Fürsten herrschen. Gewiß ist die vox populi zugleich vox dei [7*], aber sind sie beide etwas nutz, und ist die vox principis [8*] nicht auch vox dei?

Es mag hierbei an die „Nationalen“ erinnert werden. Von den achtunddreißig Staaten Deutschlands verlangen, daß sie als Eine Nation handeln sollen, kann nur dem unsinnigen Begehren an die Seite gestellt werden, daß achtunddreißig Bienenschwärme, geführt von achtunddreißig Bienenköniginnen, sich zu Einem Schwarme vereinigen sollen. Bienen bleiben sie alle; aber nicht die Bienen als Bienen gehören zusammen und können sich zusammentun, sondern nur die untertänigen Bienen sind mit den herrschenden Weiseln [9*] verbunden. Bienen und Völker sind willenlos, und es führt sie der Instinkt ihrer Weisel.

Verwiese man die Bienen auf ihr Bienentum, worin sie doch Alle einander gleich seien, so täte man dasselbe, was man jetzt so stürmisch tut, indem man die Deutschen auf ihr Deutschtum verweist. Das Deutschtum gleicht ja eben darin ganz dem Bienentum, daß es die Notwendigkeit der Spaltungen und Separationen in sich trägt, ohne gleichwohl bis zur letzten Separation vorzudringen, wo mit der vollständigen Durchführung des Separierens das Ende desselben erscheint: Ich meine, bis zur Separation des Menschen vom Menschen. Das Deutschtum trennt sich zwar in verschiedene Völker und Stämme, d. h. Bienenkörbe, aber der Einzelne, welcher die Eigenschaft hat, ein Deutscher zu sein, ist noch so machtlos, wie die vereinzelte Biene. Und doch können nur Einzelne miteinander in Verein treten, und alle Völker-Allianzen und Bünde sind und bleiben mechanische Zusammensetzungen, weil die Zusammentretenden, soweit wenigstens die „Völker“ als die Zusammengetretenen angesehen werden, willenlos sind. Erst mit der letzten Separation endigt die Separation selbst und schlägt in Vereinigung um.

Nun bemühen sich die Nationalen, die abstrakte, leblose Einheit des Bienentums herzustellen; die Eigenen aber werden um die eigen gewollte Einheit, den Verein, kämpfen. Es ist dies das Wahrzeichen aller reaktionären Wünsche, daß sie etwas Allgemeines, Abstraktes, einen leeren, leblosen Begriff herstellen wollen, wogegen die Eigenen das stämmige, lebenvolle Einzelne vom Wust der Allgemeinheiten zu entlasten trachten. Die Reaktionären möchten gerne ein Volk, eine Nation aus der Erde stampfen; die Eigenen haben nur Sich vor Augen. Im Wesentlichen fallen die beiden Bestrebungen, welche heute an der Tagesordnung sind, nämlich die Wiederherstellung der Provinzialrechte, der alten Stammeseinteilungen (Franken, Bayern usw., Lausitz usw.) und die Wiederherstellung der Gesamt-Nationalität in Eins zusammen. Die Deutschen werden aber nur dann einig werden, d. h. sich vereinigen, wenn sie ihr Bienentum sowohl als alle Bienenkörbe umstoßen; mit andern Worten: wenn sie mehr sind als – Deutsche; erst dann können sie einen „Deutschen Verein“ bilden. Nicht in ihre Nationalität, nicht in den Mutterleib müssen sie zurückkehren wollen, um wiedergeboren zu werden, sondern in sich kehre Jeder ein. Wie lächerlich-sentimental, wenn ein Deutscher dem andern den Handschlag gibt und mit heiligem Schauer die Hand drückt, weil „auch er ein Deutscher ist“! Damit ist er was Rechtes! Aber das wird freilich so lange noch für rührend gelten, als man für „Brüderlichkeit“ schwärmt, d. h. als man eine „Familiengesinnung“ hat. Vom Aberglauben der „Pietät“, von der „Brüderlichkeit“ oder „Kindlichkeit“, oder wie die weichmütigen Pietäts-Phrasen sonst lauten, vom Familiengeiste vermögen die Nationalen, die eine große Familie von Deutschen haben wollen, sich nicht zu befreien.

Übrigens müßten sich die sogenannten Nationalen nur selbst recht verstehen, um sich aus der Verbindung mit den gemütlichen Deutschtümlern zu erheben. Denn die Vereinigung zu materiellen Zwecken und Interessen, welche sie von den Deutschen fordern, geht ja auf nichts Anderes, als einen freiwilligen Verein hinauS.  Carriere ruft begeistert aus: „Die Eisenbahnen sind dem tieferblickenden Auge der Weg zu einem Volksleben, wie es in solcher Bedeutung noch nirgends erschienen ist.“ [74] Ganz recht, es wird ein Volksleben sein, das nirgends erschienen ist, weil es kein – Volksleben ist. – So bestreitet denn Carriere S. 10 sich selbst. „Die reine Menschlichkeit oder Menschheit kann nicht besser, als durch ein seine Mission erfüllendes Volk dargestellt werden“. Dadurch stellt sich ja nur die Volkstümlichkeit dar. „Die verschwommene Allgemeinheit ist niedriger, als die in sich geschlossene Gestalt, die ein Ganzes selber ist, und als lebendiges Glied des wahrhaft Allgemeinen, des Organisierten, lebt“. Es ist ja eben das Volk die „verschwommene Allgemeinheit“, und ein Mensch erst die „in sich geschlossene Gestalt“.

Das Unpersönliche dessen, was man „Volk, Nation“ nennt, leuchtet auch daraus ein, daß ein Volk, welches sein Ich nach besten Kräften zur Erscheinung bringen will, den willenlosen Herrscher an seine Spitze stellt. Es befindet sich in der Alternative, entweder einem Fürsten unterworfen zu sein, der nur sich, sein individuelles Belieben verwirklicht – dann erkennt es an dem „absoluten Herrn“ nicht den eigenen, den sogenannten Volkswillen –, oder einen Fürsten auf den Thron zu setzen, der keinen eigenen Willen geltend macht – dann hat es einen willenlosen Fürsten, dessen Stelle ein wohlberechnetes Uhrwerk vielleicht ebenso gut versähe –. Deshalb darf die Einsicht nur einen Schritt weiter gehen, so ergibt sich von selber, daß das Volks-Ich eine unpersönliche, „geistige“ Macht sei, das – Gesetz. Das Ich des Volkes, dies folgt daraus, ist ein – Spuk, nicht ein Ich. Ich bin nur dadurch Ich, daß Ich Mich mache, d. h. daß nicht ein Anderer Mich macht, sondern Ich mein eigen Werk sein muß. Wie aber ist es mit jenem Volks-Ich? Der Zufall spielt es dem Volke in die Hand, der Zufall gibt ihm diesen oder jenen gebornen Herrn, Zufälligkeiten verschaffen ihm den gewählten; er ist nicht sein, des „souveränen“ Volkes, Produkt, wie Ich mein Produkt bin. Denke Dir, man wollte Dir einreden, Du wärest nicht dein Ich, sondern Hans oder Kunz wäre dein Ich! So aber geht’s dem Volke, und ihm mit Recht. Denn das Volk hat so wenig ein Ich, als die elf Planeten zusammengerechnet ein Ich haben, obwohl sie sich um einen gemeinsamen Mittelpunkt wälzen.

Bezeichnend ist die Äußerung Baillys für die Sklavengesinnung, welche man vor dem souveränen Volke, wie vor dem Fürsten hat. „Ich habe, sagt er, keine Extravernunft mehr, wenn die allgemeine Vernunft sich ausgesprochen. Mein erstes Gesetz war der Wille der Nation: sobald sie sich versammelt hatte, habe ich nichts weiter gekannt, als ihren souveränen Willen.“ [75] Er will keine „Extravernunft“ haben, und doch leistet allein diese Extravernunft Alles. Ebenso eifert Mirabeau in den Worten: „Keine Macht auf Erden hat das Recht, zu den Repräsentanten der Nation zu sagen: Ich will!“ [76]

Wie bei den Griechen möchte man den Menschen jetzt zu einem zoon politikon machen, einem Staatsbürger oder politischen Menschen. So galt er lange Zeit als „Himmelsbürger“. Der Grieche wurde aber mit seinem Staate zugleich entwürdigt, der Himmelsbürger wird es mit dem Himmel; Wir hingegen wollen nicht mit dem Volke, der Nation und Nationalität zugleich untergehen, wollen nicht bloß politische Menschen oder Politiker sein. „Volksbeglückung“ strebt man seit der Revolution an, und indem man das Volk glücklich, groß u. dergl. macht, macht man Uns unglücklich: Volksglück ist – mein Unglück.

Welch’ leeres Gerede die politischen Liberalen mit emphatischem Anstande machen, das sieht man wieder recht in Nauwerk’s Über die Teilnahme am Staate. Da wird über die Gleichgültigen und Teilnahmlosen geklagt, die nicht im vollen Sinne Staatsbürger seien, und der Verfasser spricht so, als könne man gar nicht Mensch sein, wenn man sich nicht lebendig am Staatswesen beteilige, d. h. wenn man nicht Politiker sei. Darin hat er Recht; denn wenn der Staat für den Hüter alles „Menschlichen“ gilt, so können Wir nichts Menschliches haben, ohne an ihm Teil zu nehmen. Was ist aber damit gegen den Egoisten gesagt? Gar nichts, weil der Egoist sich selbst der Hüter des Menschlichen ist und mit dem Staate nur die Worte spricht: Geh’ Mir aus der Sonne. Nur wenn der Staat mit seiner Eigenheit in Berührung kommt, nimmt der Egoist ein tätiges Interesse an ihm. Wenn den Stubengelehrten der Zustand des Staates nicht drückt, soll er sich mit ihm befassen, weil es seine „heiligste Pflicht“ ist? Solange der Staat es ihm nach Wunsche macht, was braucht er da von seinen Studien aufzusehen? Mögen doch diejenigen, welche die Zustände aus eigenem Interesse anders haben wollen, sich damit beschäftigen. Die „heilige Pflicht“ wird nun und nimmermehr die Leute dazu bringen, über den Staat nachzudenken, so wenig als sie aus „heiliger Pflicht“ Jünger der Wissenschaft, Künstler usw. werden. Der Egoismus allein kann sie dazu antreiben, und er wird es, sobald es viel schlechter geworden ist. Zeigtet Ihr den Leuten, daß ihr Egoismus die Beschäftigung mit dem Staatswesen fordere, so würdet Ihr sie nicht lange aufzurufen haben; appelliert Ihr hingegen an ihre Vaterlandsliebe u. dergl., so werdet Ihr lange zu diesem „Liebesdienste“ tauben Herzen predigen. Freilich, in eurem Sinne werden sich die Egoisten überhaupt nicht am Staatswesen beteiligen.

Eine echt liberale Phrase bringt Nauwerk, S. 16: „Der Mensch erfüllt erst damit vollständig seinen Beruf, daß er sich als Mitglied der Menschheit fühlt und weiß, und als solches wirksam ist. Der Einzelne kann die Idee des Menschentums nicht verwirklichen, wenn er sich nicht auf die ganze Menschheit stützt, nicht aus ihr wie Antäos seine Kräfte schöpft.

Ebendaselbst heißt es: „Die Beziehung des Menschen zur res publica wird von der theologischen Ansicht zur reinen Privatsache herabgewürdigt, wird somit hinweg geleugnet.“ [77] Als ob die politische Ansicht es mit der Religion anders machte! Da ist die Religion eine „Privatsache“.

Wenn statt der „heiligen Pflicht“, der „Bestimmung des Menschen“, des „Berufes zum vollen Menschentum“ und ähnlicher Gebote den Leuten vorgehalten würde, daß ihr Eigennutz verkümmert werde, wenn sie im Staate Alles gehen lassen, wie’s geht, so würden sie ohne Tiraden so angeredet, wie man sie im entscheidenden Augenblicke wird anreden müssen, wenn man seinen Zweck erreichen will. Stattdessen sagt der theologenfeindliche Verfasser: „Wenn irgendeine Zeit, so ist es auch die unsrige, in welcher der Staat auf alle die Seinigen Ansprüche macht. – Der denkende Mensch erblickt in der Beteiligung an der Theorie und Praxis des Staates eine Pflicht, eine der heiligsten Pflichten, welche ihm obliegen“ – und zieht dann die „unbedingte Notwendigkeit, daß Jedermann sich am Staate beteilige“ [78], näher in Betrachtung.

Politiker ist und bleibt in alle Ewigkeit der, welchem der Staat im Kopfe oder im Herzen oder in beiden sitzt, der vom Staate Besessene oder der Staatsgläubige.

„Der Staat ist das notwendigste Mittel für die vollständige Entwicklung der Menschheit.“ [79] Er ist’s allerdings gewesen, solange Wir die Menschheit entwickeln wollten; wenn Wir aber Uns werden entwickeln wollen, kann er Uns nur ein Hemmungsmittel sein.

Kann man jetzt noch Staat und Volk reformieren und bessern? So wenig als den Adel, die Geistlichkeit, die Kirche usw.: man kann sie aufheben, vernichten, abschaffen, nicht reformieren. Kann Ich denn einen Unsinn durch Reformieren in Sinn verwandeln, oder muß [Ich] ihn geradezu fallen lassen?

Es ist fortan nicht mehr um den Staat (die Staatsverfassung usw.) zu tun, sondern um Mich. Damit versinken alle Fragen über Fürstenmacht, Konstitution usw. in ihren wahren Abgrund und ihr wahres Nichts. Ich, dieses Nichts, werde meine Schöpfungen aus Mir hervortreiben.

Zu dem Kapitel der Gesellschaft gehört auch „die Partei“, deren Lob man jüngst gesungen hat.

Im Staate gilt die Partei. „Partei, Partei, wer sollte sie nicht nehmen!“ Der Einzelne aber ist einzig, kein Glied der Partei. Er vereinigt sich frei und trennt sich wieder frei. Die Partei ist nichts als ein Staat im Staate, und in diesem kleineren Bienenstaate soll dann ebenso wieder „Friede“ herrschen, wie im größeren. Gerade diejenigen, welche am lautesten rufen, daß im Staate eine Opposition sein müsse, eifern gegen jede Uneinigkeit der Partei. Ein Beweis, wie auch sie nur einen – Staat wollen. Nicht am Staate, sondern am Einzigen zerscheitern alle Parteien.

Nichts hört man jetzt häufiger als die Ermahnung, seiner Partei treu zu bleiben, nichts verachten Parteimenschen so sehr als einen Parteigänger. Man muß mit seiner Partei durch dick und dünn laufen und ihre Hauptgrundsätze unbedingt gutheißen und vertreten. Ganz so schlimm wie mit geschlossenen Gesellschaften steht es zwar hier nicht, weil jene ihre Mitglieder an feste Gesetze oder Statuten binden (z. B. die Orden, die Gesellschaft Jesu usw.). Aber die Partei hört doch in demselben Augenblicke auf, Verein zu sein, wo sie gewisse Prinzipien bindend macht und sie vor Angriffen gesichert wissen will; dieser Augenblick ist aber gerade der Geburtsakt der Partei. Sie ist als Partei schon eine geborne Gesellschaft, ein toter Verein, eine fix gewordene Idee. Als Partei des Absolutismus kann sie nicht wollen, daß ihre Mitglieder an der unumstößlichen Wahrheit dieses Prinzipes zweifeln; sie könnten diesen Zweifel nur hegen, wenn sie egoistisch genug wären, noch etwas außer ihrer Partei sein zu wollen, d. h. unparteiische. Unparteiisch vermögen sie nicht als Parteimenschen zu sein, sondern nur als Egoisten. Bist Du Protestant und gehörst zu dieser Partei, so darfst Du den Protestantismus nur rechtfertigen, allenfalls „reinigen“, nicht verwerfen; bist Du Christ und gehörst unter den Menschen zur christlichen Partei, so kannst Du nicht als Mitglied dieser Partei, sondern nur dann, wenn Dich dein Egoismus, d. h. Unparteilichkeit, dazu treibt, darüber hinausgehen. Welche Anstrengungen haben die Christen bis auf Hegel und die Kommunisten herab gemacht, um ihre Partei stark zu machen; sie blieben dabei, daß das Christentum die ewige Wahrheit enthalten müsse, und man sie nur herauszufinden, festzustellen und zu rechtfertigen brauche.

Kurz die Partei verträgt nicht die Unparteilichkeit, und in dieser eben erscheint der EgoismuS.  Was schiert Mich die Partei. Ich werde doch genug finden, die sich mit Mir vereinigen, ohne zu meiner Fahne zu schwören.

Wer von einer Partei zur andern übertritt, den schimpft man sofort einen „Überläufer“. Freilich fordert die Sittlichkeit, daß man zu seiner Partei halte, und ihr abtrünnig werden, heißt sich mit dem Makel der „Untreue“ beflecken; allein die Eigenheit kennt kein Gebot der „Treue, Anhänglichkeit usw.“, die Eigenheit erlaubt Alles, auch die Abtrünnigkeit, den Übertritt. Unbewußt lassen sich auch selbst die Sittlichen von diesem Grundsatze leiten, wenn es gilt, einen zu ihrer Partei Übertretenden zu beurteilen, ja sie machen wohl Proselyten [10*]; sie sollten nur zugleich sich darüber ein Bewußtsein verschaffen, daß man unsittlich handeln müsse, um eigen zu handeln, d. h. hier, daß man die Treue brechen müsse, ja selbst seinen Eid, um sich selbst zu bestimmen, statt von sittlichen Rücksichten bestimmt zu werden. In den Augen der Leute von streng sittlichem Urteil schillert ein Apostat [11*] stets in zweideutigen Farben, und wird nicht leicht ihr Vertrauen erwerben: ihm klebt ja der Flecken der „Untreue“ an, d. h. einer Unsittlichkeit. Bei dem niederen Manne findet man diese Ansicht fast allgemein; die Aufgeklärten geraten, wie immer, auch hier in eine Unsicherheit und Verwirrung, und der in dem Prinzipe der Sittlichkeit notwendig begründete Widerspruch kommt ihnen wegen der Konfusion ihrer Begriffe nicht zum deutlichen Bewußtsein. Den Apostaten geradehin unsittlich zu nennen, getrauen sie sich nicht, weil sie selbst zur Apostasie [12*], zum Übertritt von einer Religion zur andern usw. verleiten, und den Standpunkt der Sittlichkeit vermögen sie doch auch nicht aufzugeben. Und doch wäre hier die Gelegenheit zu ergreifen, um aus der Sittlichkeit hinauszuschreiten.

Sind etwa die Eignen oder Einzigen eine Partei? Wie könnten sie Eigne sein, wenn sie die Angehörigen einer Partei wären!

Oder soll man es mit keiner Partei halten? Eben indem man sich ihnen anschließt und in ihren Kreis eintritt, knüpft man einen Verein mit ihnen, der so weit dauert, als Partei und Ich ein und dasselbe Ziel verfolgen. Aber heute teile Ich noch die Tendenz der Partei und morgen schon kann Ich es nicht mehr und werde ihr „untreu“. Die Partei hat nichts Bindendes (Verpflichtendes) für Mich und Ich respektiere sie nicht; gefällt sie Mir nicht mehr, so feinde Ich sie an.

In jeder Partei, welche auf sich und ihr Bestehen hält, sind die Mitglieder in dem Grade unfrei oder besser uneigen, sie ermangeln in dem Grade des Egoismus, als sie jenem Begehren der Partei dienen. Die Selbständigkeit der Partei bedingt die Unselbständigkeit der Parteiglieder.

Eine Partei kann, welcher Art sie auch sei, niemals ein Glaubensbekenntnis entbehren. Denn an das Prinzip der Partei müssen ihre Angehörigen glauben, es muß von ihnen nicht in Zweifel gezogen oder in Frage gestellt werden, es muß das Gewisse, Unzweifelhafte für das Parteiglied sein. Das heißt: Man muß einer Partei mit Leib und Seele gehören, sonst ist man nicht wahrhaft Parteimann, sondern mehr oder minder – Egoist. Hege einen Zweifel am Christentum und Du bist schon kein wahrer Christ mehr, hast Dich zu der „Frechheit“ erhoben, darüber hinaus eine Frage zu stellen und das Christentum vor deinen egoistischen Richterstuhl zu ziehen. Du hast Dich am Christentum, dieser Parteisache (denn z. B. Sache der Juden, einer andern Partei, ist sie doch nicht) – versündigt. Aber wohl Dir, wenn Du Dich nicht schrecken lässest: deine Frechheit verhilft Dir zur Eigenheit.

So könnte ein Egoist also niemals Partei ergreifen oder Partei nehmen? Doch, nur kann er sich nicht von der Partei ergreifen und einnehmen lassen. Die Partei bleibt für ihn allezeit nichts als eine Partie: er ist von der Partie, er nimmt teil.

Der beste Staat wird offenbar derjenige sein, welcher die loyalsten Bürger hat, und je mehr der ergebene Sinn für Gesetzlichkeit sich verliert, umso mehr wird der Staat[,] dieses System der Sittlichkeit, dieses sittliche Leben selbst, an Kraft und Güte geschmälert werden. Mit den „guten Bürgern“ verkommt auch der gute Staat und löst sich in Anarchie und Gesetzlosigkeit auf. „Achtung vor dem Gesetze!“ Durch diesen Kitt wird das Staatsganze zusammengehalten. „Das Gesetz ist heilig, und wer daran frevelt, ein Verbrecher.“ Ohne Verbrechen kein Staat: die sittliche Welt – und das ist der Staat – steckt voll Schelme, Betrüger, Lügner, Diebe usw. Da der Staat die „Herrschaft des Gesetzes“, die Hierarchie desselben ist, so kann der Egoist in allen Fällen, wo sein Nutzen gegen den des Staates läuft, nur im Wege des Verbrechens sich befriedigen.

Der Staat kann den Anspruch nicht aufgeben, daß seine Gesetze und Anordnungen heilig seien. Dabei gilt dann der Einzelne gerade so für den Unheiligen (Barbaren, natürlichen Menschen, „Egoisten“) gegenüber dem Staate, wie er von der Kirche einst betrachtet wurde; vor dem Einzelnen nimmt der Staat den Nimbus eines Heiligen an. So erläßt er ein Duellgesetz. Zwei Menschen, die beide darüber einig sind, daß sie ihr Leben für eine Sache (gleichviel welche) einsetzen wollen, sollen dies nicht dürfen, weil’s der Staat nicht haben will: er setzt eine Strafe darauf. Wo bleibt da die Freiheit der Selbstbestimmung? Ganz anders verhält es sich schon, wann, wie z. B. in Nordamerika, sich die Gesellschaft dazu bestimmt, die Duellanten gewisse üble Folgen ihrer Tat tragen zu lassen, z. B. Entziehung des bisher genossenen Kredits. Den Kredit zu verweigern, das ist Jedermanns Sache, und wenn eine Sozietät ihn aus diesem oder jenem Grunde entziehen will, so kann sich der Betroffene deshalb nicht über Beeinträchtigung seiner Freiheit beklagen: die Sozietät macht eben nur ihre eigene Freiheit geltend. Das ist keine Sündenstrafe, keine Strafe für ein Verbrechen. Das Duell ist da kein Verbrechen, sondern nur eine Tat, wider welche die Sozietät Gegenmaßregeln ergreift, eine Abwehr statuiert. Der Staat hingegen stempelt das Duell zu einem Verbrechen, d. h. zu einer Verletzung seines heiligen Gesetzes: er macht es zu einem Kriminalfall. Überläßt jene Sozietät es dem Beschlusse des Einzelnen, ob er sich üble Folgen und Ungelegenheiten durch seine Handlungsweise zuziehen wolle, und erkennt sie hierdurch seinen freien Entschluß an, so verfährt der Staat gerade umgekehrt, indem er dem Entschlusse des Einzelnen alles Recht abspricht, und dafür dem eigenen Beschlusse, dem Staatsgesetze, das alleinige Recht zuerkennt, so daß, wer gegen das Gebot des Staates sich vergeht, so angesehen wird, als handle er wider Gottes Gebot; eine Ansicht, welche gleichfalls von der Kirche eingehalten wurde. Gott ist da der Heilige an und für sich, und die Gebote der Kirche wie des Staates sind die Gebote dieses Heiligen, die er der Welt durch seine Gesalbten und Gottesgnaden-Herrn zustellt. Hatte die Kirche Todsünden, so hat der Staat todeswürdige Verbrechen, hatte sie Ketzer, so hat er Hochverräter, jene Kirchenstrafen, er Kriminalstrafen, jene inquisitorische Prozesse, er fiskalische, kurz dort Sünden, hier Verbrechen, dort Sünder, hier Verbrecher, dort Inquisition und hier – Inquisition. Wird die Heiligkeit des Staats nicht gleich der kirchlichen fallen? Der Schauer seiner Gesetze, die Ehrfurcht vor seiner Hoheit, die Demut seiner „Untertanen“, wird dies bleiben? Wird das „Heiligengesicht“ nicht verunziert werden?

Welch’ eine Torheit, von der Staatsgewalt zu verlangen, daß sie mit dem Einzelnen einen ehrlichen Kampf eingehen und, wie man bei der Preßfreiheit sich ausdrückt, Sonne und Wind gleich teilen solle. Wenn der Staat, dieser Gedanke, eine geltende Macht sein soll, so muß er eben eine höhere Macht gegen den Einzelnen sein. Der Staat ist „heilig“ und darf sich den „frechen Angriffen“ der Einzelnen nicht aussetzen. Ist der Staat heilig, so muß Zensur sein. Die politischen Liberalen geben das erstere zu und bestreiten die Konsequenz. Jedenfalls aber räumen sie ihm die Repressivmaßregeln ein, denn – sie bleiben dabei, daß Staat mehr sei als der Einzelne und eine berechtigte Rache ausübe, Strafe genannt.

Strafe hat nur dann einen Sinn, wenn sie die Sühne für die Verletzung eines Heiligen gewähren soll. Ist Einem etwas heilig, so verdient er allerdings, wo er es anfeindet, Strafe. Ein Mensch, der ein Menschenleben bestehen läßt, weil es ihm heilig ist, und er eine Scheu vor seiner Antastung trägt, ist eben ein – religiöser Mensch.

Weitling legt die Verbrechen der „gesellschaftlichen Unordnung“ zur Last und lebt der Erwartung, daß unter kommunistischen Einrichtungen die Verbrechen unmöglich werden, weil die Versuchungen zu denselben, z. B. das Geld, wegfallen. Da indes seine organisierte Gesellschaft auch zur heiligen und unverletzlichen erhoben wird, so verrechnet er sich bei jener gutherzigen Meinung. Solche, die sich mit dem Munde zur kommunistischen Gesellschaft bekenneten, unter der Hand hingegen an ihrem Ruin arbeiteten, würden nicht fehlen. Bei „Heilmitteln gegen den natürlichen Rest menschlicher Krankheiten und Schwächen“ muß Weitling ohnehin verbleiben [80], und „Heilmittel“ kündigen immer schon an, daß man die Einzelnen als zu einem bestimmten „Heil berufen“ ansehen, mithin sie nach Maßgabe dieses „menschlichen Berufes“ behandeln werde. Das Heilmittel oder die Heilung ist nur die Kehrseite der Strafe, die Heiltheorie läuft parallel mit der Straftheorie; sieht diese in einer Handlung eine Versündigung gegen das Recht, so nimmt jene sie für eine Versündigung des Menschen gegen sich, als einen Abfall von seiner Gesundheit. Das Richtige aber ist, daß Ich sie entweder als eine ansehe, die Mir recht oder Mir nicht recht ist, als Mir feindlich oder freundlich, d. h. daß Ich sie als Mein Eigentum behandle, welches Ich pflege oder zertrümmere. „Verbrechen“ oder „Krankheit“ ist beides keine egoistische Ansicht der Sache, d. h. keine Beurteilung von Mir aus, sondern von einem Andern aus, ob sie nämlich entweder das Recht, das allgemeine, oder die Gesundheit teils des Einzelnen (des Kranken), teils des Allgemeinen (der Gesellschaft) verletzt. Das „Verbrechen“ wird mit Unerbittlichkeit behandelt, die „Krankheit“ mit „liebreicher Milde, Mitleid“ u. dergl.

Dem Verbrechen folgt die Strafe. Fällt das Verbrechen, weil das Heilige verschwindet, so muß nicht minder die Strafe in dessen Fall hineingezogen werden; denn auch sie hat nur einem Heiligen gegenüber Bedeutung. Man hat die Kirchenstrafen abgeschafft. Warum? Weil, wie Jemand sich gegen den „heiligen Gott“ benehme, Jedermanns eigene Sache sei. Wie aber diese eine Strafe, die Kirchenstrafe, gefallen ist, so müssen alle Strafen fallen. Wie die Sünde gegen den sogenannten Gott des Menschen eigene Sache ist, so die gegen jede Art des sogenannten Heiligen. Nach unsern Strafrechtstheorien, mit deren „zeitgemäßer Verbesserung“ man sich vergeblich abquält, will man die Menschen für diese oder jene „Unmenschlichkeit“ strafen und macht dabei das Alberne dieser Theorien durch ihre Konsequenz besonders deutlich, indem man die kleinen Diebe hängt und die großen laufen läßt. Für Eigentumsverletzung hat man das Zuchthaus, und für „Gedankenzwang“, Unterdrückung „natürlicher Menschenrechte“, nur – Vorstellungen und Bitten.

Der Kriminalkodex hat nur durch das Heilige Bestand und verkommt von selbst, wenn man die Strafe aufgibt. Allerwärts will man gegenwärtig ein neues Strafgesetz schaffen, ohne sich über die Strafe selbst ein Bedenken zu machen. Gerade die Strafe aber muß der Genugtuung den Platz räumen, die wiederum nicht darauf abzielen kann, dem Rechte oder der Gerechtigkeit genug zu tun, sondern Uns ein Genüge zu verschaffen. Tut Uns Einer, was Wir Uns nicht gefallen lassen wollen, so brechen Wir seine Gewalt und bringen die Unsere zur Geltung: Wir befriedigen Uns an ihm und verfallen nicht in die Torheit, das Recht (den Spuk) befriedigen zu wollen. Nicht das Heilige soll sich gegen den Menschen wehren, sondern der Mensch gegen den Menschen, so wie ja auch nicht mehr Gott sich gegen den Menschen wehrt, dem sonst und zum Teil freilich noch jetzt alle „Diener Gottes“ die Hand boten, um den Lästerer zu strafen, wie sie eben heute noch dem Heiligen ihre Hand leihen. Jene Hingebung an das Heilige bewirkt denn auch, daß man, ohne lebendigen, eigenen Anteil, die Übeltäter nur in die Hände der Polizei und Gerichte liefert: ein teilnahmsloses Überantworten an die Obrigkeit, „die ja das Heilige aufs Beste verwalten wird“. Das Volk ist ganz toll darauf, gegen Alles die Polizei zu hetzen, was ihm unsittlich, oft nur unanständig zu sein scheint, und diese Volkswut für das Sittliche beschützt mehr das Polizeiinstitut, als die Regierung es nur irgend schützen könnte.

Im Verbrechen hat sich seither der Egoist behauptet und das Heilige verspottet: der Bruch mit dem Heiligen, oder vielmehr des Heiligen kann allgemein werden. Eine Revolution kehrt nicht wieder, aber ein gewaltiges, rücksichtsloses, schamloses, gewissenloses, stolzes – Verbrechen, grollt es nicht in fernen Donnern, und siehst Du nicht, wie der Himmel ahnungsvoll schweigt und sich trübt?

Wer sich weigert, seine Kräfte für so beengte Gesellschaften, wie Familie, Partei, Nation zu verwenden, der sehnt sich immer noch nach einer würdigeren Gesellschaft und meint etwa in der „menschlichen Gesellschaft“ oder der „Menschheit“ das wahre Liebesobjekt gefunden zu haben, dem sich zu opfern seine Ehre ausmache: von nun an „lebt und dient er der Menschheit“.

Volk heißt der Körper, Staat der Geist jener herrschenden Person, die seither Mich unterdrückt hat. Man hat Völker und Staaten dadurch verklären wollen, daß man sie zur „Menschheit“ und „allgemeinen Vernunft“ erweiterte; allein die Knechtschaft würde bei dieser Ausweitung nur noch intensiver werden, und die Philanthropen und Humanen sind so absolute Herrn als die Politiker und Diplomaten.

Neuere Kritiker eifern gegen die Religion, weil sie Gott, das Göttliche, Sittliche usw. außer dem Menschen setze oder zu etwas Objektivem mache, wogegen sie eben diese Subjekte vielmehr in den Menschen verlegen. Allein in den eigentlichen Fehler der Religion, dem Menschen eine „Bestimmung“ zu geben, verfallen jene Kritiker nicht minder, indem auch sie ihn göttlich, menschlich u. dgl. wissen wollen: Sittlichkeit, Freiheit und Humanität usw. sei sein Wesen. Und wie die Religion, so wollte auch die Politik den Menschen „erziehen“, ihn zur Verwirklichung seines „Wesens“, seiner „Bestimmung“ bringen, etwas aus ihm machen, nämlich einen „wahren Menschen“, die eine in der Form des „wahren Gläubigen“, die andere in der des „wahren Bürgers oder Untertanen“. In der Tat kommt es auf Eins hinaus, ob man die Bestimmung das Göttliche oder Menschliche nennt.

Unter Religion und Politik befindet sich der Mensch auf dem Standpunkte des Sollens: er soll dies und das werden, soll so und so sein. Mit diesem Postulat, diesem Gebote tritt nicht nur Jeder vor den Andern hin, sondern auch vor sich selbst. Jene Kritiker sagen: Du sollst ein ganzer, ein freier Mensch sein. So stehen auch sie in der Versuchung, eine neue Religion zu proklamieren, ein neues Absolutes, ein Ideal aufzustellen, nämlich die Freiheit. Die Menschen sollen frei werden. Da könnten selbst Missionäre der Freiheit erstehen, wie das Christentum in der Überzeugung, daß Alle eigentlich dazu bestimmt seien, Christen zu werden, Missionäre des Glaubens aussandte. Die Freiheit würde dann, wie bisher der Glaube als Kirche, die Sinnlichkeit als Staat, so als eine neue Gemeinde sich konstituieren und von ihr aus eine gleiche „Propaganda“ betreiben. Allerdings läßt sich gegen ein Zusammentreten kein Einwand aufbringen; um so mehr aber muß man jeder Erneuerung der alten Fürsorge, der Heranbildung, kurz dem Prinzipe, aus Uns etwas zu machen, gleichviel ob Christen, Untertanen oder Freie und Menschen, entgegentreten.

Wohl kann man mit Feuerbach und Andern sagen, daß die Religion das Menschliche aus dem Menschen hinausgerückt und in ein Jenseits so verlegt habe, daß es dort unerreichbar als ein für sich Persönliches, als ein „Gott“ sein eigenes Dasein führte; allein der Irrtum der Religion ist damit keineswegs erschöpft. Man könnte sehr wohl die Persönlichkeit des entrückten Menschlichen fallen lassen, könnte den Gott ins Göttliche verwandeln, und man bliebe dennoch religiöS.  Denn das Religiöse besteht in der Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Menschen, d. h. in der Aufstellung einer zu erstrebenden „Vollkommenheit“, in dem „nach seiner Vollendung ringenden Menschen“. [81] („Darum sollt Ihr vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist“. Matth. V, 48.): es besteht in der Fixierung eines Ideals, eines Absoluten. Die Vollkommenheit ist das „höchste Gut“, der finis bonorum; das Ideal eines Jeden ist der vollkommene Mensch, der wahre, der freie Mensch usw.

Die Bestrebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal des „freien Menschen“ aufzustellen. Könnte man’s finden, gäb’s eine neue – Religion, weil ein neues Ideal, gäbe ein neues Sehnen, ein neues Abquälen, eine neue Andacht, eine neue Gottheit, eine neue Zerknirschung.

Mit dem Ideal der „absoluten Freiheit“ wird dasselbe Unwesen getrieben, wie mit allem Absoluten, und nach Heß z. B. soll sie „in der absoluten menschlichen Gesellschaft realisierbar sein“. [82] Ja diese Verwirklichung wird gleich nachher ein „Beruf“ genannt; ebenso bestimmt er dann die Freiheit als „Sittlichkeit“: es soll das Reich der „Gerechtigkeit“ (d. i. Gleichheit) und „Sittlichkeit“ (d. i. Freiheit) beginnen usw.

Lächerlich ist, wer, während Genossen seines Stammes, Familie, Nation usw. viel gelten, – nichts ist als „aufgebläht“ über der Genossen Verdienst; verblendet aber auch derjenige, der nur „Mensch“ sein will. Keiner von ihnen setzt seinen Wert in die Ausschließlichkeit, sondern in die Verbundenheit oder in das „Band“, welches ihn mit Andern zusammenschließt, in die Blutsbande, Nationalbande, Menschheitsbande.

Durch die heurigen „Nationalen“ ist der Streit wieder rege geworden zwischen denen, welche bloß menschliches Blut und menschliche Blutsbande zu haben meinen, und den andern, welche auf ihr spezielles Blut und die speziellen Blutsbande pochen.

Sehen Wir davon ab, daß Stolz eine Überschätzung ausdrücken könnte, und nehmen Wir’s allein für Bewußtsein, so findet sich ein ungeheurer Abstand zwischen dem Stolze darauf, einer Nation „anzugehören“, also ihr Eigentum zu sein, und dem, eine Nationalität sein Eigentum zu nennen. Die Nationalität ist meine Eigenschaft, die Nation aber meine Eignerin und Herrin. Hast Du Körperstärke, so kannst Du sie geeigneten Ortes anwenden und auf sie ein Selbstgefühl oder Stolz haben; hat hingegen dein starker Körper Dich, so juckt er Dich überall und am ungeeignetsten Orte, seine Stärke zu zeigen: Du kannst Keinem die Hand geben, ohne sie ihm zu drücken.

Die Einsicht, daß man mehr als Familienglied, mehr als Stammesgenosse, mehr als Volksindividuum usw. sei, hat endlich dahin geführt zu sagen: man ist mehr als alles dies, weil man Mensch ist, oder: der Mensch ist mehr als der Jude, Deutsche usw. „Darum sei Jeder ganz und allein – Mensch!“ Konnte man nicht lieber sagen: Weil Wir mehr als das Angegebene sind, darum wollen Wir sowohl dies als auch jenes „mehr“ sein? Also Mensch und Deutscher, Mensch und ein Welfe usw.? Die Nationalen haben Recht; man kann seine Nationalität nicht verleugnen, und die Humanen haben Recht: man muß nicht in der Borniertheit des Nationalen bleiben. In der Einzigkeit löst sich der Widerspruch: das Nationale ist meine Eigenschaft. Ich aber gehe nicht in meiner Eigenschaft auf, wie auch das Menschliche meine Eigenschaft ist, Ich aber dem Menschen erst durch meine Einzigkeit Existenz gebe.

Die Geschichte sucht den Menschen: er ist aber Ich, Du, Wir. Gesucht als ein mysteriöses Wesen, als das Göttliche, erst als der Gott, dann als der Mensch (die Menschlichkeit, Humanität und Menschheit), wird er gefunden als der Einzelne, der Endliche, der Einzige.

Ich bin Eigner der Menschheit, bin die Menschheit und tue nichts für das Wohl einer andern Menschheit. Tor, der Du eine einzige Menschheit bist, daß Du Dich aufspreizest, für eine andere, als Du selbst bist, leben zu wollen.

Das bisher betrachtete Verhältnis Meiner zur Menschenwelt bietet einen solchen Reichtum an Erscheinungen dar, daß es bei anderen Gelegenheiten wieder und wieder aufgenommen, hier aber, wo es nur im Großen anschaulich gemacht werden sollte, abgebrochen werden muß, um einer Auffassung zweier andern Seiten, nach denen hin es ausstrahlt, Platz zu machen. Da Ich Mich nämlich nicht bloß zu den Menschen, soweit sie den Begriff „Mensch“ in sich darstellen oder Menschenkinder sind (Kinder des Menschen, wie von Kindern Gottes geredet wird), in Beziehung finde, sondern auch zu dem, was sie von dem Menschen haben und ihr Eigenes nennen, also Mich nicht allein auf das, was sie durch den Menschen sind, sondern auch auf ihre menschliche Habe beziehe: so wird außer der Menschenwelt auch die Sinnen- und Ideenwelt in den Kreis der Besprechung zu ziehen und sowohl von dem, was die Menschen an sinnlichen, als dem, was sie an geistigen Gütern ihr eigen nennen, einiges zu sagen sein.

Je nachdem man den Begriff des Menschen entwickelt und sich vorstellig gemacht hatte, gab man Uns denselben als diese oder jene Respektsperson zu achten, und aus dem weitesten Verständnis dieses Begriffes ging endlich das Gebot hervor: „in Jedem den Menschen zu respektieren“. Respektiere Ich aber den Menschen, so muß mein Respekt sich gleichfalls auf das Menschliche oder das, was des Menschen ist, erstrecken.

Es haben die Menschen Eigenes, und Ich soll dies Eigene anerkennen und heilig halten. Ihr Eigenes besteht teils in äußerlicher, teils in innerlicher Habe. Jenes sind Dinge, dieses Geistigkeiten, Gedanken, Überzeugungen, edle Gefühle usw. Aber immer nur die rechtliche oder menschliche Habe soll Ich respektieren; die unrechtliche und unmenschliche brauche Ich nicht zu schonen, denn der Menschen wirklich Eigenes ist nur das Eigene des Menschen. Innerliche Habe dieser Art ist z. B. die Religion; weil die Religion frei, d. h. des Menschen ist, darum darf Ich sie nicht antasten. Ebenso ist eine innerliche Habe die Ehre; sie ist frei und darf von Mir nicht angetastet werden. (Injurienklage, Karikaturen usw.) Religion und Ehre sind „geistiges Eigentum“. Im dinglichen Eigentum steht obenan die Person: meine Person ist mein erstes Eigentum. Daher Freiheit der Person; aber nur die rechtliche oder menschliche Person ist frei, die andere wird eingesperrt. Dein Leben ist Dein Eigentum; es ist aber den Menschen nur heilig, wenn es nicht das eines Unmenschen ist.

Was der Mensch als solcher an körperlichen Gütern nicht behaupten kann, dürfen Wir ihm nehmen: dies der Sinn der Konkurrenz, der Gewerbefreiheit. Was er an geistigen Gütern nicht behaupten kann, verfällt Uns gleichfalls: so weit geht die Freiheit der Diskussion, der Wissenschaft, der Kritik.

Aber unantastbar sind die geheiligten Güter. Geheiligt und garantiert durch wen? Zunächst durch den Staat, die Gesellschaft, eigentlich aber durch den Menschen oder den „Begriff“, den „Begriff der Sache“: denn der Begriff der geheiligten Güter ist der, daß sie wahrhaft menschliche seien, oder vielmehr, daß sie der Inhaber als Mensch und nicht als Unmensch besitze.

Geistigerseits ist ein solches Gut der Glaube des Menschen, seine Ehre, sein sittliches, ja sein Anstands-, Schamgefühl usw. Ehrenrührige Handlungen (Reden, Schriften) sind strafbar; Angriffe auf „den Grund aller Religion“; Angriffe auf den politischen Glauben, kurz Angriffe auf Alles, was ein Mensch „mit Recht“ hat.

Wie weit der kritische Liberalismus die Heiligkeit der Güter ausdehnen würde, darüber hat er noch keinen Ausspruch getan und wähnt auch wohl, aller Heiligkeit abhold zu sein; allein da er gegen den Egoismus ankämpft, so muß er diesem Schranken setzen und darf den Unmenschen nicht über das Menschliche herfallen lassen. Seiner theoretischen Verachtung der „Masse“ müßte, wenn er die Gewalt gewönne, eine praktische Zurückweisung entsprechen.

Welche Ausdehnung der Begriff „Mensch“ erhalte, und was durch ihn dem einzelnen Menschen zukomme, was also der Mensch und das Menschliche sei, darüber liegen die verschiedenen Stufen des Liberalismus auseinander, und der politische, der soziale, der humane Mensch nehmen, der eine immer mehr als der andere, für „den Menschen“ in Anspruch. Wer diesen Begriff am besten gefaßt hat, der weiß am besten, was „des Menschen“ ist. Der Staat faßt diesen Begriff noch in politischer, die Gesellschaft in sozialer Beschränktheit, die Menschheit erst, so heißt es, erfaßt ihn ganz oder „die Geschichte der Menschheit entwickelt ihn“. Ist aber „der Mensch gefunden“, dann kennen Wir auch das dem Menschen Eigene, das Eigentum des Menschen, das Menschliche.

Mag aber der einzelne Mensch darum, weil ihn der Mensch oder der Begriff Mensch, d. h. weil ihn sein Menschsein dazu „berechtigt“, auf noch so viel Rechte Anspruch machen: was kümmert Mich sein Recht und sein Anspruch? Hat er sein Recht nur von dem Menschen und hat er’s nicht von Mir, so hat er für Mich kein Recht. Sein Leben z. B. gilt Mir nur, was Mir’s wert ist. Ich respektiere weder sein sogenanntes Eigentumsrecht oder sein Recht auf dingliche Güter, noch auch sein Recht auf das „Heiligtum seines Innern“, oder sein Recht darauf, daß die geistigen Güter und Göttlichkeiten, seine Götter, ungekränkt bleiben. Seine Güter, die sinnlichen wie die geistigen, sind mein und Ich schalte damit als Eigentümer nach dem Maße meiner – Gewalt.

Anmerkungen

69. [Kein wörtliches oder sinngemäßes Zitat; s. Wilhelm Weitling: Garantien der Harmonie und Freiheit. Vivis 1842, S. 113 ff.]

70. Vom Nachfolgenden gilt, was in der Schlußanmerkung hinter dem humanen Liberalismus gesagt wurde, daß es nämlich ebenfalls gleich nach dem Erscheinen des angeführten Buches niedergeschrieben wurde.

71. [Edgar Bauer: Die liberalen Bestrebungen in Deutschland. Heft 1–2. Zürich und Winterthur 1843.]

72. [Wilhelm Weitling: Garantien der Harmonie und Freiheit. Vivis 1842, S. 151 f.]

73. De la Création de l’Ordre dans l’Humanité ou Principes d’Organisation politique. Paris, Besançon 1843, S. 485.

74. Moriz Carriere: Der Kölner Dom als freie deutsche Kirche. Gedanken über Nationalität, Kunst und Religion beim Wiederbeginn des Baues. Stuttgart 1843, S. 3–4.

75. [Edgar Bauer: Bailly und die ersten Tage der Französischen Revolution, Charlottenburg 1843. S.  25. (Denkwürdigkeiten zur Geschichte der neueren Zeit seit der Französischen Revolution. Nach den Quellen und Original-Memoiren bearbeitet von Bruno Bauer und Edgar Bauer.)]

76. [S. 99.]

77. [Karl Nauwerck: Über die Teilnahme am Staate. Leipzig 1844.]

78. [S. 5.]

79. [Kein Zitat Nauwercks.]

80. [Wilhelm Weitling: Garantien der Harmonie und Freiheit. Vivis 1842, S. 191.]

81. Bruno Bauer (anonym): Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik? In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Monatsschrift, Hrsg. von Bruno Bauer, Heft 8, Charlottenburg Juli 1844, S. 22.

82. Moses Heß (anonym): Sozialismus und Kommunismus, In: Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Hrsg. von Georg Herwegh, Zürich und Winterthur 1843, S. 89–90. [s. Heß: Philosophie der Tat, Ebenda, S. 329 bis 331.]

Fußnoten
(der Redaktion)

1*. Scherbengericht [korrekt: ostrakismós]

2*. Versammlungshaus der Prytanen [Prytane: Mitglied der in altgriechischen Staaten regierenden Behörde]

3*. Wortverdrehung, Haarspalterei

4*. das Handeln

5*. Eine sozusagen kopflose Gesellschaft ist nicht lebensfähig.

6*. Stimme des Volkes

7*. Stimme Gottes

8*. Stimme des Herrschers

9*. Bienenkönigin

10*. griechisch, Hinzugekommener; Fremdling; zum Judentum Übergetretener

11*. griechisch, Abtrünniger

12*. griechisch, Abfall


Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2017