MIA > Deutsch > Referenz > Kropotkin
Aus der Encyclopaedia Britannica von 1910.
Aus dem Englischen übersetzt von Christian Siefkes.
Hier leicht gekürzt.
Das ungekürzte Original gibt es unter http://flag.blackened.net/daver/anarchism/kropotkin/defanarchy.html.
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Anarchismus (von Griechisch an und archos, Gegenteil von Herrschaft), Bezeichnung eines Prinzips oder einer Theorie des Lebens und Verhaltens, dem zufolge die Gesellschaft ohne Regierung gedacht wird. Harmonie wird in solch einer Gesellschaft nicht durch Unterwerfung unter das Gesetz oder durch Gehorsam vor irgendeiner Autorität erreicht, sondern durch freie Vereinbarungen, die zwischen verschiedenen Gruppen getroffen werden. Diese Gruppen würden nach territorialen und beruflichen Unterteilungen frei eingesetzt, zum einen um Produktion und Verbrauch zu regeln, zum anderen um die Befriedigung der unendlichen Vielfalt von Bedürfnissen und Wünschen des zivilisierten Menschen zu sichern. In einer Gesellschaft, die nach diesen Prinzipien entwickelt wurde, würden die freiwilligen Vereinigungen, die schon jetzt anfangen, alle menschlichen Tätigkeitsgebiete abzudecken, eine noch größere Ausdehnung annehmen, um so den Staat in allen seinen Funktionen zu ersetzen. Sie würden ein eng verknüpftes Netzwerk bilden, zusammengesetzt aus einer endlosen Vielzahl von Gruppen und Vereinigungen aller Größen und Grade; lokal, regional, national und international; kurzzeitig oder mehr oder weniger dauerhaft. Mit allen möglichen Zwecken: Produktion, Verbrauch und Austausch, Kommunikation, gesundheitliche Einrichtungen, Ausbildung, gegenseitiger Schutz, Verteidigung des Gebiets usw.; andererseits zur Befriedigung einer ständig steigenden Anzahl von wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Zudem würde solch eine Gesellschaft nichts Unabänderliches darstellen. Im Gegenteil würde sich Harmonie entwickeln aus einer sich ständig wandelnden Anpassung und Neuanpassung des Gleichgewichts zwischen der Vielzahl der Kräfte und Einflüsse – wie auch im organischen Leben immer wieder zu sehen ist. Diese Anpassungen würden um so einfacher zu erreichen sein, weil keine der Kräfte einen besonderen Schutz durch den Staat genießen würde.
Vorausgesetzt, dass die Gesellschaft nach diesen Prinzipien organisiert würde, wäre der Mensch in der freien Ausübung seiner Kräfte in produktiver Arbeit nicht begrenzt durch ein kapitalistisches Monopol, das vom Staat aufrecht erhalten wird. Auch wäre er in der Ausübung seines Willens nicht durch die Furcht vor Bestrafung oder durch Gehorsam gegenüber Personen oder metaphysischen Wesen beschränkt, die beide zur Senkung der Eigeninitiative und zur Unterwürfigkeit des Verstandes führen. Er würde in seinen Tätigkeiten durch sein eigenes Verständnis geführt, das notwendigerweise den Eindrücken einer freien Aktion und Reaktion zwischen seinem eigenen Selbst und den ethischen Auffassungen seiner Umgebung entsprechen würde. Damit wäre der Mensch in der Lage, die volle Entwicklung aller seiner geistigen, künstlerischen und moralischen Fähigkeiten zu erreichen, ohne durch Überarbeitung für die Monopolisten behindert zu werden oder durch die Unterwürfigkeit und Trägheit der Meinungen der Masse. Er würde daher eine vollständige Individualisierung erlangen können, die weder unter dem heutigen System des Individualismus möglich noch unter irgendeinem System von Staatssozialismus im so genannten Volkstaat zu erreichen ist.
Die anarchistischen Autoren berücksichtigen außerdem, dass ihre Konzeption keine Utopie ist, die a priori konstruiert wurde, nachdem einige Desiderata als Postulate genommen wurden. Stattdessen wird sie, wie sie betonen, aus einer Analyse der Tendenzen, die bereits am Werk sind, abgeleitet; auch wenn der Staatssozialismus bei den Reformern eine zeitweilige Bevorzugung finden mag. Der Fortschritt der modernen Techniken, der die Produktion aller Notwendigkeiten des Lebens wunderbar vereinfacht; der wachsende Geist der Unabhängigkeit und die schnelle Verbreitung der freien Initiative und des freien Verständnisses in allen Arten von Aktivitäten – einschließlich deren, die früher als angemessene Zuständigkeit der Kirche und des Staates betrachtet wurden; sie alle verstärken ständig die Tendenz zur Negierung der Regierung.
Hinsichtlich ihrer ökonomischen Auffassungen betonen die Anarchisten, gemeinsam mit allen Sozialisten, von denen sie den linken Flügel bilden, dass das jetzt vorherrschende System des privaten Landbesitzes und der auf Profite ausgerichteten kapitalistischen Produktion ein Monopol darstellt, das den Prinzipien der Gerechtigkeit und den Geboten der Nützlichkeit widerspricht. Sie sind das Haupthindernis dagegen, dass die Erfolge der modernen Technik in den Dienst aller gestellt werden, um allgemeines Wohlergeben zu bringen. Die Anarchisten halten das Lohnsystem und die kapitalistische Produktion überhaupt für ein Hindernis für den Fortschritt. Aber sie unterstreichen auch, dass der Staat immer schon und nach wie vor das Hauptinstrument ist, das es wenigen ermöglicht, das Land zu monopolisieren, und den Kapitalisten, sich selbst einen völlig unverhältnismäßigen Anteil des jährlichen akkumulierten Überschusses der Produktion anzueignen. In Folge dessen bekämpfen die Anarchisten nicht nur die derzeitige Monopolisierung des Landes und den Kapitalismus überhaupt, sondern mit der gleichen Entschlossenheit auch den Staat, die wichtigste Stütze dieses Systems. Nicht nur diese oder jene besondere Regierungsform, sondern den Staat überhaupt, ganz gleich ob er eine Monarchie ist oder aber eine Republik, die mittels Volksentscheid regiert wird.
Die Staatorganisation ist immer schon, im Altertum wie auch in der modernen Geschichte (Makedonisches Reich, Römisches Reich, die modernen europäischen Staaten, entstanden aus den Ruinen der selbstständigen Städte) ein Werkzeug zur Erzeugung von Monopolen zu Gunsten der herrschenden Minderheiten gewesen. Sie kann deshalb nicht zur Zerstörung dieser Monopole genutzt werden. Daher sind die Anarchisten der Ansicht, dass ein neues Instrument der Tyrannei entstehen würde, wenn alle Hauptquellen des Wirtschaftslebens – das Land, die Bergwerke, die Eisenbahnen, das Bankwesen, das Versicherungswesen usw. – dem Staat übergeben würden. Ebenso, wenn ihm die Leitung der wichtigsten Industriezweige übergeben würde, zusätzlich zu all den Funktionen, die bereits in seinen Händen versammelt sind (Ausbildung, staatlich unterstützte Religionen, Verteidigung des Gebiets etc.). Der Staatskapitalismus würde nur die Stärke der Bürokratie und des Kapitalismus erhöhen. Wirklicher Fortschritt liegt in der Richtung der Dezentralisierung, sowohl in territorialer wie auch in funktionaler Hinsicht; in der Entwicklung eines Geists der lokalen und persönlichen Initiative und des freien Zusammenschlusses vom Einfachen zum Verbundenen; in der Peripherie an Stelle der derzeitigen zentralisieren Hierarchien.
Wie die meisten Sozialisten erkennen die Anarchisten, dass – wie alle Entwicklung in der Natur – die langsame Entwicklung der Gesellschaft von Zeit zu Zeit von Perioden stark beschleunigter Entwicklung abgelöst wird, die Revolutionen genannt werden; und sie denken, dass die Ära der Revolutionen noch nicht vorbei ist. Zeiten der schnellen Veränderungen werden den Zeiten der langsamen Entwicklung folgen, und diese Zeiten müssen genutzt werden – nicht um die Macht des Staates zu erhöhen und auszuweiten, sondern um sie zu verringern; durch die Bildung lokaler Gruppen von Erzeugern und Verbrauchern in jeder Stadt oder Gemeinde wie auch durch regionale und schließlich internationale Vereinigungen dieser Gruppen.
Auf Grund der oben genannten Prinzipien lehnen es die Anarchisten ab, sich an der gegenwärtigen Organisation des Staates zu beteiligen und sie durch frisches Blut zu unterstützen. Sie wollen keine politischen Partei in den Parlamenten bilden, und raten den Arbeitern davon ab. Dementsprechend sind sie seit der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation in den Jahren 1864–1866 darum bemüht, ihre Ideen unmittelbar unter den Arbeiterorganisationen voran zu bringen und diese Gewerkschaften zu einem direkten Kampf gegen das Kapital zu bewegen, ohne auf die parlamentarische Gesetzgebung zu hoffen.
Die gerade skizzierte Auffassung der Gesellschaft und die Tendenz, die ihr dynamischer Ausdruck ist, haben immer in der Menschheit existiert – in Opposition zu den herrschenden hierarchiebasierten Vorstellungen und Tendenzen. [...]
Der herausragendste Vertreter einer anarchistischen Philosophie im altem Griechenland war Zenon (342 bis 267 oder 270 v. Chr.) aus Kreta, der Gründer der stoischen Philosophie. Er setzte seine Auffassung einer freien Gemeinschaft ohne Regierung deutlich der Staatsutopie Platons entgegen. Die Allmacht des Staates, seine Eingriffe und Reglementierungen lehnte er ab und erklärte die Souveränität des moralischen Rechts des Individuums. Dabei bemerkte er bereits, dass, während der notwendige Selbsterhaltungstrieb den Menschen zum Egoismus führt, die Natur dies durch einen anderen Instinkt ausgleicht – den Trieb zur Geselligkeit. Wenn Menschen vernünftig genug sind, ihren natürlichen Instinkten zu folgen, werden sie sich über alle Grenzen hinweg vereinen und den Kosmos bilden. Sie werden keinen Bedarf nach Gerichtshöfen oder Polizei, keine Tempel und keine allgemeine Gottesverehrung haben und kein Geld benutzen – an die Stelle des Austausches werden freie Geschenke treten. Leider sind die Schreiben Zenons nicht überliefert; sie sind uns nur in fragmentarischen Zitaten bekannt. Jedoch zeigt die Tatsache, dass seine Formulierungen den heutigen Formulierungen ähnlich sind, wie tief der Tendenz, die er vertrat, in der menschlichen Natur verwurzelt ist. [...]
Diese Ideen fanden ihren Ausdruck später während der großen Französischen Revolution. Während das Jakobiner alles in ihren Kräften stehende taten, um alles in den Händen der Regierung zu zentralisieren, brachten die Massen der Menschen in ihren Stadtbezirken und „Abschnitten“ eine beträchtliche konstruktive Arbeit zustande, wie aus kürzlich veröffentlichten Dokumenten hervorgeht. Sie besorgten selbst die Wahl der Richter, die Organisation von Vorräten und Ausrüstung für die Armee wie auch für die großen Städte, Arbeit für die Arbeitslosen, die Verwaltung der Bedürftigenhilfe usw. Sie versuchten sogar, eine direkte Korrespondenz zwischen den 36.000 Gemeinden Frankreichs einzurichten, durch den Vermittlung eines besonderen Gremiums, außerhalb der Nationalversammlung (vgl. Sigismund Lacroix, Actes de la commune de Paris). [...]
Proudhon verwendete als Erster, im Jahr 1840 (Qu’est-ce que la propriete?, erste Abhandlung), den Ausdruck Anarchie in Bezug auf den regierungslosen Zustand der Gesellschaft. Der Ausdruck Anarchisten war während der Französischen Revolution von das Girondisten häufig für jene Revolutionäre verwendet worden, die die Aufgabe der Revolution nicht mit dem Sturz Ludwig des XVI. für vollendet hielten, sondern auf einer Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen bestanden (die Aufhebung der Feudalrechte ohne Entschädigung, die Rückgabe der seit 1669 eingezäunten kommunalen Ländereien an die Dorfgemeinschaften, die Beschränkung des Landbesitzes auf 120 Morgen, progressive Einkommenssteuer, die nationale Organisation des Geldwechsels auf Grundlage des exakten Wertes, was bereits begann, verwirklicht zu werden, usw.). [...]
Bakunin [...] forderte die komplette Abschaffung des Staates, der – wie er schrieb – ein Produkt der Religion ist, zu einem niedrigen Stand der Zivilisation gehört, die Verneinung der Freiheit darstellt und sogar das verdirbt, was er beabsichtigt, um des allgemeinen Wohls willen zu tun. Der Staat war ein historisch notwendiges Übel, aber seine vollständige Auslöschung ist, früher oder später, ebenso notwendig. Bakunin lehnte jegliche Gesetzgebung ab, selbst wenn sie dem allgemeinen Wahlrecht entspringt, und beanspruchte für jede Nation, jede Region und jede Gemeinde volle Autonomie, soweit sie nicht ihre Nachbarn bedroht, und volle Unabhängigkeit für den Einzelnen. Er fügte hinzu, dass man erst dann wirklich frei wird, wenn und soweit alle andere frei sind. Freie Zusammenschlüsse der Gemeinden würden freie Nationen bilden. [...]
Die Föderationen und Sektionen der Internationalen Arbeiter-Assoziation aus dem Jura-Gebirge, Spanien und Italien, wie auch die französischen, deutschen und amerikanischen anarchistischen Gruppen waren in den folgenden Jahren die wichtigsten Zentren anarchistischer Gedanken und Propaganda. Sie lehnten jede Teilnahme an der parlamentarischen Politik ab und hielten immer engen Kontakt zu den Arbeiterorganisationen. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und in den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts – als der Einfluss der Anarchisten anfing, in Streiks und Erster-Mai-Demonstrationen fühlbar zu werden, wo sie die Idee eines Generalstreiks für einen Acht-Stunden-Tag förderten und die anti-militaristische Propaganda in der Armee – gab es jedoch heftige Verfolgungen gegen sie, besonders in den romanischen Ländern (einschließlich körperlicher Folterungen im Schloss von Barcelona) und in den Vereinigten Staaten (Hinrichtung von fünf Anarchisten aus Chicago 1887). Auf diese Verfolgungen reagierten die Anarchisten mit Gewalttaten, denen wiederum von oben weitere Hinrichtungen folgten, und neue Rachetaten von unten. Dieses schuf in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass Gewalttätigkeit der Kern des Anarchismus ist. Diese Ansicht wurde von seinen Verfechter zurückgewiesen, die meinen, dass Gewalttätigkeit in Wirklichkeit der letzte Ausweg für alle Gruppen ist, denen offene Aktivitäten durch Unterdrückung versperrt werden und die durch Ausnahmegesetze zu Gesetzlosen gemacht werden. [...]
Als Vertreter der anarcho-kommunistischen Richtung bemühte sich der Verfasser dieses Textes viele Jahre lang um die Entwicklung der folgenden Ideen: die enge, logische Verbindung aufzuzeigen, die zwischen der modernen Philosophie der Naturwissenschaften und dem Anarchismus existiert; den Anarchismus auf eine wissenschaftliche Grundlage zu setzen durch das Studium der Tendenzen, die heute in der Gesellschaft sichtbar sind und auf ihre weitere Entwicklung hinweisen können; und die Grundlagen einer anarchistischen Ethik auszuarbeiten. Was das Wesen der Anarchismus selbst betrifft, war es Kropotkins Ziel, zu beweisen, dass der Kommunismus zumindest ansatzweise größere Realisierungschancen hat als der Kollektivismus, besonders in den führenden Gemeinden, und dass freier oder Anarcho-Kommunismus die einzige Form des Kommunismus ist, die eine Chance hat, in zivilisierten Gesellschaften angenommen zu werden. Kommunismus und Anarchie sind folglich zwei Ausdrücke der Entwicklung, die sich ergänzen – eins macht das andere möglich und annehmbar. Er hat außerdem versucht zu zeigen, wie sich eine große Stadt während einer revolutionären Periode – sofern ihre Einwohner die Idee akzeptiert haben – dem freien Kommunismus gemäß organisieren kann. Dabei garantiert die Stadt jedem Einwohner Wohnung, Nahrung und Kleidung in einem Umfang, wie er heute nur für die Mittelklasse vorhanden ist, im Austausch für Halbtagsarbeit – bis zu fünf Stunden pro Tag. Jeder könnte alle jene Dinge, die als Luxus betrachtet würden, erreichen, indem er sich für die andere Hälfte des Tages beliebigen freien Zusammenschlüssen anschließt, die alle möglichen Ziele verfolgen – Erziehung, Literatur, Wissenschaft, Kunst, Sport usw. Um die erste dieser Behauptungen zu beweisen, hat er die Möglichkeiten der landwirtschaftlichen und der industriellen Arbeit, mit Kopfarbeit verbunden, analysiert. Und um die wichtigsten Faktoren der menschlichen Entwicklung zu erklären, hat er die Rolle untersucht, die in der Geschichte die weit verbreiteten konstruktiven Tätigkeiten der gegenseitigen Hilfe gespielt haben, und die historische Rolle des Staates. [...]
Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2021