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Die Erzeugung überzähliger Arbeiter geht in verschiedenen Formen vor sich.
In vielen Zweigen der Großindustrie werden männliche Arbeiter nur bis zu einem gewissen Alter in Massen verbraucht, wovon später nur noch ein kleiner Teil in dem gleichen Geschäftszweige verwendbar bleibt, eine große Anzahl aber beständig herausgeworfen wird. Ein Teil dieser „Überflüssigen“ wandert aus resp. läuft dem auswandernden Kapital nach. Eine Folge davon ist, daß die weibliche Bevölkerung rascher zunimmt als die männliche.
Auch der scheinbare Widerspruch, daß gleichzeitig Mangel und Überfluß an Arbeitern vorhanden sein kann, erklärt sich aus den Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Produktionsweise. Einesteils braucht das Kapital verhältnismäßig größere Massen jugendlicher als erwachsener männlicher Arbeiter, andernteils kettet die Teilung der Arbeit die Arbeiter an bestimmte Geschäftszweige. So lagen im Jahre 1866 zu London 80 000 bis 90 000 Arbeiter auf dem Pflaster, und gleichzeitig wurde in den Fabrikdistrikten über Mangel an „Händen“ geklagt.
Bei dem raschen Verbrauch der Arbeitskraft durch das Kapital ist der Arbeiter von mittlerem Alter meist schon überlebt und fällt in die Reihen der Überzähligen oder muß sich bequemen, statt der bisherigen höheren niedrige (schlechter bezahlte) Arbeiten zu verrichten. Es liegt im Interesse des Kapitals, daß sich die Arbeitergenerationen rasch ablösen, so daß trotz der frühzeitigen Abnutzung immer frische Arbeitskraft in hinlänglicher Menge vorhanden ist. Dies wird erreicht durch frühzeitige Ehen, die eine notwendige Folge der Verhältnisse sind, in welchen die großindustriellen Arbeiter leben, und durch den Umstand, daß die Arbeiterkinder schon sehr bald ausgebeutet werden, „verdienen“ helfen, was zu deren Erzeugung anspornt oder wenigstens nicht davon abschreckt.
Sobald sich die kapitalistische Produktion der Landwirtschaft bemächtigt, nimmt in demselben Verhältnis, in welchem auf diesem Gebiete die Kapitalvermehrung zunimmt, die Nachfrage für die ländliche Arbeiterbevölkerung ab. Je mehr der Landbau maschinenmäßig betrieben wird, desto weniger Arbeiter sind natürlich erheischt, und hier geht es nicht wie bei der Fabrikindustrie, wo die Freigesetzten wenigstens zum Teil wieder in den neuentstehenden Fabriken Unterkommen finden, während der fabrikmäßig betriebene Landbau einen immer größeren Teil des Bodens in Viehweide verwandelt. Ein Teil der Landarbeiter befindet sich daher fortwährend unterwegs vom Ackerbau zur Industrie und bildet so eine beständig fließende Quelle der städtischen Arbeitervermehrung.
Es setzt dies natürlich einen stetigen, wenn auch versteckten Arbeiterüberfluß auf dem Lande voraus, der in seinem ganzen Umfang nur dann sichtbar wird, wenn die Industrie zeitweis ungewöhnlich viele Arbeitskräfte in Anspruch nimmt. (Die Übervölkerung der Landarbeiter und deren steter Zuzug zur Industrie ist vorläufig nur in England besonders augenfällig zu beobachten, muß sich aber mit der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise nach und nach allenthalben in der gleichen Weise offenbaren.)
Die stockende Übervölkerung bildet eigentlich einen Teil der tätigen Arbeiterarmee, ist jedoch nur höchst unregelmäßig beschäftigt. Ihre Lebenslage sinkt unter die durchschnittliche Lage der arbeitenden Klassen, und gerade dieser Umstand macht sie zur breiten Grundlage eigener Ausbeutungszweige des Kapitals. Längste Arbeitszeit und niedrigster Lohn sind hier zu Hause. Wir haben bei Erwähnung der sogenannten Hausarbeit die Hauptgestalt dieser Arbeitergattung kennengelernt.
Und gerade dieses Element der Arbeiterklasse vermehrt sich am raschesten. So sonderbar es ist, ist es doch eine Tatsache, daß diejenigen Arbeiterkategorien die stärksten Familien haben, deren Arbeitslohn der niedrigste ist. Es erinnert dies an die massenhafte Vermehrung Schwacher und vielgehetzter Tierarten.
Den Bodensatz der Übervölkerung bildet die totale Verarmung, der Pauperismus. Wenn man absieht von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten etc., so findet man hier im wesentlichen drei verschiedene Gattungen. Erstens Arbeitsfähige, d. h. solche, die nur zeitweilig Arbeit finden können, zeitweilig aber von Unterstützung leben, Bettler sind. Zweitens Waisen- und Armenkinder, echte Kandidaten der industriellen Reservearmee, welche zu Zeiten guten Geschäftsganges massenhaft zur Produktion herangezogen werden. Drittens Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige etc. Es sind dies teils solche, welche an den durch die Teilung der Arbeit verursachten Einseitigkeiten zugrunde gehen, teils solche, die über das Normalalter eines Arbeiters hinausleben, teils Opfer der Industrie, deren Zahl mit gefährlicher Maschinerie, Bergbau, chemischen Fabriken etc. wächst, z. B. Verstümmelte, Erkrankte, Witwen etc.
Die Erzeugung resp. Verewigung dieser Elenden ist eingeschlossen in der Erzeugung der Übervölkerung und bildet mit dieser eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktion und der Entwicklung des Reichtums. Das Kapital weiß jedoch stets die Erhaltung der durch seine Ausbeuterei produzierten Verarmten auf die Schultern des arbeitenden Volkes abzuwälzen.
Es zeigte sich bei Erörterung der Produktion des Mehrwerts, daß alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivität der Arbeit in der kapitalistischen Form sich auf Kosten des individuellen Arbeiters entwickeln, daß alle Mittel zur Bereicherung der Produktion in Beherrschungs- und Ausbeutungsmittel der Produzenten, des Arbeiters, umschlagen, daß sie denselben in einen Teilmenschen verstümmeln, ihn zum Anhängsel der Maschine entwürdigen, mit der Qual der Arbeit ihren Inhalt vernichten, ihm die geistigen Mächte des Arbeitsprozesses entfremden, im selben Maße, worin derselbe sich die Wissenschaft als produktive Macht einverleibt, die Bedingungen, innerhalb denen er arbeitet, beständig unregelmäßiger machen, ihn während der Arbeitsverrichtung der kleinlichst gehässigen Despotie unterwerfen, seine Lebenszeit in Arbeitszeit verwandeln und sein Weib und Kind dem Kapital in den Rachen werfen. Aber alle Methoden zur Erzeugung des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Kapitalanhäufung, und jede Kapitalanhäufung wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung der Methoden.
Es folgt daher, daß im Maße, wie das Kapital wächst, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung (also auch, wenn scheinbar eine Verbesserung eintritt), sich verschlechtert. Das Gesetz endlich, welches die industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Kapitalausdehnung im Gleichgewichte hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als (nach der griechischen Sage) den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Vermehrung des Kapitals entsprechende Vermehrung von Elend. Die Vermehrung von Kapital auf dem einen Pol ist also zugleich Vermehrung von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital erzeugt.
(Der engbegrenzte Raum einer Broschüre, welche auf eine massenhafte Verbreitung berechnet ist, gestattet leider die Wiedergabe der vielen statistischen und sonstigen Daten des Marxschen Werkes nicht; allein es dürfte für jeden Arbeiter unschwer sein, mit eigenen Augen zu be[ob]achten, wie der Reichtum der Ausbeuter zunimmt und wie gleichzeitig die Arbeiter immer tiefer in Knechtschaft, Not und Elend versinken.)
Zuletzt aktualisiert am 9.11.2008