J.W. Stalin

 

Über die Grundlagen des Leninismus

 

III
Die Theorie

Aus diesem Thema greife ich drei Fragen heraus:

  1. die Bedeutung der Theorie für die proletarische Bewegung;
  2. die Kritik der „Theorie“ der Spontaneität;
  3. die Theorie der proletarischen Revolution.
     

1. Die Bedeutung der Theorie. Manche glauben, der Leninismus sei das Primat der Praxis über die Theorie in dem Sinne, dass das Wesentliche in ihm die Umsetzung der marxistischen Grundsätze in die Tat, die „Ausführung“ dieser Grundsätze sei, was dagegen die Theorie anbelangt, so sei der Leninismus in dieser Hinsicht ziemlich unbekümmert. Es ist bekannt, dass Plechanow sich mehr als einmal über die „Unbekümmertheit“ Lenins bezüglich der Theorie und besonders der Philosophie lustig machte. Es ist auch bekannt, dass viele unter den heutigen praktisch tätigen Leninisten der Theorie nicht sehr gewogen sind, besonders angesichts der Unmasse praktischer Arbeit, die die Umstände ihnen aufzwingen. Ich muss erklären, dass diese mehr als sonderbare Meinung über Lenin und den Leninismus ganz falsch ist und in keiner Weise der Wirklichkeit entspricht, dass das Bestreben der Praktiker, sich über die Theorie hinwegzusetzen, dem ganzen Geiste des Leninismus widerspricht und große Gefahren für unsere Sache in sich birgt.

Die Theorie ist die Erfahrung der Arbeiterbewegung aller Länder, in ihrer allgemeinen Form genommen. Natürlich wird die Theorie gegenstandslos, wenn sie nicht mit der revolutionären Praxis verknüpft wird, genauso wie die Praxis blind wird, wenn sie ihren Weg nicht durch die revolutionäre Theorie beleuchtet. Aber die Theorie kann zu einer gewaltigen Kraft der Arbeiterbewegung werden, wenn sie sich in untrennbarer Verbindung mit der revolutionären Praxis herausbildet, denn sie, und nur sie, kann der Bewegung Sicherheit, Orientierungsvermögen und Verständnis für den inneren Zusammenhang der sich rings um sie abspielenden Ereignisse verleihen, denn sie, und nur sie, kann der Praxis helfen zu erkennen, nicht nur wie und wohin sich die Klassen in der Gegenwart bewegen, sondern auch, wie und wohin sie sich in der nächsten Zukunft werden bewegen müssen. Kein anderer als Lenin prägte und wiederholte Dutzende Male den bekannten Leitsatz:

„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.5, S.341 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.I, S.194].)

Lenin verstand besser als jeder andere die große Bedeutung der Theorie, besonders für eine Partei wie die unsrige, angesichts der ihr zugefallenen Rolle, Vorkämpfer des internationalen Proletariats zu sein, und angesichts der komplizierten inneren und internationalen Lage, in der sie sich befindet. Lenin sah diese besondere Rolle unserer Partei bereits im Jahre 1902 voraus und hielt es schon damals für notwendig, darauf hinzuweisen, dass

„die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird“ (ebenda, S.342, russ. [S.195, deutsch]).

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass jetzt, wo die Voraussage Lenins über die Rolle unserer Partei bereits zur Wirklichkeit geworden ist, dieser Leitsatz Lenins besondere Kraft und Bedeutung gewinnt.

Als den prägnantesten Ausdruck der hohen Bedeutung, die Lenin der Theorie beimaß, sollte man vielleicht die Tatsache betrachten, dass kein anderer als Lenin die Lösung der überaus ernsten Aufgabe in Angriff nahm, das Wichtigste von dem, was die Wissenschaft in der Periode von Engels bis Lenin gezeitigt hatte, auf dem Gebiet der materialistischen Philosophie zu verallgemeinern und die antimaterialistischen Strömungen unter den Marxisten einer allseitigen Kritik zu unterziehen. Engels sagte vom Materialismus: „Mit jeder epochemachenden Entdeckung ... muss er seine Form ändern“. [9] Es ist bekannt, dass diese Aufgabe für seine Zeit kein anderer als Lenin in seinem vortrefflichen Buch Materialismus und Empiriokritizismus [10] gelöst hat. Man weiß, dass Plechanow, der sich gern über die „Unbekümmertheit“ Lenins bezüglich der Philosophie lustig machte, es nicht einmal gewagt hat, ernsthaft an die Lösung einer solchen Aufgabe heranzugehen.
 

2. Die Kritik der „Theorie“ der Spontaneität oder die Rolle der Avantgarde in der Bewegung. Die „Theorie“ der Spontaneität ist die Theorie des Opportunismus, die Theorie der Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, die Theorie der tatsächlichen Leugnung der führenden Rolle der Avantgarde der Arbeiterklasse, der Partei der Arbeiterklasse.

Die Theorie der Anbetung der Spontaneität richtet sich entschieden gegen den revolutionären Charakter der Arbeiterbewegung, sie ist dagegen, dass die Bewegung in die Bahnen des Kampfes gegen die Grundlagen des Kapitalismus gelenkt werde, sie ist dafür, dass die Bewegung ausschließlich auf der Linie „erfüllbarer“, für den Kapitalismus „annehmbarer“ Forderungen verlaufe, sie ist ganz und gar für „die Linie des geringsten Widerstandes“. Die Theorie der Spontaneität ist die Ideologie des Trade-Unionismus.

Die Theorie der Anbetung der Spontaneität wendet sich entschieden dagegen, dass der spontanen Bewegung ein bewusster, planmäßiger Charakter verliehen werde, sie ist dagegen, dass die Partei der Arbeiterklasse vorangehe, dass die Partei die Massen auf das Niveau der Bewusstheit erhebe, dass die Partei die Bewegung führe, sie ist dafür, dass die bewussten Elemente der Bewegung diese nicht hindern sollen, ihren eigenen Weg zu gehen, sie ist dafür, dass die Partei lediglich auf die spontane Bewegung höre und hinter ihr einhertrotte. Die Theorie der Spontaneität ist die Theorie der Herabminderung der Rolle des bewussten Elements in der Bewegung, die Ideologie der „Nachtrabpolitik“, die logische Grundlage jeder Art von Opportunismus.

Praktisch führte diese Theorie, die schon vor der ersten Revolution in Rußland auf den Plan trat, dazu, dass ihre Anhänger, die so genannten „Ökonomisten“, die Notwendigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei in Rußland leugneten, sich dem revolutionären Kampf der Arbeiterklasse für den Sturz des Zarismus widersetzten, eine trade-unionistische Politik in der Bewegung predigten und überhaupt die Arbeiterbewegung der Hegemonie der liberalen Bourgeoisie auslieferten.

Durch den Kampf der alten Iskra und die glänzende Kritik der Theorie der „Nachtrabpolitik“ in Lenins Schrift Was tun? wurde nicht nur der so genannte „Ökonomismus“ geschlagen, sondern es wurden auch die theoretischen Grundlagen für eine wirklich revolutionäre Bewegung der russischen Arbeiterklasse geschaffen.

Ohne diesen Kampf wäre an die Schaffung einer selbständigen Arbeiterpartei in Rußland und an ihre führende Rolle in der Revolution nicht zu denken gewesen.

Aber die Theorie der Anbetung der Spontaneität ist nicht nur eine russische Erscheinung. Sie ist, allerdings in etwas anderer Form, in allen Parteien der II. Internationale ohne Ausnahme aufs weiteste verbreitet. Ich denke hier an die so genannte Theorie der „Produktivkräfte“, die, von den Führern der II. Internationale verflacht, alles rechtfertigt und alle versöhnt, die Tatsachen konstatiert und erklärt, wenn sie bereits allen zum Halse heraushängen, und sich mit dieser Konstatierung zufrieden gibt. Marx sagte, dass sich die materialistische Theorie nicht darauf beschränken darf, die Welt zu interpretieren, dass es vielmehr darauf ankommt, sie zu verändern. [11] Aber Kautsky und Konsorten kümmert das nicht, sie ziehen es vor, bei dem ersten Teil der Marxschen Formel stehen zu bleiben.

Hier eins von vielen Beispielen dafür, wie diese „Theorie“ angewandt wird. Man sagt, die Parteien der II. Internationale hätten vor dem imperialistischen Krieg gedroht, „Krieg dem Kriege“ zu erklären, falls die Imperialisten den Krieg beginnen sollten. Man sagt, dass unmittelbar vor Beginn des Krieges diese Parteien die Losung „Krieg dem Kriege“ zu den Akten gelegt und die entgegengesetzte Losung „Krieg für das imperialistische Vaterland“ verwirklicht haben. Man sagt, dass infolge dieses Losungswechsels Millionen Arbeiter ihr Leben haben opfern müssen. Es wäre aber falsch zu glauben, dass es hier Schuldige gebe, dass irgendwer der Arbeiterklasse untreu geworden sei oder sie verraten habe. Weit gefehlt! Alles sei so gekommen, wie es kommen musste. Erstens, weil die Internationale, so erfährt man, „ein Instrument des Friedens“ und nicht des Krieges sei. Zweitens, weil bei dem damals vorhandenen „Entwicklungsstand der Produktivkräfte“ nichts anderes unternommen werden konnte. „Schuld“ seien die „Produktivkräfte“. Herrn Kautskys „Theorie der Produktivkräfte“ erklärt „uns“ das haargenau. Und wer an diese „Theorie“ nicht glaubt, sei kein Marxist. Die Rolle der Parteien? Ihre Bedeutung in der Bewegung? Aber was kann die Partei ausrichten gegen einen so entscheidenden Faktor wie den „Entwicklungsstand der Produktivkräfte“? ...

Solcher Beispiele der Verfälschung des Marxismus könnte man eine ganze Menge anführen.

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass dieser verfälschte „Marxismus“, der die Blöße des Opportunismus verdecken soll, nur eine europäisch umgemodelte Form der Theorie der „Nachtrabpolitik“ ist, gegen die Lenin schon vor der ersten russischen Revolution kämpfte.

Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die Vorbedingung für die Schaffung wirklich revolutionärer Parteien im Westen darin besteht, diese theoretische Verfälschung zunichte zu machen.
 

3. Die Theorie der proletarischen Revolution. Die Leninsche Theorie der proletarischen Revolution geht von drei grundlegenden Leitsätzen aus:

Erster Leitsatz. Herrschaft des Finanzkapitals in den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus; Emission von Wertpapieren als eine der wichtigsten Operationen des Finanzkapitals; Kapitalexport nach den Rohstoffquellen als eine der Grundlagen des Imperialismus; Allmacht der Finanzoligarchie als Resultat der Herrschaft des Finanzkapitals – all dies enthüllt den brutal-parasitären Charakter des Monopolkapitalismus, macht das Joch der kapitalistischen Truste und Syndikate hundertmal fühlbarer, lässt die Empörung der Arbeiterklasse gegen die Grundlagen des Kapitalismus noch stärker anwachsen und führt die Massen zur proletarischen Revolution als der einzigen Rettung (siehe Imperialismus [12] von Lenin).

Daraus ergibt sich als erste Schlussfolgerung: die Verschärfung der revolutionären Krise innerhalb der kapitalistischen Länder, die Anhäufung von Zündstoff an der inneren, der proletarischen Front in den „Mutterländern“.

Zweiter Leitsatz. Verstärkter Kapitalexport in die kolonialen und abhängigen Länder; Ausbreitung der „Einflusssphären“ und des Kolonialbesitzes bis zur Erfassung des ganzen Erdballs; Umwandlung des Kapitalismus in ein Weltsystem der finanziellen Versklavung und kolonialen Unterdrückung der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll „fortgeschrittener“ Länder – all dies hat einerseits die einzelnen nationalen Wirtschaften und nationalen Territorien in Glieder einer einheitlichen Kette, genannt Weltwirtschaft, verwandelt und anderseits die Bevölkerung des Erdballs in zwei Lager gespalten: in eine Handvoll „fortgeschrittener“ kapitalistischer Länder, die ausgedehnte koloniale und abhängige Länder ausbeuten und unterdrücken, und in eine übergroße Mehrheit von kolonialen und abhängigen Ländern, die gezwungen sind, für die Befreiung vom imperialistischen Joch zu kämpfen (siehe Imperialismus).

Daraus ergibt sich als zweite Schlussfolgerung: die Verschärfung der revolutionären Krise in den Kolonialländern, das Anwachsen der Elemente der Empörung gegen den Imperialismus an der äußeren, an der kolonialen Front.

Dritter Leitsatz. Monopolistische Herrschaft über die „Einflusssphären“ und die Kolonien; ungleichmäßige Entwicklung der kapitalistischen Länder, die zu einem wütenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen jenen Ländern führt, die bereits Territorien an sich gerissen haben, und jenen, die ebenfalls ihren „Anteil“ erhalten wollen; imperialistische Kriege als einziges Mittel, das gestörte „Gleichgewicht“ wiederherzustellen – all dies führt zur Verstärkung der dritten Front, der zwischenkapitalistischen Front, die den Imperialismus schwächt und die Vereinigung der beiden ersten Fronten, der revolutionär-proletarischen Front und der Front der kolonialen Befreiungsbewegung, gegen den Imperialismus erleichtert (siehe Imperialismus).

Daraus ergibt sich als dritte Schlussfolgerung: die Unabwendbarkeit von Kriegen unter dem Imperialismus und die Unausbleiblichkeit der Koalition zwischen der proletarischen Revolution in Europa und der kolonialen Revolution im Osten zu einer einheitlichen Weltfront der Revolution gegen die Weltfront des Imperialismus.

Alle diese Schlussfolgerungen vereinigt Lenin zu der allgemeinen Schlussfolgerung: „Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialistischen Revolution“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.22, S.175 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.I, S.767]).

Demgemäß ändert sich auch die Stellungnahme zur Frage der proletarischen Revolution, des Charakters der Revolution, ihres Umfangs, ihrer Tiefe, ändert sich das Schema der Revolution überhaupt.

Früher pflegte man an die Analyse der Voraussetzungen der proletarischen Revolution vom Standpunkt des ökonomischen Zustands dieses oder jenes einzelnen Landes heranzugehen. Jetzt ist diese Art des Herangehens bereits unzulänglich. Jetzt muss man an diese Frage vom Standpunkt des ökonomischen Zustands aller Länder oder ihrer Mehrheit, vom Standpunkt des Zustands der Weltwirtschaft herangehen, denn die einzelnen Länder und die einzelnen nationalen Wirtschaften haben aufgehört, sich selbst genügende Einheiten zu sein, sie haben sich in Glieder einer einheitlichen Kette, genannt Weltwirtschaft, verwandelt, denn der alte „zivilisierte“ Kapitalismus ist zum Imperialismus geworden, der Imperialismus aber ist ein Weltsystem finanzieller Versklavung und kolonialer Unterdrückung der gigantischen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll „fortgeschrittener“ Länder.

Früher war es üblich, vom Vorhandensein oder Fehlen objektiver Bedingungen für die proletarische Revolution in den einzelnen Ländern oder, genauer gesagt, in diesem oder jenem entwickelten Lande zu sprechen. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man vom Vorhandensein objektiver Bedingungen für die Revolution im ganzen System der imperialistischen Weltwirtschaft als eines einheitlichen Ganzen sprechen, wobei der Umstand, dass diesem System einige industriell mangelhaft entwickelte Länder angehören, kein unüberwindliches Hindernis für die Revolution bilden kann, wenn das System als Ganzes oder, richtiger gesagt, da das System als Ganzes bereits für die Revolution reif geworden ist.

Früher war es üblich, von der proletarischen Revolution in diesem oder jenem entwickelten Lande als von einer einzelnen, sich selbst genügenden Größe zu sprechen, die der einzelnen, nationalen Front des Kapitals als ihrem Antipoden entgegengestellt wurde. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man von der proletarischen Weltrevolution sprechen, denn die einzelnen nationalen Fronten des Kapitals haben sich in Glieder einer einheitlichen Kette verwandelt, genannt die Weltfront des Imperialismus, der die allgemeine Front der revolutionären Bewegung aller Länder entgegengestellt werden muss.

Früher betrachtete man die proletarische Revolution ausschließlich als Ergebnis der inneren Entwicklung des betreffenden Landes. Jetzt ist dieser Standpunkt bereits unzulänglich. Jetzt muss man die proletarische Revolution vor allem als Ergebnis der Entwicklung der Widersprüche im Weltsystem des Imperialismus betrachten, als Ergebnis dessen, dass die Kette der imperialistischen Weltfront in diesem oder jenem Lande reißt.

Wo wird die Revolution beginnen, wo kann am ehesten die Front des Kapitals durchbrochen werden, in welchem Lande?

Dort, wo die Industrie am entwickeltsten ist, wo das Proletariat die Mehrheit bildet, wo es mehr Kultur, wo es mehr Demokratie gibt – pflegte man früher zu antworten.

Nein – entgegnet die Leninsche Theorie der Revolution –, nicht unbedingt dort, wo die Industrie am entwickeltsten ist usw. Die Front des Kapitals wird dort reißen, wo die Kette des Imperialismus am schwächsten ist, denn die proletarische Revolution ist das Ergebnis dessen, dass die Kette der imperialistischen Weltfront an ihrer schwächsten Stelle reißt, wobei es sich erweisen kann, dass das Land, das die Revolution begonnen hat, das Land, das die Front des Kapitals durchbrochen hat, kapitalistisch weniger entwickelt ist als andere, entwickeltere Länder, die jedoch im Rahmen des Kapitalismus verblieben sind.

Im Jahre 1917 erwies sich die Kette der imperialistischen Weltfront in Rußland als schwächer denn in anderen Ländern. Dort riss sie auch und gab der proletarischen Revolution den Weg frei. Warum? Weil sich in Rußland eine gewaltige Volksrevolution entfaltete, an deren Spitze ein revolutionäres Proletariat marschierte, das einen so ernst zu nehmenden Verbündeten hatte wie die Millionenmassen der von Gutsbesitzern unterdrückten und ausgebeuteten Bauernschaft. Weil dort der Revolution ein so widerlicher Vertreter des Imperialismus gegenüberstand wie der Zarismus, der jedes moralischen Gewichts entbehrte und sich den allgemeinen Hass der Bevölkerung zugezogen hatte. In Rußland erwies sich die Kette als schwächer, obgleich Rußland kapitalistisch weniger entwickelt war als, sagen wir, Frankreich oder Deutschland, England oder Amerika.

Wo wird die Kette in nächster Zukunft reißen? Wiederum dort, wo sie am schwächsten ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Kette, sagen wir, in Indien reißen kann. Warum? Weil es dort ein junges, kämpferisches, revolutionäres Proletariat gibt, das einen Bundesgenossen hat wie die nationale Befreiungsbewegung, einen unzweifelhaft großen und unzweifelhaft ernst zu nehmenden Bundesgenossen. Weil der Revolution dort ein so allbekannter Gegner gegenübersteht wie der fremdländische Imperialismus, der jedes moralischen Kredits entbehrt und sich den allgemeinen Hass der unterdrückten und ausgebeuteten Massen Indiens zugezogen hat.

Es ist auch durchaus möglich, dass die Kette in Deutschland reißen kann. Warum? Weil die, sagen wir, in Indien wirkenden Faktoren auch in Deutschland zu wirken beginnen, wobei selbstverständlich der gewaltige Unterschied im Entwicklungsniveau, der zwischen Indien und Deutschland besteht, dem Gang und Ausgang der Revolution in Deutschland seinen Stempel aufdrücken muss.

Aus diesem Grunde sagt Lenin:

„Die westeuropäischen kapitalistischen Länder werden ihre Entwicklung zum Sozialismus ... nicht dadurch vollenden, dass der Sozialismus in diesen Ländern gleichmäßig ,ausreift‘, sondern auf dem Wege der Ausbeutung der einen Staaten durch die anderen, auf dem Wege der Ausbeutung des ersten während des imperialistischen Krieges besiegten Staates, verbunden mit der Ausbeutung des gesamten Ostens. Der Osten anderseits wurde eben infolge dieses ersten imperialistischen Krieges endgültig von einer revolutionären Bewegung erfasst und endgültig in den allgemeinen Strudel der revolutionären Weltbewegung hineingerissen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.33, S.457 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.107].)

Kurzum: Die Kette der imperialistischen Front muss, als Regel, dort reißen, wo die Glieder der Kette am schwächsten sind, und keinesfalls unbedingt dort, wo der Kapitalismus am entwickeltsten ist und wo es soundso viel Prozent Proletarier, soundso viel Prozent Bauern gibt usw.

Deshalb kommt den statistischen Berechnungen über die prozentuale Stärke des Proletariats in den einzelnen Ländern bei der Lösung der Frage der proletarischen Revolution nicht jene hervorragende Bedeutung zu, die ihnen so gern von den Schriftgelehrten der II. Internationale beigemessen wurde, die den Imperialismus nicht begriffen haben und die Revolution wie die Pest fürchten.

Ferner. Die Helden der II. Internationale behaupteten (und behaupten auch weiter), dass zwischen der bürgerlich-demokratischen Revolution einerseits und der proletarischen anderseits ein Abgrund klaffe oder jedenfalls eine chinesische Mauer stehe, die die eine von der anderen durch ein mehr oder minder langes Intervall trennt, in dessen Verlauf die zur Macht gelangte Bourgeoisie den Kapitalismus entwickelt, während das Proletariat seine Kräfte sammelt und sich zum „entscheidenden Kampf“ gegen den Kapitalismus vorbereitet. Dieses Intervall wird in der Regel auf viele Jahrzehnte, wenn nicht auf noch längere Zeit veranschlagt. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass diese „Theorie“ der chinesischen Mauer unter den Verhältnissen des Imperialismus jedes wissenschaftlichen Sinnes bar ist, dass sie nur eine Bemäntelung, eine Beschönigung der konterrevolutionären Gelüste der Bourgeoisie ist und nichts anderes sein kann. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass unter den Verhältnissen des Imperialismus, der mit Zusammenstößen und Kriegen schwanger geht, unter den Verhältnissen des „Vorabends der sozialistischen Revolution“, wo der „blühende“ Kapitalismus sich in den „sterbenden“ Kapitalismus verwandelt (Lenin) und die revolutionäre Bewegung in allen Ländern der Welt anwächst, wo sich der Imperialismus mit allen reaktionären Kräften ohne Ausnahme, einschließlich des Zarismus und Feudalismus, verbündet und damit den Zusammenschluss aller revolutionären Kräfte, von der proletarischen Bewegung im Westen bis zur nationalen Befreiungsbewegung im Osten, notwendig macht, wo die Abschüttelung der Überreste der feudal-fronherrschaftlichen Zustände ohne den revolutionären Kampf gegen den Imperialismus unmöglich wird – es erübrigt sich wohl nachzuweisen, dass die bürgerlich-demokratische Revolution in einem mehr oder weniger entwickelten Lande unter solchen Verhältnissen an die proletarische Revolution herankommen muss, dass die erste in die zweite hinüberwachsen muss. Die Geschichte der Revolution in Rußland hat augenfällig die Richtigkeit und Unbestreitbarkeit dieser These bewiesen. Nicht umsonst hat Lenin bereits im Jahre 1905, am Vorabend der ersten russischen Revolution, in seiner Schrift Zwei Taktiken die bürgerlich-demokratische Revolution und die sozialistische Umwälzung als zwei Glieder einer Kette dargestellt, als einheitliches und geschlossenes Bild vom Schwung der russischen Revolution.

„Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand des Absolutismus mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muss die sozialistische Umwälzung vollziehen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung an sich heranzieht, um den Widerstand der Bourgeoisie mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren. Das sind die Aufgaben des Proletariats, die sich die Leute von der neuen Iskra in allen ihren Betrachtungen und Resolutionen über den Schwung der Revolution so beschränkt vorstellen.“ (Siehe Lenin, 4. Ausgabe, Bd.9, S.81 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. I, S.497/498].)

Ich spreche schon gar nicht von den anderen, späteren Werken Lenins, wo die Idee des Hinüberwachsens der bürgerlichen Revolution in die proletarische als einer der Grundpfeiler der Leninschen Revolutionstheorie noch plastischer hervortritt als in den Zwei Taktiken.

Manche Genossen sind, wie sich herausstellt, der Ansicht, Lenin sei erst im Jahre 1916 zu dieser Idee gelangt, bis dahin habe er gemeint, dass sich die Revolution in Rußland im bürgerlichen Rahmen halten, dass also die Macht aus den Händen des Organs der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft in die Hände der Bourgeoisie und nicht des Proletariats übergehen würde. Diese Behauptung soll sogar in unsere kommunistische Presse eingedrungen sein. Ich muss sagen, dass diese Behauptung völlig falsch ist, dass sie keineswegs der Wirklichkeit entspricht.

Ich könnte mich auf die bekannte Rede Lenins auf dem III. Parteitag (1905) berufen, wo er die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, das heißt den Sieg der demokratischen Revolution, nicht als „Organisation der ,Ordnung‘“, sondern als „Organisation des Krieges“ qualifizierte (siehe 4. Ausgabe, Bd.8, S.353, russ.).

Ich könnte mich weiter auf die bekannten Artikel Lenins Über die provisorische Regierung (1905) [13] berufen, wo er die Perspektive der Entfaltung der russischen Revolution entwirft und der Partei die Aufgabe stellt, „zu erreichen, dass die russische Revolution nicht eine Bewegung von einigen Monaten, sondern eine Bewegung von vielen Jahren werde, dass sie nicht nur zu kleinen Zugeständnissen der Gewalthaber, sondern zu deren völligem Sturz führe“, und wo er, diese Perspektive weiterentwickelnd und sie mit der Revolution in Europa verbindend, fortfährt:

„Wenn dies aber gelingt, dann ... dann wird der revolutionäre Brand Europa in Flammen setzen; der unter der bürgerlichen Reaktion schmachtende europäische Arbeiter wird sich seinerseits erheben und uns zeigen, ,wie man’s macht‘; dann wird der revolutionäre Aufschwung Europas auf Rußland zurückwirken und aus der Epoche einiger Revolutionsjahre eine Epoche von mehreren Revolutionsjahrzehnten machen ...“ (Ebenda, S.259, russ.)

Ich könnte mich ferner auf einen bekannten, im November 1915 veröffentlichten Artikel Lenins berufen, wo er schreibt:

„Das Proletariat kämpft – und wird selbstlos weiterkämpfen – für die Eroberung der Macht, für die Republik, für die Konfiszierung der Ländereien, ... für die Beteiligung der ‚nichtproletarischen Volksmassen‘ an der Befreiung des bürgerlichen Rußlands vom militärisch-feudalen ‚Imperialismus‘ (=Zarismus). Und diese Befreiung des bürgerlichen Rußlands vom Zarismus, von der Herrschaft der Gutsbesitzer über den Boden, wird das Proletariat unverzügliche ausnutzen, nicht um den wohlhabenden Bauern in ihrem Kampf gegen die Landarbeiter zu helfen, sondern um die sozialistische Revolution im Bunde mit den Proletariern Europas zu vollbringen.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.21, S.382/383, russ.)

Ich könnte mich schließlich auf die bekannte Stelle in der Schrift Lenins Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky berufen, wo er, unter Hinweis auf das oben angeführte Zitat aus Zwei Taktiken über den Schwung der russischen Revolution, zu folgender Schlussfolgerung gelangt:

„Es kam denn auch so, wie wir gesagt hatten. Der Verlauf der Revolution hat die Richtigkeit unserer Argumentation bestätigt. Zuerst zusammen mit der ‚gesamten‘ Bauernschaft gegen die Monarchie, gegen die Gutsbesitzer, gegen das Mittelalter (und insoweit bleibt die Revolution eine bürgerliche, bürgerlich-demokratische Revolution). Dann zusammen mit der armen Bauernschaft, zusammen mit dem Halbproletariat, zusammen mit allen Ausgebeuteten gegen den Kapitalismus, einschließlich der Dorfreichen, der Kulaken, der Spekulanten, und insofern wird die Revolution zu einer sozialistischen Revolution. Der Versuch, künstlich eine chinesische Mauer zwischen dieser und jener aufzurichten, sie voneinander durch etwas anderes zu trennen als durch den Grad der Vorbereitung des Proletariats und den Grad seines Zusammenschlusses mit der Dorfarmut, ist die größte Entstellung und Vulgarisierung des Marxismus, seine Ersetzung durch den Liberalismus.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.28, S.2761277 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.11, S.477/4781.)

Das genügt wohl.

Schön, wird man sagen, aber weshalb bekämpfte dann Lenin die Idee der „permanenten (ununterbrochenen) Revolution“?

Weil Lenin vorschlug, die revolutionären Fähigkeiten der Bauernschaft „auszuschöpfen“ und ihre revolutionäre Energie restlos zur völligen Beseitigung des Zarismus, zum Übergang zur proletarischen Revolution auszunutzen, während die Anhänger der „permanenten Revolution“ die große Rolle der Bauernschaft in der russischen Revolution nicht verstanden, die Kraft der revolutionären Energie der Bauernschaft ebenso wie die Kraft und die Fähigkeit des russischen Proletariats, die Bauernschaft zu führen, unterschätzten, und so die Befreiung der Bauernschaft vom Einfluss der Bourgeoisie, den Zusammenschluss der Bauernschaft um das Proletariat erschwerten.

Weil Lenin vorschlug, das Werk der Revolution durch den Übergang der Macht an das Proletariat zu krönen, während die Anhänger der „permanenten“ Revolution direkt mit der Macht des Proletariats beginnen wollten, ohne zu begreifen, dass sie damit eine solche „Kleinigkeit“ übersehen wie die Überreste des Feudalismus und eine so ernst zu nehmende Kraft außer acht lassen wie die russische Bauernschaft, ohne zu begreifen, dass eine solche Politik die Gewinnung der Bauernschaft für das Proletariat nur hemmen kann.

Lenin kämpfte also gegen die Anhänger der „permanenten“ Revolution nicht wegen der Frage der Permanenz, denn Lenin selbst stand auf dem Standpunkt der ununterbrochenen Revolution, sondern weil sie die Rolle der Bauernschaft unterschätzten, die eine gewaltige Reserve des Proletariats bildet, weil sie die Idee der Hegemonie des Proletariats nicht begriffen.

Die Idee der „permanenten“ Revolution darf nicht als eine neue Idee betrachtet werden. Sie wurde zum erstenmal von Marx Ende der vierziger Jahre in seiner bekannten Ansprache an den „Bund der Kommunisten“ (1850) entwickelt. Diesem Dokument haben denn auch unsere „Permanenzler“ die Idee der ununterbrochenen Revolution entnommen. Zu bemerken ist, dass unsere „Permanenzler“ diese von Marx entlehnte Idee etwas abgeändert und durch diese Abänderung „verballhornt“ und für den praktischen Gebrauch untauglich gemacht haben. Es bedurfte der erfahrenen Hand Lenins, damit dieser Fehler korrigiert, die Marxsche Idee der ununterbrochenen Revolution in ihrer reinen Gestalt aufgenommen und zu einem der Grundpfeiler seiner Theorie der Revolution gemacht wurde.

Folgendes sagt Marx in seiner Ansprache nach Aufzählung einer Reihe revolutionär-demokratischer Forderungen, zu deren Durchsetzung er die Kommunisten auffordert, über die ununterbrochene (permanente) Revolution:

„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat, und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.“ [14]

Mit anderen Worten:

  1. Marx hat keineswegs vorgeschlagen, das Werk der Revolution im Deutschland der fünfziger Jahre direkt mit der proletarischen Macht zu beginnen, im Gegensatz zu den Plänen unserer russischen „Permanenzler“;
  2. Marx hat lediglich vorgeschlagen, das Werk der Revolution mit der proletarischen Staatsmacht zu krönen, indem Schritt für Schritt eine Fraktion der Bourgeoisie nach der anderen von der Höhe der Macht verdrängt wird, um dann, nach Erringung der Macht des Proletariats, die Revolution in allen Ländern zu entfachen – in vollem Einklang mit alledem, was Lenin lehrte und im Laufe unserer Revolution verwirklichte, indem er seiner Theorie der proletarischen Revolution unter den Verhältnissen des Imperialismus folgte.

Demnach haben unsere russischen „Permanenzler“ nicht nur die Rolle der Bauernschaft in der russischen Revolution und die Bedeutung der Idee der Hegemonie des Proletariats unterschätzt, sondern auch die Marxsche Idee von der „permanenten“ Revolution (zum Schlechteren) abgeändert und für die Praxis untauglich gemacht.

Deshalb machte sich Lenin über die Theorie unserer „Permanenzler“ lustig, nannte sie „originell“ und „wunderbar“ und warf ihnen vor, dass sie sich „keine Gedanken darüber machen wollen, aus welchen Gründen das Leben volle zehn Jahre an dieser wunderbaren Theorie vorbeigegangen ist“. (Lenins Artikel wurde 1915 geschrieben, 10 Jahre nach dem Aufkommen der Theorie der „Permanenzler“ in Rußland – siehe 4. Ausgabe, Bd.21, S.381, russ.)

Deshalb hielt Lenin diese Theorie für halbmenschewistisch und sagte, dass sie „von den Bolschewiki den Appell zum entschlossenen revolutionären Kampf des Proletariats und zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, von den Menschewiki aber die ,Negierung‘ der Rolle der Bauernschaft übernimmt“ (siehe Lenins Artikel Über die zwei Linien der Revolution, ebenda, S.381/382, russ.).

So verhält es sich mit der Idee Lenins vom Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratischen Revolution in die proletarische, von der Ausnutzung der bürgerlichen Revolution für den „sofortigen“ Übergang zur proletarischen Revolution.

Weiter. Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem Lande für unmöglich, da man annahm, dass zum Siege über die Bourgeoisie eine gemeinsame Aktion der Proletarier aller fortgeschrittenen Länder oder jedenfalls der Mehrzahl dieser Länder erforderlich sei. Jetzt entspricht diese Ansicht nicht mehr der Wirklichkeit. Jetzt muss man von der Möglichkeit eines solchen Sieges ausgehen, denn der ungleichmäßige und sprunghafte Charakter der Entwicklung der verschiedenen kapitalistischen Länder unter den Verhältnissen des Imperialismus, die Entwicklung der katastrophalen Widersprüche innerhalb des Imperialismus, die unausweichlich zu Kriegen führen, das Anwachsen der revolutionären Bewegung in allen Ländern der Welt – all das macht den Sieg des Proletariats in einzelnen Ländern nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Die Geschichte der Revolution in Rußland ist ein direkter Beweis dafür. Nur muss man dabei im Auge behalten, dass die Bourgeoisie nur dann erfolgreich gestürzt werden kann, wenn gewisse, absolut notwendige Bedingungen vorhanden sind, ohne die an eine Machtergreifung durch das Proletariat nicht zu denken ist.

Über diese Bedingungen sagt Lenin in seiner Schrift Die Kinderkrankheit:

„Das Grundgesetz der Revolution, das durch alle Revolutionen und insbesondere durch alle drei russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: Zur Revolution genügt es nicht, dass sich die ausgebeuteten und geknechteten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewusst werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, dass die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die ,unteren Schichten‘ die alte Ordnung nicht mehr wollen und die ,Oberschichten‘ nicht mehr in der alten Weise leben können, erst dann kann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise. Folglich ist zur Revolution notwendig: erstens, dass die Mehrheit der Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewussten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen; zweitens, dass die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht..., die Regierung kraftlos macht und den Revolutionären den schnellen Sturz dieser Regierung ermöglicht.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd.31, S.65/66 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.729/730].)

Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande errichten heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus sichern. Das Proletariat des siegreichen Landes, das seine Macht gefestigt hat und die Führung über die Bauernschaft ausübt, kann und muss die sozialistische Gesellschaft aufbauen. Bedeutet das aber, dass es damit schon den vollständigen, endgültigen Sieg des Sozialismus erreichen wird, das heißt, bedeutet es, dass das Proletariat mit den Kräften eines Landes allein endgültig den Sozialismus verankern und das Land gegen die Intervention und folglich auch gegen eine Restauration völlig sichern kann? Nein, das bedeutet es nicht. Dazu ist der Sieg der Revolution wenigstens in einigen Ländern notwendig. Deshalb ist die Entwicklung und Unterstützung der Revolution in den anderen Ländern eine wesentliche Aufgabe der siegreichen Revolution. Deshalb soll sich die Revolution des siegreichen Landes nicht als eine sich selbst genügende Größe betrachten, sondern als Stütze, als Mittel zur Beschleunigung des Sieges des Proletariats in den anderen Ländern.

Lenin drückte diesen Gedanken in wenigen Worten aus, indem er sagte, die Aufgabe der siegreichen Revolution bestehe in der Durchführung „des Höchstmaßes dessen, was in einem Lande für die Entwicklung, Unterstützung, Entfachung der Revolution in allen Ländern durchführbar ist“ (siehe 4. Ausgabe, Bd.28, S.269 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.II, S.470]).

Das sind in allgemeinen Zügen die charakteristischen Merkmale der Leninschen Theorie der proletarischen Revolution.

 

 

Anmerkungen

9. Siehe F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1939, S.21 [deutsch in Karl Marx und Friedrich Engels Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.II, S.347].

10. Siehe W.I. Lenin, Werke, 4. Ausgabe, Bd.14 (russ.).

11. K. Marx, Thesen über Feuerbach, (siehe F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1939, Anhang [deutsch in Karl Marx und Friedrich Engels Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.II, S.376-378]).

12. W.I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (siehe Werke, 4. Ausgabe, Bd.22, S.173-290 [deutsch in Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd.I, S.767-875]).

13. J.W. Stalin beruft sich auf W.I. Lenins 1905 geschriebene Artikel: Die Sozialdemokratie und die provisorische revolutionäre Regierung, woraus er den Auszug anführt, Die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft und Über die provisorische revolutionäre Regierung (siehe W.I. Lenin, Werke, 4. Ausgabe, Bd.8, S.247-263, 264-274, 427-447, russ.).

14. K. Marx und F. Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850 (siehe K. Marx und F. Engels, Werke, Bd.VIII, 1931, S.483 [deutsch in Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.I, S.97]).

 


Zuletzt aktualisiert am 15.9.2004