Errico Malatesta

 

Anarchismus und Gewalt

(1918)


1987 veröffentlich als Broschüre von Anares.
Als PDF veröffentlicht von Organisation Socialiste Libertaire und Büro gegen finstere Zeiten.
Heruntergeladen mit Dank von der Webseite www.anarchismus.at
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die meisten Anarchisten sind gegenwärtig davon überzeugt, dass die moderne Gesellschaft nur durch gewaltsame, revolutionäre Mittel in eine bessere soziale Ordnung umgewandelt werden könne.

Aber andere Parteien, welche sich auch revolutionär geben, obwohl ihr revolutionärer Geist schon längst in den trüben Gewässern des Parlamentarismus erstickt wurde, gaben dem Wort „Revolution“ eine ganz besondere Deutung, und dank dieser Deutung hat sich der Gedanke allmählich durchgesetzt, dass die bewusste Empörung und die gewaltsame Revolution den eigentlichen Inhalt, die Quintessenz des Anarchismus, der anarchistischen Idee bilden.

Die Frage, in welcher Weise oder in welchem Massstab die Anwendung der Gewalt berechtigt oder nützlich ist, ist bislang leider nur sehr wenig diskutiert worden. Infolgedessen mengte man grundsätzlich verschiedene und ungleiche Begriffe unter ein und derselben Terminologie zusammen – ganz, wie man es mit anderen Problemen fälschlicherweise auch tat. Der beste Beweis für diese Tatsache kann dem Umstand entnommen werden, dass die zahlreichen terroristischen Akte, welche im Namen des Anarchismus begangen wurden, plötzlich die verschiedensten Anschauungen unter den Genossen hervorgerufen haben, Verschiedenheiten, welche früher nicht zutage traten und kaum berührt wurden.

Einige Genossen, abgestossen durch die Brutalität und Nutzlosigkeit verschiedener dieser Akte, erklären sich gegen jede Gewalt, ausgenommen in solchen Fällen, wo man uns direkt und unmittelbar attakiert. Es ist mir nicht möglich, mit diesen Genossen übereinzustimmen, da ich davon überzeugt bin, dass dies der Untergang jeder revolutionären Initiative bedeutete; wir würden höchstens einige unbedeutsame und oftmals unfreiwillige Helfershelfer der Regierung treffen, die eigentlichen Organisatoren des bestehenden Systems, jene, welche am meisten profitieren von der staatlichen und kapitalistischen Ordnung, würden nie getroffen werden.

Andere Genossen sind wieder ganz entgegengesetzter Meinung. In ihrer Verbitterung über den unablässigen Kampf und die unausgesetzte Verfolgung durch die Regierung, mehr oder weniger beeinflusst von den alten jacobinischen Ideen, in deren Umkreis die junge Generation erzogen wurde, wird jede Tat von ihnen gutgeheissen, was immer ihr Charakter oder ihre Wirkung auf die breiten Volksmassen sei, solange ihre Ausführung im Namen des Anarchismus stattfand. Diese Sorte von Anarchisten hat die Grundidee des Anarchismus so wenig verstanden, dass sie wirklich das Recht für sich beansprucht, über Leben und Tod jener zu urteilen, welche keine Anarchisten oder nicht solche sind wie sie.

Die grosse Masse ahnt natürlich nichts von den Diskussionen, welche in unserem Lager geführt werden. Da sie keine andere Ansicht vernimmt als die Verleumdungen der Tagespresse ist sie auch der Ansicht, der Anarchismus sei nichts anderes als Mord und Bomben, Anarchisten seien eine Art von blutrünstigen Tieren, die von nichts als Mord und Zerstörung träumen.

Darum ist es dringend notwendig geworden, eine klare und bestimmte Stellung zu dieser Sache einzunehmen. Es ist die Pflicht eines jeden Anarchisten über diese Frage nachzudenken, seine Stellung ihr gegenüber zu erklären, weil solches erstens die Interessen unserer Bewegung erfordern, zweitens jene der allgemeinen Propaganda und drittens unsere Beziehungen zur Gesellschaft und dem Menschen. Was meine Person anbelangt, so besteht für mich nicht der leiseste Zweifel darüber, dass die anarchistische Idee, welche jede Form von Regierung negiert, den direkten Gegensatz zu jeder Gewalt bildet, schon deshalb, weil ja die Gewalt der ureigentliche Inhalt eines jeden autoritären Systems, die Taktik jeder Regierung ist.

Anarchie bedeutet Freiheit und Solidarität und die Verwirklichung unserer Idee kann nur stattfinden durch Harmonie der Interessen, durch die freiwillige Initiative, durch Liebe, Achtung und gegenseitige Toleranz.

Wir sind Anarchisten, weil wir von der Überzeugung durchdrungen sind, dass es uns nie gelingen wird, die Wohlfahrt aller – das Ziel unseres ganzen Strebens – zu erringen, wenn wir nicht den Begriff der freien Vereinbarung unter den Menschen in Anwendung bringen können: die erste Bedingung für unser Ideal, und wir verdammen jeden Versuch, einen Menschen zwingen zu wollen, den Willen eines anderen anzuerkennen. Es ist wahr, auch in anderen Parteien vermögen wir Menschen von gleichem Ernst und derselben Ergebenheit den Interessen des Volkes gegenüber zu finden, wie bei uns. Aber was uns Anarchisten eine ganz besondere Charakteristik verleiht, uns von sämtlichen anderen Parteien unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir nicht der Meinung sind, die absolute und unteilbare Wahrheit befinde sich bei uns. Wir glauben nicht an die Allmacht und Unfehlbarkeit von Personen, denn dieser Glaube ist das Grundprinzip aller Gesetzgeber und Politiker, welcher Partei sie auch angehören mögen, und deshalb meinen wir nicht, das auserwählte Volk zu sein, welches allein imstande ist, im Interesse und zum Wohl aller zu denken und zu handeln. Wir sind die wirkliche Partei der Freiheit, die Partei freiester Entwicklung, die Partei des sozialen Experimentes.

Allein, diese Freiheit, welche wir für alle fordern, die Möglichkeit des Experimentes, um die Formen sozialer Entwicklung zu bestimmen, wird verhindert durch eherne Verfügungen und Gesetze. Ganze Armeen von Soldaten und Polizisten stehen bereit da, um zu töten oder jeden in den Kerker zu werfen, der die Gesetze nicht anerkennen will, welche eine Anzahl von Privilegierten machte, um sich ihre persönlichen Interessen zu sichern. Und sogar den unmöglichen Fall angenommen, dass die Soldaten und Polizisten nicht da wären – bei Beibehaltung der gegenwärtigen ökonomischen Strukturen ist die Freiheit unmöglich. Denn solange die sozialen Reichtümer und Produktionsmittel ausschliessliches Eigentum von einigen wenigen bleiben, wird die grosse Mehrheit der Menschen gezwungen sein, für jene wenigen zu arbeiten und in Not und Elend zu leben.

Unsere erste Aufgabe besteht darin, uns von der bewaffneten Macht zu befreien, welche die bestehenden Institutionen verteidigt und uns daran hindert, die Erde, die Produktionsmittel, sämtliche sozialen Reichtümer zurückzunehmen, damit jeder das Recht ihrer freien Benutzung habe. Diese Aufgabe wird nur gelöst werden – dies ist unsere innere Überzeugung – durch die physische Macht, die natürliche Steigerung des ökonomischen Antagonismus, die wachsende Erkenntnis eines aktiven Teils des Proletariats, die ständige Vermehrung der Arbeitslosen, den verblendeten Widerstand der Herrschenden. Mit einem Worte: der interne Zustand der gesamten sozialen Entwicklung muss uns logischerweise zum Ausbruch einer grossen Revolution führen, welche die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens gründlich verändern wird und deren erste Anzeichen wir schon jetzt beobachten können.

Diese Revolution wird mit oder ohne uns kommen; die Existenz einer sozialen Strömung, welche das Bewusstsein von dem Resultat dieser Revolution besitzt, ist die beste Garantie dafür, ihr eine bestimmte Richtung zu geben, ihren Charakter durch den Einfluss des Ideals zu mildern. Also darum, zu diesem Zwecke sind wir Revolutionäre.

Von diesem Standpunkt aus ist die Gewalt kein Widerspruch zum Anarchismus und seinen Prinzipien, denn sie ist nicht das Resultat unserer freien Wahl und Entschliessung; wir sind oftmals gezwungen, Gewalt anzuwenden, indem wir gezwungen werden, uns zu verteidigen und Rechte, die durch brutale Gewalt unterdrückt werden, geltend zu machen. Nochmals sei es festgestellt: Als Anarchisten haben wir weder die Absicht, noch den Wunsch, Gewalt anzuwenden, wenn man uns nicht zwingt, sich oder andere gegen Unterdrückung zu verteidigen. Nur dieses Recht der Selbstverteidigung fordern wir voll und ganz. Das ist der Grund, weshalb wir das Instrument zu zerbrechen versuchen, das uns verwundet, weshalb wir die Hand angreifen, welche dieses Instrument führt und den Kopf, welcher seine Richtung bestimmt. Zeit, Ort oder Art der Attacke wählt sich der einzelne selbstständig aus, wann und wie sie ihm am günstigsten scheinen.

Unglücklicherweise finden wir unter den Taten, die im Namen des Anarchismus begangen werden, auch solche, die man unberechtigterweise mit jenen zusammenwirft, die in Wahrheit anarchistische Handlungen waren. Persönlich protestiere ich entschieden gegen diese Vermengung von Taten, die total verschieden an moralischem Gehalt und praktischen Folgen sind. Meiner Meinung nach ist ein gewaltiger Unterschied zwischen der Tat eines Mannes, der bewusst sein Leben für die Sache opfert, von deren Richtigkeit er felsenfest überzeugt ist -und den grösstenteils unbewussten Akten eines Unglücklichen, den die Gesellschaft in die Verzweiflung trieb, oder einer wilden und grausamen Handlung eines Mannes,den Leidenund Schmerzen vom richtigen Weg abkommen Hessen, der beeinflusst wurde von dem Barbarentum der sogenannten zivilisierten Gesellschaft, in der er lebt

Es besteht doch unzweifelhaft ein kolossaler Unterschied zwischen dem Vernunftsakt eines Menschen, der vorerst den Nutzen oder Schaden seiner Handlungsweise für die Bewegung ermisst und dem gedankenlosen Akt eines anderen, der alles dem blinden Zufall iiberlässt. Es ist ein grosser Unterschied zwischen der Tat eines Menschen, der sich in Gefahr begibt um zu vermeiden, dass andere leiden, und dem bourgeoisen Akt eines Mannes, der anderen auch ein Leid verursacht im eigenen Interesse. Ein grosser Unterschied besteht zwischen der anarchistischen Tat eines Menschen, der die Hindernisse beseitigen will, die sich der sozialen Reorganisation auf der Grundlage freier Assoziation entgegen stellen, und dem autoritären Akt eines Menschen, der sich das Recht herausnimmt, die Masse für ihre Unwissenheit – die durch solche Akte noch vergrössert wird – zu bestrafen, sie zu terrorisieren, zu zwingen, seine Ideen anzuerkennen.

Freilich, die Bourgeoisie hat kein Recht, sich über die Gewalt ihrer Gegner zu beklagen. Ihre ganze Geschichte als Klasse ist eine solche von Blut und Mord. Das System der Ausbeutung – das Gesetz ihres Daseins fordert täglich ganze Pyramiden unschuldiger Opfer. Auch die politischen Parteien haben kein Recht, ein Klagelied über die Gewalt anzustimmen, denn auch ihre Hände sind rot von Blut, das für ihre eigenen Interessen vergossen wurde.

Diejenigen, welche Generationen auf Generationen in dem brutalen Glauben an die Gewalt erzogen haben, die Bewunderer des roten Terrors am Ende des 18. Jahrhunderts, der die damaligen revolutionären Bestrebungen erstickte und den Weg frei machte für das Kaiserreich und den weissen Terror – nein, sie haben wahrlich kein Recht, sich über die Gewalt ihrer Gegner zu beklagen. Die historische Vergangenheit hat die Notwendigkeit der Gewalt klar ergeben und es ist darum selbstverständlich, dass auch Anarchisten sie anwenden. Doch niemals dürfen wir vergessen, dass nur die bitterste Not uns dazu zwingen darf; dass die Gewalt ein Prinzip ist, das unsere Anschauungen und Bestrebungen verleugnet. Vergessen wir die traurige historische Tatsache nie, dass überall, wo ein gewaltsamer Widerstand gegen die Unterdrückung triumphierte, neue Unterdrückung erzeugt wurde. Das sollte uns eine Warnung sein, dass es immer so sein wird, solange wir die blutige Tradition der Vergangenheit nicht zerbrochen haben. Gerade darum ist es nötig, die

Anwendung der Gewalt auf den äussersten Notfall zu beschränken.

Gewalt erzeugt Gewalt; Autorität erzeugt Autorität. Selbst der gute Wille und die ehrlichen Motive der Menschen können in dieser Beziehung nichts ändern. Ein Fanatiker, der sich einredet, dass er imstande sei, ein Volk durch Gewalt und auf seine Art und Weise zu erlösen, mag ein ganz guter Mensch sein, doch zugleich ist er ein schleckliches Werkzeug im Dienst der Unterdrückung und Reaktion. Robespierre war gewiss vom besten Willen beseelt, doch die Reinheit und Grausamkeit seines Gewissens ist gewiss ebenso schädlich für die Revolution gewesen wie der persönliche Ehrgeiz von Napoleon. Der ehrliche Fanatismus eines Torquemada [1], die Seelen der Menschen zu retten, ist weit gefährlicher für die Freiheit gewesen, als der Skeptizismus und die Korruption des Regimes von Leo X. Theorien, Erklärungen von Prinzipien und schöne Worte sind nicht imstande, diese natürlichen Tatsachen zu ignorieren. Schon viele Märtyrer starben für die Freiheit, viele Schlachten wurden für sie geschlagen – trotzdem ist die Freiheit noch nicht verwirklicht worden. Alles, was sie eroberten, ist die Ausbeutung und Unterdrückung der Armen durch die Reichen.

Die anarchistische Idee bietet ebensowenig eine Garantie gegen ihre Wesenskorrumpierung wie die Idee des Liberalismus dies tat. Und schon heute können wir den Anfang dieser Korruption aus den Taten einiger Anarchisten entnehmen, indem wir ihre Intoleranz, ihren Wunsch, Schrecken und Furcht um sich zu verbreiten, sehen.

Anarchisten! Verteidigen wir den Anarchismus gegen diese Korruption! Unser Ideal ist ein Ideal der Liebe. Wir können und dürfen keine Richter und kein strafender Arm der Gerechtigkeit sein. Unser einziges Verlangen, unser Stolz, unser Ideal ist es, Befreier zu sein!

 

Anmerkung

1. Thomas de Torquemada, 1420-1498, ab 1483 Leiter der spanischen Inquisition (Generalinquisitor).

 


Zuletzt aktualisiert am 17.10.2004