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In der Geschichte der menschlichen Erkenntnis existieren seit jeher zwei Auffassungen von den Entwicklungsgesetzen der Welt: die eine ist die metaphysische, die andere die dialektische; sie bilden zwei entgegengesetzte Arten der Weltanschauung.
Lenin sagt:
Die beiden grundlegenden (oder die beiden möglichen? oder die beiden in der Geschichte zu beobachtenden?) Konzeptionen der Entwicklung (Evolution) sind: Entwicklung als Abnahme und Zunahme, als Wiederholung, und Entwicklung als Einheit der Gegensätze (Spaltung des Einheitlichen in einander ausschließende Gegensätze und das Wechselverhältnis zwischen ihnen). [4]
Lenin spricht gerade von diesen zwei verschiedenen Weltanschauungen.
Die Metaphysik nennt man in China auch Hsüanhsuä. Sowohl in China wie in Europa gehörte diese Denkweise im Laufe einer sehr langen historischen Periode zur idealistischen Weltanschauung, und sie beherrschte die Köpfe der Menschen. In Europa war in der Frühzeit der Bourgeoisie auch der Materialismus metaphysisch. Da eine Reihe europäischer Länder im Laufe ihrer sozial-ökonomischen Entwicklung in das Stadium des hochentwickelten Kapitalismus eingetreten war, die Produktivkräfte, der Klassenkampf und die Wissenschaft ein in der Geschichte nie dagewesenes Niveau erreicht hatten und das Industrieproletariat zur mächtigsten Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung geworden war, entstand infolgedessen die marxistische, dialektisch-materialistische Weltanschauung. Als dann kam in der Bourgeoisie, nebst dem offenen, völlig unverhüllten reaktionären Idealismus, ein vulgärer Evolutionismus als Widerpart der materialistischen Dialektik auf.
Die Weltanschauung der Metaphysik oder des vulgären Evolutionismus betrachtet alle Dinge in der Welt isoliert, statisch und einseitig. Alle Dinge in der Welt, ihre Formen und ihre Gattungen wären demnach ewig voneinander isoliert, ewig unveränderlich. Insofern von Veränderungen die Rede ist, dann nur von quantitativer Zunahme oder Abnahme und von Ortsveränderung. Dabei sollen die Ursachen einer solchen Zunahme oder Abnahme beziehungsweise einer solchen Ortsveränderung nicht in den Dingen selbst liegen, sondern außerhalb ihrer, das heißt in der Einwirkung äußerer Kräfte. Die Metaphysiker vertreten die Auffassung, daß die verschiedenen Dinge in der Welt sowie ihre Eigenschaften vom Beginn ihres Seins an unverändert blieben, ihre späteren Veränderungen bloß quantitative Vergrößerungen oder Verkleinerungen seien. Die Metaphysiker sind der Ansicht, daß ein Ding nur ewig sich selbst reproduzieren, sich aber nicht in ein anderes, von ihm unterschiedliches Ding verwandeln könne. Die Metaphysiker glauben, daß die kapitalistische Ausbeutung, die kapitalistische Konkurrenz, die individualistische Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft usw. – daß das alles auch in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, ja sogar in der Urgesellschaft anzutreffen sei, daß es ewig und unverändert existieren werde. Was die Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung betrifft, so erklären die Metaphysiker sie aus Bedingungen, die außerhalb der Gesellschaft liegen – aus dem geographischen Milieu, dem Klima usw. Die Metaphysiker versuchen einfach, außerhalb der Dinge die Ursachen ihrer Entwicklung zu finden, und bestreiten die These der materialistischen Dialektik, wonach die Entwicklung der Dinge durch die ihnen innewohnenden Widersprüche hervorgerufen wird. Daher sind sie nicht in der Lage, die qualitative Vielfalt der Dinge und das Umschlagen einer Qualität in eine andere zu erklären. In Europa trat diese Denkweise im 17. und 18. Jahrhundert als mechanischer Materialismus sowie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als vulgärer Evolutionismus in Erscheinung. In China wurde die metaphysische Denkweise, die in den Worten „Der Himmel ist unveränderlich, und unveränderlich ist auch Tao“ [5] zum Ausdruck kommt, im Laufe einer sehr langen Zeit von den verfaulten herrschenden Feudalklassen unterstützt. Den mechanischen Materialismus und den vulgären Evolutionismus dagegen, die in den letzten hundert Jahren aus Europa importiert wurden, unterstützt die Bourgeoisie.
Im Gegensatz zur metaphysischen Weltanschauung vertritt die dialektisch-materialistische Weltanschauung die Meinung, daß wir beim Studium der Entwicklung der Dinge von ihrem inneren Gehalt, von dem Zusammenhang des einen Dinges mit anderen ausgehen sollen, das heißt, daß wir die Entwicklung der Dinge als ihre innere, notwendige Selbstbewegung betrachten, wobei sich jedes Ding in seiner Bewegung mit den anderen, es umgebenden Dingen in Zusammenhang und Wechselwirkung befindet. Die Grundursache der Entwicklung eines Dinges liegt nicht außerhalb, sondern innerhalb desselben; sie liegt in seiner inneren Widersprüchlichkeit. Allen Dingen wohnt diese Widersprüchlichkeit inne, und sie ist es, die die Bewegung und Entwicklung dieser Dinge verursacht. Diese innere Widersprüchlichkeit der Dinge ist die Grundursache ihrer Entwicklung, während der Zusammenhang und die Wechselwirkung eines Dinges mit anderen Dingen sekundäre Ursachen darstellen. Somit tritt die materialistische Dialektik der Theorie von der äußeren Ursache, vom äußeren Anstoß, die dem metaphysischen mechanischen Materialismus und dem metaphysischen vulgären Evolutionismus eigen ist, entschieden entgegen. Es ist klar, daß rein äußere Ursachen nur eine mechanische Bewegung der Dinge hervorzurufen vermögen, das heißt eine Vergrößerung oder Verkleinerung des Umfangs, Vermehrung oder Verminderung der Menge; es läßt sich aber aus ihnen nicht erklären, warum den Dingen eine unendliche qualitative Mannigfaltigkeit und ihre wechselseitige Verwandlung ineinander eigentümlich sind. In Wirklichkeit wird selbst die durch einen äußeren Anstoß ausgelöste mechanische Bewegung ebenfalls mittels der inneren Widersprüchlichkeit der Dinge bewerkstelligt. Auch das einfache Wachstum, die quantitative Entwicklung in der Pflanzen- und Tierwelt wird hauptsächlich durch innere Widersprüche bewirkt. Ebenso ist die Entwicklung der Gesellschaft in der Hauptsache nicht durch äußere, sondern durch innere Ursachen bedingt. Viele Länder mit fast den gleichen geographischen und klimatischen Bedingungen unterscheiden sich dem Stand ihrer Entwicklung nach sehr stark voneinander und entwickeln sich äußerst ungleichmäßig. Sogar in ein und demselben Land gehen gewaltige soziale Wandlungen vor sich, ohne daß sich das geographische Milieu und das Klima geändert hätten. Das imperialistische Rußland verwandelte sich in die sozialistische Sowjetunion, und das abgekapselte feudale Japan wurde zum imperialistischen Japan, obwohl diese Länder keine geographischen und klimatischen Veränderungen erfahren haben. China, wo lange Zeit der Feudalismus herrschte, hat in den letzten hundert Jahren große Wandlungen durchgemacht und verändert sich jetzt in der Richtung eines emanzipierten, neuen China; doch die geographischen und klimatischen Verhältnisse in China sind gleichgeblieben. Zwar ändern sich auch die geographischen Bedingungen und das Klima der Erde als Ganzes wie ihrer einzelnen Teile, aber im Vergleich zu den gesellschaftlichen Wandlungen sind diese Veränderungen völlig belanglos: während die einen Zehntausende, Hunderttausende und Millionen von Jahren brauchen, um sich bemerkbar zu machen, genügen für die anderen Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte, ja sogar bloß einige Jahre oder Monate (in Zeiten der Revolution). Vom Gesichtspunkt der materialistischen Dialektik sind die Veränderungen in der Natur hauptsächlich durch die Entwicklung der Widersprüche innerhalb dieser selbst bedingt. Die gesellschaftlichen Veränderungen hängen in der Hauptsache von der Entwicklung der Widersprüche innerhalb der Gesellschaft ab, also der Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen den Klassen, zwischen dem Neuen und dem Alten; die Entwicklung dieser Widersprüche treibt die Gesellschaft vorwärts und gibt den Impuls für die Ablösung der alten Gesellschaft durch eine neue. Schließt die materialistische Dialektik äußere Ursachen aus? Keineswegs. Sie betrachtet die äußeren Ursachen als Bedingungen der Veränderung und die inneren Ursachen als deren Grundlage, wobei die äußeren Ursachen vermittels der inneren wirken. Bei einer entsprechenden Temperatur wird ein Ei zu einem Küken, aber keine Wärme kann einen Stein in ein Küken verwandeln; denn die Grundlage der Veränderung ist bei den beiden verschieden. Die verschiedenen Völker wirken beständig aufeinander ein. In der Epoche des Kapitalismus, insbesondere in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution, sind der wechselseitige Einfluß und Anstoß der verschiedenen Länder auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet sehr beträchtlich. Die Sozialistische Oktoberrevolution leitete eine neue Ära nicht nur in der Geschichte Rußlands, sondern auch in der Weltgeschichte ein. Sie beeinflußte die inneren Veränderungen in anderen Ländern der Welt, so auch – und zwar mit besonderer Tiefenwirkung – die inneren Veränderungen in China. Diese Veränderungen erfolgten jedoch vermittels der inneren Gesetzmäßigkeiten dieser Länder beziehungsweise Chinas selbst. Wenn in einer Schlacht das eine Heer siegt und das andere unterliegt, so werden Sieg und Niederlage durch innere Ursachen bestimmt. Der Sieg ist das Ergebnis der Stärke des Heeres oder seiner richtigen Führung, die Niederlage ist durch die Schwäche des Heeres oder durch Fehler der Führung bedingt; die äußeren Ursachen wirken vermittels der inneren. Die Niederlage, die in China im Jahre 1927 die Großbourgeoisie dem Proletariat zufügte, war durch den Opportunismus bewirkt worden, der in den Reihen des chinesischen Proletariats selbst (innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas) geherrscht hatte. Nachdem wir mit dem Opportunismus Schluß gemacht hatten, nahm die chinesische Revolution erneut einen Aufschwung. Später litt die chinesische Revolution wiederum ernstlich unter den Schlägen des Feindes: diesmal infolge des Abenteurertums, das innerhalb unserer Partei aufgetreten war. Und als wir dann mit dem Abenteurertum aufgeräumt hatten, erfuhr unsere Sache abermals einen Aufschwung. Folglich muß sich eine Partei, um die Revolution zum Sieg zu führen, auf die Richtigkeit ihrer politischen Linie und auf die Festigkeit ihrer Organisation stützen.
Die dialektische Weltanschauung ist sowohl in China als auch in Europa bereits im Altertum aufgekommen. Doch trug die Dialektik des Altertums einen spontanen, primitiven Charakter, konnte gemäß den sozialen und historischen Bedingungen jener Zeit noch nicht die Gestalt einer abgeschlossenen Theorie annehmen, daher auch keine umfassende Interpretation der Welt geben; sie wurde in der Folge durch die Metaphysik ersetzt. Der berühmte deutsche Philosoph Hegel, der Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts lebte, hat einen sehr bedeutsamen Beitrag zur Dialektik geleistet, aber seine Dialektik war idealistisch. Erst als die großen Vorkämpfer der proletarischen Bewegung Marx und Engels die in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis erzielten positiven Ergebnisse verallgemeinerten und insbesondere die rationellen Elemente der Hegelschen Dialektik kritisch übernahmen und die großartige Theorie des dialektischen und historischen Materialismus schufen, ging eine beispiellose Revolution in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis vor sich. Diese großartige Theorie wurde in der Folge von Lenin und Stalin weiterentwickelt. Sobald sie in China Eingang gefunden hatte, rief sie im geistigen Leben Chinas sofort die größten Veränderungen hervor.
Diese dialektische Weltanschauung lehrt uns vor allem, die Bewegung der Widersprüche in den verschiedenen Dingen verständnisvoll zu beobachten und zu analysieren und auf der Grundlage dieser Analyse die Methoden für die Lösung der Widersprüche zu bestimmen. Daher ist das konkrete Verständnis des Gesetzes von dem Widerspruch, der den Dingen innewohnt, für uns äußerst wichtig.
Zuletzt aktualisiert am 11.8.2008