J.W. Stalin

 

Marxismus und nationale Frage

III
Die Fragestellung

Die Nation hat das Recht, über ihr Schicksal frei zu bestimmen. Sie hat das Recht, sich einzurichten, wie es ihr beliebt, wobei sie natürlich nicht den Rechten anderer Nationen Abbruch tun darf. Das ist unbestreitbar.

Aber wie soll sie sich nun einrichten, welche Formen soll ihre künftige Verfassung annehmen, wenn die Interessen der Mehrheit der Nation und vor allem die des Proletariats maßgebend sein sollen?

Die Nation hat das Recht, sich autonom einzurichten. Sie hat sogar das Recht, sich loszutrennen. Aber das heißt noch nicht, daß sie das unter allen Umständen tun muß, daß Autonomie oder Separation immer und überall für die Nation, das heißt für ihre Mehrheit, das heißt für die werktätigen Schichten, von Vorteil sein wird. Die transkaukasischen Tataren als Nation könnten sich, sagen wir, auf ihrem Landtag versammeln und unter dem Einfluß ihrer Begs und Mullahs die alten Zustände wiederherstellen, den Beschluß fassen, sich vom Reich loszutrennen. Nach dem Sinn des Punktes über die Selbstbestimmung haben sie das volle Recht dazu. Läge das aber im Interesse der werktätigen Schichten der tatarischen Nation? Kann denn die Sozialdemokratie gleichgültig zuschauen, wie bei der Lösung der nationalen Frage die Begs und Mullahs die Massen hinter sich her führen? Soll die Sozialdemokratie hier nicht eingreifen und in bestimmter Weise den Willen der Nation beeinflussen? Soll sie nicht mit einem konkreten Plan für die Lösung der Frage hervortreten, der für die tatarischen Massen am vorteilhaftesten ist?

Welche Lösung aber ist mit den Interessen der werktätigen Massen am besten zu vereinbaren? Autonomie, Föderation oder Separation?

Alles das sind Fragen, deren Beantwortung von den konkreten historischen Verhältnissen abhängt, in denen die gegebene Nation lebt.

Mehr noch. Wie überhaupt alles, ändern sich auch die Verhältnisse, und eine Entscheidung, die im gegebenen Augenblick richtig ist, kann sich zu einer anderen Zeit als gänzlich unannehmbar erweisen.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Marx Verfechter der Lostrennung Russisch-Polens, und er hatte recht, denn damals handelte es sich um die Befreiung einer höheren Kultur von einer sie zerstörenden niedrigeren. Auch stand die Frage damals nicht nur in der Theorie, nicht akademisch, sondern in der Praxis, im Leben selbst ...

Ende des 19. Jahrhunderts sprechen sich die polnischen Marxisten schon gegen eine Lostrennung Polens aus, und auch sie haben recht, denn in den letzten fünfzig Jahren sind tiefgreifende Veränderungen im Sinne einer ökonomischen und kulturellen Annäherung Rußlands und Polens eingetreten. Außerdem ist in dieser Zeit die Frage der Lostrennung aus einem Gegenstand des praktischen Lebens zu einem Gegenstand akademischer Diskussionen geworden, die höchstens die im Ausland lebenden Intellektuellen aufregen.

Dies schließt natürlich die Möglichkeit des Eintritts gewisser innerer und äußerer Konjunkturen nicht aus, die die Frage der Lostrennung Polens von neuem aktuell machen können.

Hieraus folgt, daß die nationale Frage nur im Zusammenhang mit den in ihrer Entwicklung betrachteten historischen Bedingungen gelöst werden kann.

Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen, unter denen eine Nation lebt, sind der einzige Schlüssel zur Entscheidung der Frage, wie sich nämlich diese oder jene Nation einrichten, welche Formen ihre künftige Verfassung annehmen soll. Dabei ist es möglich, daß sich für jede Nation eine besondere Lösung der Frage erforderlich macht. Wenn irgendwo eine dialektische Stellung der Frage notwendig ist, so eben hier, in der nationalen Frage.

Deswegen müssen wir uns entschieden gegen eine sehr verbreitete, aber auch sehr summarische Methode der „Lösung“ der nationalen Frage wenden, die ihren Ursprung vom „Bund“ herleitet. Wir meinen die wohlfeile Methode, sich auf die österreichische und südslawische Sozialdemokratie [1*] zu berufen, die angeblich die nationale Frage bereits gelöst hat und von der die russischen Sozialdemokraten die Lösung bloß zu übernehmen brauchten. Dabei wird vorausgesetzt, daß alles, was, sagen wir, für Österreich richtig ist, auch für Rußland richtig sei. Das Wichtigste und im gegebenen Fall Entscheidende wird aus dem Auge gelassen: die konkreten historischen Verhältnisse in Rußland überhaupt und im Leben jeder einzelnen Nation innerhalb Rußlands im besonderen.

Lassen wir beispielshalber den bekannten Bundisten W. Kossowski zu Worte kommen:

„Als auf dem IV. Kongreß des ‚Bund‘ [7] die prinzipielle Seite der Frage (gemeint ist die nationale Frage. J.St.) erörtert wurde, fand die von einem Kongreßteilnehmer im Geiste der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei vorgeschlagene Lösung der Frage allgemeine Billigung.“ [2*]

Das Ergebnis war, daß die nationale Autonomie „vom Kongreß einstimmig angenommen“ wurde.

Weiter nichts! Keine Analyse der russischen Wirklichkeit, keine Klärung der Frage nach den Lebensbedingungen der Juden in Rußland: Erst entlehnt man die Lösung bei der südslawischen sozialdemokratischen Partei, dann „billigt“ man sie, dann wird sie „einstimmig angenommen“! So stellen und „lösen“ die Bundisten die nationale Frage in Rußland ...

Nun sind aber die Verhältnisse in Österreich von denen in Rußland grundverschieden. Dadurch ist es denn auch zu erklären, weshalb die Sozialdemokratie in Österreich, die in Brünn (1899) [8] ein nationales Programm im Geiste der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei (allerdings mit einigen unbedeutenden Abänderungen) angenommen hat, die Frage durchaus, sozusagen, nicht russisch anfaßt und sie natürlich nicht russisch löst.

Vor allem die Stellung der Frage. Wie wird die Frage von Springer und Bauer gestellt, den österreichischen Theoretikern der national-kulturellen Autonomie und den Interpreten des Brünner nationalen Programms und der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei?

„Ob ein Nationalitätenstaat“, sagt Springer, „möglich ist und ob insbesondere die österreichischen Nationalitäten gezwungen sind, ein Staatswesen zu bilden, ist eine Vorfrage, die hier nicht beantwortet, sondern als entschieden vorausgesetzt ist. Wer diese Möglichkeit und Notwendigkeit nicht zugibt, für den ist freilich unsere Erörterung gegenstandslos. Unser Thema lautet: Da diese Nationen einmal beisammen sein müssen, unter welchen Rechtsformen können sie dies relativ am besten?“ (Hervorhebungen von Springer.) [3*]

Also die staatliche Integrität Österreichs als Ausgangspunkt.

Dasselbe sagt Bauer:

„Wir setzen also zunächst voraus, daß die österreichischen Nationen in demselben staatlichen Verbande bleiben, in dem sie jetzt zusammenleben, und fragen, wie die Nationen innerhalb dieses Verbandes ihr Verhältnis zueinander und zum Staate einrichten werden.“ [4*]

Also wieder die Integrität Österreichs vor allem.

Kann die Sozialdemokratie Rußlands die Frage so stellen? Nein, das kann sie nicht. Sie kann es darum nicht, weil sie von Anfang an den Standpunkt der Selbstbestimmung der Nationen einnimmt, kraft welcher der Nation das Recht auf Lostrennung zusteht.

Sogar der Bundist Goldblatt hat auf dem zweiten Parteitag der Sozialdemokratie Rußlands zugegeben, daß die Sozialdemokratie auf den Standpunkt der Selbstbestimmung nicht verzichten kann. Goldblatt sagte damals:

„Gegen das Selbstbestimmungsrecht kann nichts eingewendet werden. Wenn irgendeine Nation um ihre Selbständigkeit kämpft, so darf dem nicht entgegengetreten werden. Wenn Polen keine ‚gesetzliche Ehe‘ mit Rußland eingehen will, so steht es uns nicht zu, ihm das zu verwehren.“

Das stimmt alles. Daraus folgt aber, daß die Ausgangspunkte der österreichischen und der russischen Sozialdemokraten nicht nur nicht gleich, sondern, im Gegenteil, einander diametral entgegengesetzt sind. Kann man danach noch von der Möglichkeit reden, das nationale Programm bei den Österreichern zu entlehnen?

Weiter. Die Österreicher gedenken, die „Freiheit der Nationalitäten“ durch kleine Reformen, in langsamem Schritt zu verwirklichen. Wenn sie die national-kulturelle Autonomie als praktische Maßnahme vorschlagen, so rechnen sie in keiner Weise mit einer radikalen Veränderung, mit einer demokratischen Freiheitsbewegung, die sie gar nicht vorsehen. Die russischen Marxisten dagegen verbinden die Frage der „Freiheit der Nationalitäten“ mit der voraussichtlichen radikalen Veränderung, mit der demokratischen Freiheitsbewegung; sie haben keinen Grund, auf Reformen zu rechnen: Dies aber ändert die Sache wesentlich im Hinblick auf das voraussichtliche Schicksal der Nationen in Rußland.

„Freilich“, sagt Bauer, „ist es wenig wahrscheinlich, daß die nationale Autonomie das Ergebnis einer großen Entschließung, einer kühnen Tat sein wird. In einem langsamen Entwicklungsprozeß, in schweren Kämpfen, die immer wieder die Gesetzgebung stillegen und die bestehende Verwaltung starr erhalten ... wird sich Österreich Schritt für Schritt der nationalen Autonomie entgegen entwickeln. Nicht eine große gesetzgeberische Tat, sondern eine Unzahl von Einzelgesetzen für einzelne Länder, einzelne Gemeinden werden die neue Verfassung schaffen.“ [5*]

Dasselbe sagt Springer:

„Ich weiß vor allem“, schreibt er, „daß Institutionen dieser Art (Organe der nationalen Autonomie. J.St.) nicht in Jahren und nicht in einem Jahrzehnt geschaffen werden. Die Reorganisation der preußischen Verwaltung allein hat geraume Zeit erfordert ... Somit bedurfte Preußen zweier Jahrzehnte zur endgültigen Feststellung seiner fundamentalen Verfassungseinrichtungen. Man glaube nicht, daß ich mich über das Maß der Zeiten und Schwierigkeiten in Österreich irgendwelcher Täuschung hingebe.“ [6*]

Alles das ist sehr bestimmt gesagt. Können aber die russischen Marxisten anders als die nationale Frage mit „kühnen, entschlossenen Taten“ verbinden? Können sie auf Teilreformen, auf eine „Unzahl von Einzelgesetzen“ als Mittel zur Eroberung der „Freiheit der Nationalitäten“ rechnen? Wenn sie das aber nicht können und auch nicht sollen, folgt denn daraus nicht klar, daß die Kampfmethoden und die Perspektiven der Österreicher und der Russen grundverschieden sind? Wie kann man sich angesichts dieser Sachlage auf die einseitige und halbschlächtige nationalkulturelle Autonomie der Österreicher beschränken? Von zwei Dingen eins: Entweder rechnen die Anhänger der Entlehnung nicht auf „entschlossene und kühne Taten“ in Rußland, oder aber sie rechnen darauf, doch „sie wissen nicht, was sie tun“.

Schließlich stehen Rußland und Österreich vor grundverschiedenen aktuellen Aufgaben, was auch verschiedene Methoden bei der Lösung der nationalen Frage erheischt. Österreich lebt in parlamentarischen Verhältnissen, ohne Parlament wäre dort unter den gegenwärtigen Umständen keine Entwicklung möglich. Das parlamentarische Leben und die Gesetzgebung Österreichs werden aber häufig durch die schroffen Zusammenstöße der nationalen Parteien völlig stillgelegt. Daraus eben ist die chronische politische Krise zu erklären, an der Osterreich seit langem krankt. Deswegen ist dort die nationale Frage die Achse des politischen Lebens, eine Existenzfrage. Kein Wunder daher, daß die österreichischen sozialdemokratischen Politiker vor allem die Frage der nationalen Zusammenstöße irgendwie zu lösen suchen, natürlich auf dem Boden des bereits bestehenden Parlamentarismus, mit parlamentarischen Mitteln ...

Anders in Rußland. In Rußland haben wir erstens „Gott sei Dank kein Parlament“. [9] Zweitens – und das ist die Hauptsache – bildet in Rußland nicht die nationale Frage, sondern die Agrarfrage die Achse des politischen Lebens. Darum ist das Schicksal der russischen Frage und somit auch der „Befreiung“ der Nationen in Rußland mit der Lösung der Agrarfrage, das heißt mit der Vernichtung der Überreste der Leibeigensdiaft, das heißt mit der Demokratisierung des Landes verbunden. Daraus läßt sich denn auch erklären, warum in Rußland die nationale Frage nicht als eine selbständige und entscheidende Frage, sondern als ein Teil der allgemeinen und wichtigeren Frage der Befreiung des Landes von seinen Fesseln hervortritt.

„Die Unfruchtbarkeit des österreichischen Parlaments“, schreibt Springer, „ist gerade dadurch hervorgerufen, daß jede Reform innerhalb der nationalen Parteien Gegensätze schafft, die ihr Gefüge lockern könnten. Darum vermeiden die führenden Persönlichkeiten geradezu jede Anregung. Ein Fortschritt Osterreichs ist überhaupt nur denkbar, wenn den Nationen unentziehbare Rechtspositionen eingeräumt werden, die ihnen die ständige Erhaltung einer nationalen Kampftruppe im Parlament ersparen und es ihnen möglich machen, sich wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben zuzuwenden.“ [7*]

Dasselbe sagt Bauer:

„Der nationale Frieden ist zunächst eine Notwendigkeit für den Staat. Der Staat kann es nicht vertragen, daß die albernste Sprachenfrage, daß jeder Sireit erregter Menschen an der Sprachgrenze, daß jede neue Schule die Gesetzgebung stillegt.“ [8*]

Das alles ist verständlich. Nicht weniger verständlich ist es aber, daß in Rußland die nationale Frage auf einer ganz anderen Ebene liegt. Nicht die nationale, sondern die Agrarfrage entscheidet das Schicksal des Fortschritts in Rußland. Die nationale Frage ist eine untergeordnete Frage.

Also eine verschiedene Fragestellung, verschiedene Perspektiven und Kampfmethoden, verschiedene unmittelbare Aufgaben. Ist es etwa nicht einleuchtend, daß bei einer derartigen Lage der Dinge nur Papiermenschen, die die nationale Frage jenseits von Raum und Zeit „lösen“, in Osterreich Beispiele suchen und sich mit einer Entlehnung des Programms abgeben können?

Noch einmal: Die konkreten historischen Verhältnisse als Ausgangspunkt, eine dialektische Stellung der Frage als einzig richtige Fragestellung – das ist der Schlüssel zur Lösung der nationalen Frage.

 

 

Fußnoten

1*. Die südslawische Sozialdemokratie ist im Süden Österreichs tätig.

2*. W. Kossowski, Fragen der Nationalität, 1907, S.16/17.

3*. R. Springer, a.a.O., S.14.

4*. O. Bauer, a.a.O., S.399.

5*. Ebenda, S.422

6*. R. Springer, a.a.O., S.281/282.

7*. Ebenda, S.86.

8*. O. Bauer, a.a.O., S.401.

 

Anmerkungen

7. Der IV. Kongreß des „Bund“ tagte Ende April 1901 in Bialystok.

8. Der Brünner Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie tagte vom 24. bis zum 29. September 1899. Der vom Parteitag in der nationalen Frage beschlossene Resolutionswortlaut wird von J.W. Stalin im folgenden Kapitel dieser Arbeit (Kap.3) angeführt.

9. „Bei uns gibt es Gott sei Dank kein Parlament“ – Worte des zaristischen Finanzministers (späteren Ministerpräsidenten) W. Kokowzew, gesprochen in der Reichsduma am 24. April 1908.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2004