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Referat auf dem 12. Syndikalisten-Kongress (27.–30. Dezember 1919). [1]
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Die heutige Gesellschaftsordnung, die auch die kapitalistische genannt wird, gründet sich auf die wirtschaftliche, politische und soziale Versklavung des werktätigen Volkes und findet einerseits im sogenannten „Eigentumsrecht“, d. h. im Monopol des Besitzes, andererseits im Staat, d. h. im Monopol der Macht ihren wesentlichen Ausdruck.
Durch Monopolisierung des Bodens und der übrigen Produktionsmittel in der Hand kleiner privilegierter Gesellschaftsgruppen sind die produzierenden Klassen gezwungen, ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten den Eigentümern zu verkaufen, um ihr Leben fristen zu können, und müssen infolge dessen einen erheblichen Teil ihres Arbeitsertrages an die Monopolkapitalisten abtreten. Auf diese Weise in die Stellung rechtloser Lohnsklaven gedrängt, haben sie keinerlei Einfluß auf den Gang und die Gestaltung der Produktion, die ganz und gar dem Selbstbestimmungsrecht des Kapitalisten überlassen ist. Es ist daher auch ganz natürlich, daß bei einem solchen Zustand der Dinge die Grundlage der heutigen Gütererzeugung nicht durch die Bedürfnisse der Menschen, sondern in erster Linie durch die Voraussetzung des Gewinns für den Unternehmer bestimmt wird. Da aber dasselbe System auch dem Austausch und der Verteilung der Produkte zugrunde liegt, so sind die Folgen auch auf diesem Gebiet dieselben und finden in der rücksichtslosen Ausbeutung der breiten Massen zugunsten einer kleinen Minderheit Besitzender ihren Ausdruck. Ist die Beraubung des Produzenten der mehr oder weniger verschleierte Zweck der kapitalistischen Produktion, so ist der Betrug an den Konsumenten der eigentliche Zweck des kapitalistischen Handelns.
Unter dem System des Kapitalismus werden alle Errungenschaften der Wissenschaft und des geistigen Fortschritts den Monopolisten Untertan gemacht. Jede neue Entwicklung auf dem Gebiet der Technik, der Chemie usw. trägt dazu bei, die Reichtümer der besitzenden Klasse ins Ungemessene zu steigern, im schauerlichen Gegensatz zu dem sozialen Elend breiter Gesellschaftsschichten und zu der andauernden wirtschaftlichen Unsicherheit der produzierenden Klassen.
Durch den ununterbrochenen Kampf der verschiedenen nationalen kapitalistischen Gruppen um die Beherrschung der Märkte, wird eine ständige Ursache innerer und äußerer Krisen geschaffen, die periodisch in verheerenden Kriegen zur Entladung kommt, unter deren schrecklichen Folgen wiederum die unteren Schichten der Gesellschaft fast ausschließlich zu leiden haben. Die gesellschaftliche Klassenteilung und der brutale Kampf „Aller gegen Alle“, diese charakteristischen Merkmale der kapitalistischen Ordnung, wirken in der selben Zeit auch degenerierend und verhängnisvoll auf den Charakter und das Moralempfinden des Menschen, indem sie die unschätzbaren Eigenschaften der gegenseitigen Hilfe und des solidarischen Zusammengehörigkeitsgefühls, jene kostbare Erbschaft, welche die Menschheit aus den frühen Perioden ihrer Entwicklung übernommen hat, in den Hintergrund drängen und durch krankhafte antisoziale Züge und Gewohnheiten ersetzen, die im Verbrechen, in der Prostitution und in allen anderen Erscheinungen der gesellschaftlichen Fäulnis ihren Ausdruck findet.
Mit der Entwicklung des Privatbesitzes und den damit verbundenen Klassengegensätzen entstand für die besitzenden Klassen die Notwendigkeit einer mit allen technischen Mitteln ausgerüsteten politischen Organisation zum Schutz ihrer Privilegien und zur Niederhaltung der breiten Massen – der Staat. Ist der Staat somit in erster Linie ein Produkt des Privatmonopols und der Klassenteilung, so wirkt er, einmal in Existenz, mit allen Mitteln der List und Gewalt für die Aufrechterhaltung des Monopols und der Klassenunterschiede, folglich für die Verewigung der wirtschaftlichen und sozialen Versklavung der breiten Masse des Volkes und hat sich im Laufe seiner Entwicklung zur gewaltigen Ausbeutungsinstitution der zivilisierten Menschheit emporgeschwungen.
Die äußerliche Form des Staates ändert an dieser geschichtlichen Tatsache nichts. Monarchie und Republik, Despotie oder Demokratie – sie alle stellen nur verschiedene politische Ausdrucksformen des jeweiligen wirtschaftlichen Ausbeutungssystem dar, die sich zwar in ihrer äußerlichen Gestaltung, nie aber in ihrem innerlichen Wesen voneinander unterscheiden und in allen ihren Formen nur eine Verkörperung der organisierten Gewalt der besitzenden Klassen sind.
Mit der Entstehung des Staates beginnt die Ära der Zentralisation, der künstlichen Organisation von oben nach unten. Kirche und Staat waren die ersten Vertreter dieses Systems und sind bis heute seine vornehmsten Träger geblieben. Und da es im Wesen des Staates liegt alle Zweige des menschlichen Lebens seiner Autorität unterzuordnen, so muß die Methode der Zentralisierung desto verhängnisvollere Folgen haben, je mehr der Staat den Kreis seiner Funktionen erweitern und ausbauen konnte. Ist doch der Zentralismus die extremste Verkörperung jenes Systems, das die Regelung der Angelegenheit Aller, einzelnen Personen in Bausch und Bogen überträgt.
Dadurch wird der Einzelne zur Marionette, die von oben her gelenkt und geleitet wird, ein totes Rad in einem ungeheuren Mechanismus. Die Interessen der Allgemeinheit müssen den Privilegien einer Minderheit das Feld räumen, die persönliche Initiative dem Befehl von oben, die Verschiedenartigkeit der Uniformität, die innere Verantwortlichkeit einer toten Disziplin, die Erziehung der Persönlichkeit einer geistlosen Dressur. – und das alles zu dem Zwecke, loyale Untertanen heranzubilden, die an dem Fundament des Bestehenden nicht zu rütteln wagen, willige Ausbeutungsobjekte für den kapitalistischen Arbeitsmarkt. So wird der Staat zum mächtigsten Hemmnis jedes Fortschritts und jeder kulturellen Entwicklung, zum festen Bollwerk der besitzenden Klassen gegen die Befreiungsbestrebungen des arbeitenden Volkes.
Die Syndikalisten, in klarer Erkenntnis der oben festgestellten Tatsachen, sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung des Bodens, der Arbeitsinstrumente, der Rohstoffe und aller sozialen Reichtümer; die Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens auf der Basis des freien, d. h. des staatenlosen Kommunismus, der in der Devise: „jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach, seinen Bedürfnissen!“ seinen Ausdruck findet.
Ausgehend von der Erkenntnis, daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage ist und als solche nur von unten nach oben durch die schöpferische Tätigkeit des Volkes gelöst werden kann, verwerfen die Syndikalisten jedes Mittel einer sogenannten Verstaatlichung, das nur zur schlimmsten Form der Ausbeutung, zum Staatskapitalismus, nie aber zum Sozialismus führen kann.
Die Syndikalisten sind der Überzeugung, daß die Organisation einer sozialistischen Wirtschaftsordnung nicht durch Regierungsbeschlüsse und Dekrete geregelt werden kann, sondern nur durch den Zusammenschluß aller Kopf- und Handarbeiter in jedem besonderen Produktionszweige: durch die Übernahme der Verwaltung jedes einzelnen Betriebes durch die Produzenten selbst und zwar in der Form, daß die einzelnen Gruppen, Betriebe und Produktionszweige selbständige Glieder des allgemeinen Wirtschaftsorganismus sind, die auf Grund gegenseitiger und freier Vereinbarungen die Gesamtproduktion und die allgemeine Verteilung planmäßig gestalten im Interesse der Allgemeinheit.
Die Syndikalisten sind der Meinung, daß politische Parteien, welchem Ideenkreis sie auch angehören, niemals imstande sind, den sozialistischen Aufbau durchführen zu können, sondern daß diese Arbeit nur von den wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter geleistet werden kann. Aus diesem Grunde erblicken sie in der Gewerkschaft keineswegs ein vorübergehendes Produkt der kapitalistischen Gesellschaft, sondern die Keimzelle der zukünftigen sozialistischen Wirtschaftsorganisation. In diesem Sinne erstreben die Syndikalisten schon heute eine Form der Organisation, die sie befähigen soll, ihrer großen historischen Mission und in derselben Zeit dem Kampfe für die täglichen Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsverhältnisse gerecht zu werden.
An jedem Ort schließen sich die Arbeiter der revolutionären Gewerkschaft ihrer resp. Berufe an, die keiner Zentrale unterstellt ist, ihre eigenen Gelder verwaltet und über vollständige Selbstbestimmung verfügt. Die Gewerkschaften der verschiedenen Berufe vereinigen sich an jedem Orte in der Arbeiterbörse, dem Mittelpunkt der lokalen gewerkschaftlichen Tätigkeit und der revolutionären Propaganda. Sämtliche Arbeiterbörsen des Landes vereinigen sich in der Allgemeinen Föderation der Arbeiterbörsen, um ihre Kräfte in allgemeinen Unternehmungen zusammenfassen zu können.
Außerdem ist jede Gewerkschaft noch föderativ verbunden mit sämtlichen Gewerkschaften desselben Berufs im ganzen Lande und diese wieder mit den verwandten Berufen, die sich zu großen allgemeinen Industrieverbänden zusammenschließen. Auf diese Weise bilden die Föderation der Arbeiterbörsen und die Föderation der Industrieverbände die beiden Pole, um die sich das ganze gewerkschaftliche Leben dreht.
Würden nun bei einer siegreichen Revolution die Arbeiter vor das Problem des sozialistischen Aufbaues gestellt, so würde sich jede Arbeiterbörse in eine Art lokales statistisches Büro verwandeln, und sämtliche Häuser, Lebensmittel, Kleider usw. unter ihre Verwaltung nehmen. Die Arbeiterbörse hätte die Aufgabe, den Konsum zu organisieren und durch die Allgemeine Föderation der Arbeiterbörsen wäre man dann leicht Imstande, den Gesamtverbrauch des Landes zu berechnen und auf die einfachste Art organisieren zu können.
Die Industrieverbände ihrerseits hätten die Aufgabe, durch die lokalen Organe und mit Hilfe der Betriebsräte sämtliche vorhandenen Produktionsmittel, Rohstoffe usw. unter ihre Verwaltung zu nehmen und die einzelnen Produktionsgruppen und Betriebe mit allem Notwendigen zu versorgen. Mit einem Worte: Organisation der Betriebe und Werkstätten durch die Betriebsräte; Organisation der allgemeinen Produktion durch die industriellen und landwirtschaftlichen Verbände; Organisation des Konsums durch die Arbeiterbörsen.
Als Gegner jeder staatlichen Organisation verwerfen die Syndikalisten die sogenannte Eroberung der politischen Macht, und sehen vielmehr in der radikalen Beseitigung jeder politischen Macht die erste Vorbedingung zu einer wahrhaft sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist aufs engste verknüpft mit der Beherrschung des Menschen durch den Menschen, so daß das Verschwinden der einen notwendigerweise zum Verschwinden der anderen führen muß.
Die Syndikalisten verwerfen prinzipiell jede Form der parlamentarischen Betätigung, jede Mitarbeit in den gesetzgebenden Körperschaften – ausgehend von der Erkenntnis, daß auch das freieste Wahlrecht die klaffenden Gegensätze innerhalb der heutigen Gesellschaft nicht mildern kann und daß das ganze parlamentarische System nur den Zweck verfolgt, dem System der Lüge und der sozialen Ungerechtigkeit den Schein des legalen Rechts zu verleihen – den Sklaven, zu veranlassen, seiner eigenen Sklaverei den Stempel des Gesetzes aufzudrücken.
Die Syndikalisten verwerfen alle willkürlich gezogenen politischen und nationalen Grenzen; sie erblicken im Nationalismus lediglich die Religion des modernen Staates und verwerfen prinzipiell alle Bestrebungen zur Erzielung einer sogenannten nationalen Einheit, hinter der sich doch nur die Herrschaft der besitzenden Klassen verbirgt. Sie anerkennen nur Unterschiede regionaler Natur und fordern für jede Volksgruppe das Recht, ihre Angelegenheiten und ihre besonderen Kulturbedürfnisse gemäß ihrer eigenen Art und Veranlagung erledigen zu können im solidarischen Einverständnis mit allen anderen Gruppen und Volksverbänden.
Die Syndikalisten stehen auf dem Boden der direkten Aktion und unterstützen alle Bestrebungen und Kämpfe des Volkes, die mit ihren Zielen – der Abschaffung der Wirtschaftsmonopole und der Gewaltherrschaft des Staates – nicht im Widerspruch stehen. Ihre Aufgabe ist es, die Massen geistig zu erziehen und in den wirtschaftlichen Kampforganisation zu vereinigen, um dieselben durch die direkte wirtschaftliche Aktion, die im sozialen Generalstreik ihren höchsten Ausdruck findet, der Befreiung vom Joche der Lohnsklaverei und des modernen Klassenstaates entgegen zu führen.
Wenn ich das Wort zu einer näheren Begründung der Prinzipienerklärung ergreife, so ist es deshalb, weil wir alle das Bedürfnis empfinden, gerade jetzt, in unserer vielbewegten Zeit, den Grundsätzen und taktischen Methoden des Syndikalismus in der klarsten und bestimmtesten Form Ausdruck zu geben. Man hat sehr viel debattiert über den Namen unserer Bewegung und viele Genossen hier haben Anstoß genommen an dem Wort „Syndikalismus“. Aber vergessen wir doch nicht, daß es nicht auf das Wort, sondern auf die Idee ankommt, die eine Bewegung deckt. In den meisten Fällen sind es die Gegner, die einer Partei ihren Namen aufzwingen. Daher kommt es, daß die meisten Worte, die den Tageskampf beherrschen, in der Regel ganz nichtssagender Natur sind, wenn man sie rein etymologisch beurteilt. Das Wort Bolschewismus, das heute zum Schreckgespenst Europas geworden ist, und dem Sinn nach nicht mehr bedeutet als Mehrheitsrichtung, ist der beste Beweis dafür. Aber auch das Wort „Sozialismus“ drückt eigentlich nur den Gedanken der Gemeinschaft aus, ebenso das Wort „Kommunismus“. Dasselbe ist mit dem Wort „Syndikalismus“ der Fall, das nicht mehr wie Vereinigung heißt. Es gibt kapitalistische und es gibt gewerkschaftliche Syndikate. Es handelt sich also nicht um das Wort an und für sich, sondern um die Idee, die es deckt. Wenn das Wort den Gegnern der Volksbestrebungen heute verhaßt ist, so ist es deshalb, weil die Bestrebungen und Methoden der syndikalistischen Bewegung den herrschenden Klassen gefährlich erscheinen. Es gab eine Zeit, wo das Wort „Christ“ allgemein verpönt war, und wenn wir uns heute die Freie Vereinigung katholischer Klosterbrüder nennen würden, so wäre das Resultat ganz dasselbe. Man braucht sich auf das Wort „Syndikalismus“ ja nicht versteifen; allein es gibt einen Umstand, der uns gerade verpflichtet, den alten, sturmerprobten Namen auch fernerhin beizubehalten. Unsere Bewegung ist nämlich nicht nur nationaler, sondern internationaler Natur. Der in Deutschland so verpönte Syndikalismus ist in manchen Ländern die wirtschaftliche Einheitsorganisation des Proletariats geworden, deshalb ist das Wort das Erkennungszeichen, das uns mit unseren Brüdern jenseits der deutschen Grenzen verbündet. Das sollte auch den Genossen zu denken geben, die da glauben, das Wort Syndikalismus aus praktischen Gründen ablehnen zu müssen.
1. Referat des Genossen Rudolf Rocker auf dem 12. Syndikalisten-Kongress, abgehalten vom 27. bis 30. Dezember 1919 in dem „Luisenstädtischen Realgymnasium“ zu Berlin, Dresdener Straße.
Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2021