Emma Goldman

 

Der Anarchismus und seine wirkliche Bedeutung

(1911)


Amerikanische Erstveröffentlichung: New York 1911.
Aus: Emma Goldman, Anarchism and other essays, New York 1969, pp. 47-67.
Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von einem Übersetzer(innen)kollektiv.
Libertad Verlag Berlin 1983, anarchistische texte 11
Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Emma_Goldman_Anarchismus_u_s_wirkliche_Bedeutung.htm
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Anarchie

Immer geschmäht, verflucht – verstanden nie,
Bist du das Schreckbild dieser Zeit geworden...
Auflösung aller Ordnung, rufen sie
Seiest du und Kampf und nimmerendend Morden.
O laß sie schreien! – ihnen, die nie begehrt,
Die Wahrheit hinter einem Wort zu finden,
Ist auch des Wortes rechter Sinn verwehrt.
Sie werden Blinde bleiben unter Blinden.
Du aber, Wort, so klar, so stark, so rein,
Das Alles sagt, wonach ich ruhlos trachte
Ich gebe dich der Zukunft! – Sie ist dein,
Wenn jeder endlich zu sich selbst erwachte.
Kommt sie im Sonnenblick? – Im Sturmgebrüll? –
Ich weiß es nicht, doch sie erscheint auf Erden! –
„Ich bin ein Anarchist!“ – „Warum?“ – „Ich will
Nicht herrschen, aber auch beherrscht nicht werden!“

John Henry Mackay

Die Geschichte der Entwicklung und des Werdegangs der Menschheit ist gleichzeitig die Geschichte eines ungeheuren Kampfes jeder neuen Idee, die das Heraufdämmern eines strahlenden Morgens ankündigt. In seinem beharrlichen Festhalten am Hergebrachten hat das Alte niemals gezögert, sich der schmutzigsten und grausamsten Mittel zu bedienen, um das Kommen des Neuen aufzuhalten, in welcher Form oder Zeit sich letzteres auch immer geäußert haben mag. Es ist dazu nicht nötig, unsere Schritte bis in die fernste Vergangenheit zurückzuverfolgen, um sich das ungeheure Maß an Widerstand, Schwierigkeiten und Unrecht bewußt zu machen, das jeder fortschrittlichen Idee in den Weg gelegt wurde. Folter, Daumenschrauben und Knute gibt es heute noch, ebenso wie Sträflingskleider und „Volkszorn“, die sich alle gegen den gelassen fortschreitenden Geist verschwören.

Der Anarchismus konnte nicht darauf hoffen, dem Schicksal aller anderen Neuerungsgedanken zu entgehen. Tatsächlich mußte der Anarchismus als revolutionärster und kompromißlosester Neugestalter notwendigerweise mit der verbündeten Unwissenheit und Feindseligkeit der Welt, die er erneuern will, zusammenstoßen. Sich auch nur oberflächlich mit all dem, was gegen den Anarchismus vorgebracht und getan wurde, auseinanderzusetzen, würde das Schreiben eines ganzen Buches erforderlich machen. Ich werde daher nur auf zwei grundsätzliche Einwände eingehen. Auf diese Weise werde ich zu erläutern versuchen, was Anarchismus tatsächlich bedeutet. Das Merkwürdige am Widerstand gegen den Anarchismus besteht darin, daß er das Verhältnis zwischen sogenannter Intelligenz und Unkenntnis erhellt. Jedoch ist es nicht so seltsam, wenn wir die Relativität aller Dinge berücksichtigen. Für die unwissende Masse spricht, daß sie weder Wissen noch Toleranz vorspiegelt. Wie immer einer bloßen Eingebung gemäß handelnd, sind ihre Gründe die eines Kindes. „Warum?“ „Darum!“ Trotzdem verdient der Widerstand des Ungebildeten gegen den Anarchismus dieselbe Beachtung wie der des Gebildeten.

Was also sind die Einwände? Erstens: Anarchismus ist unpraktikabel, obgleich ein schönes Ideal. Zweitens: Anarchismus bedeutet Gewalt und Zerstörung, deshalb muß er als schlecht und gefährlich zurückgewiesen werden. Sowohl der gebildete Mensch als auch die unwissende Masse urteilen nicht aus der gründlichen Kenntnis des Gegenstandes, sondern entweder nach dem Hörensagen oder aus falscher Interpretation. Ein praktischer Plan, sagt Oscar Wilde, ist entweder einer, der bereits existiert, oder ein Plan, der unter den bestehenden Umständen durchgeführt werden könnte; aber es sind gerade die bestehenden Zustände, gegen die man Einwände hat, und jeder Plan, der diese Zustände billigen würde, wäre falsch und töricht. Das wahre Kriterium des Praktikablen besteht daher nicht darin, ob letzteres das Falsche und Törichte unangetastet lassen kann, sondern eher darin, ob der Plan genug Lebenskraft besitzt, die stehenden Gewässer des Alten zu verlassen und neues Leben aufzubauen als auch zu erhalten. Unter dem Gesichtspunkt dieser Vorstellung ist der Anarchismus tatsächlich praktikabel. Mehr als jede andere Idee hilft er dabei, Falsches und Törichtes zu beseitigen, und mehr als jede andere Idee schafft und erhält er neues Leben.

Die Emotionen des unwissenden Menschen werden durch die blutrünstigsten Geschichten über den Anarchismus in Stimmung gehalten. Nichts ist zu abscheulich, um gegen diese Philosophie und ihre Vertreter verwandt zu werden. Deshalb stellt der Anarchismus für den Gedankenlosen das dar, was der sprichwörtliche Schwarze Mann für das Kind ist – ein finsteres Ungeheuer, das darauf aus ist, alles zu verschlingen. Kurz: Zerstörung und Gewalt. Zerstörung und Gewalt! Woher soll der gewöhnliche Mensch wissen, daß das gewalttätigste Element der Gesellschaft die Unwissenheit ist; daß ihre Zerstörungskraft genau das ist, was der Anarchismus bekämpft? Er ist sich auch nicht im klaren darüber, daß der Anarchismus, dessen Wurzeln sozusagen Teil der Naturkräfte sind, kein gesundes Zellgewebe zerstört, sondern parasitäres Wachstum, das sich von der Lebenssubstanz der Gesellschaft ernährt. Er vertilgt bloß das Unkraut von der Erde, damit sie schließlich wieder gesunde Frucht tragen kann.

Jemand hat gesagt, daß Verdammen weniger geistige Anstrengung erfordert als Denken. Die weitverbreitete, in der Gesellschaft vorherrschende geistige Trägheit beweist das nur zu genau. Lieber als einer gegebenen Idee auf den Grund zu gehen, ihren Ursprung und ihre Bedeutung zu untersuchen, werden die meisten sie entweder verurteilen oder sich auf einige oberflächliche und voreingenommene Begriffsbestimmungen von Unmaßgeblichen stützen. Der Anarchismus spornt den Menschen dazu an, jede Behauptung zu durchdenken, zu untersuchen und zu analysieren. Aber um die Aufnahmefähigkeit des Durchschnittslesers nicht zu sehr zu beanspruchen, werde ich mit einer Definition beginnen und diese dann genauer erklären:

ANARCHISMUS: Die Philosophie einer neuen sozialen Ordnung, basierend auf einer von menschlichen Gesetzen uneingeschränkten Freiheit. Die Theorie, daß alle Formen von Herrschaft auf Gewalt beruhen und deshalb falsch und schädlich sowie unnötig sind.Die neue soziale Ordnung beruht selbstverständlich auf der materialistischen Lebensgrundlage; aber obwohl alle Anarchisten darin übereinstimmen, daß das Hauptübel heutzutage ein ökonomisches ist, sind sie davon überzeugt, daß die Aufhebung dieses Übels nur durch die Berücksichtigung jeder Phase des Lebens – der individuellen ebenso wie der kollektiven, der inneren ebenso wie der äußeren Entwicklungsphasen – erfolgen kann.

Eine sorgfältige Prüfung der Geschichte der menschlichen Entwicklung wird zwei Elemente, die in einem harten Kampf gegeneinander stehen, zutage fördern; Elemente, die man erst jetzt als nicht einander fremd, sondern als nahe verwandt und völlig harmonisch zu verstehen beginnt, wenn man sie nur in die entsprechende Umgebung versetzt: die individuellen und sozialen Instinkte. Seit einer Ewigkeit haben das Individuum und die Gesellschaft sich einen gnadenlosen und blutigen Kampf geliefert. Beide strebten nach der Vorherrschaft, weil sie dem Wert und der Bedeutung des anderen gegenüber blind waren. Die individuellen und sozialen Instinkte – die einen ein überaus kraftvoller Faktor für individuelles Streben, Wachstum, Sehnsucht und Selbstverwirklichung; die anderen ein in gleicher Weise bedeutsames Element der gegenseitigen Hilfe und des sozialen Wohlstands.

Der Grund für den Kampf, der im Individuum und zwischen ihm und seiner Umwelt tobt, ist nicht schwer zu finden. Der Primitive, der nicht in der Lage ist, sein Dasein, viel weniger die Einheit allen Lebens zu verstehen, fühlt sich völlig von geheimnisvollen und verborgenen Mächten abhängig, die ständig bereit sind, ihn zu narren und zu verspotten. Aus dieser Einstellung erwuchsen die religiösen Vorstellungen des Menschen als eines bloßen, von höheren Mächten im Himmel abhängigen Staubkorns, die nur durch völlige Hingabe beschwichtigt werden können. Alle früheren Sagen beruhen auf diesem Gedanken, der immer noch das Leitmotiv (im Org. dt.) der biblischen Geschichten, die das Verhältnis des Menschen zu Gott, zum Staat und zur Gesellschaft behandeln, darstellt. Wieder und wieder dasselbe Motiv: Der Mensch ist nichts – die Mächte sind alles. Demgemäß würde Jehova den Menschen nur unter der Bedingung völliger Hingabe dulden. Der Mensch kann alle Herrlichkeit auf Erden haben, aber er darf sich nicht seiner selbst bewußt werden. Der Staat, die Gesellschaft und die Gesetze der Moral singen alle denselben Refrain: Der Mensch kann alle Herrlichkeit auf Erden haben, er darf sich nur nicht seiner selbst bewußt werden.

Der Anarchismus ist die einzige Philosophie, die dem Menschen das Bewußtsein seiner selbst bringt; die davon überzeugt ist, daß Gott, der Staat und die Gesellschaft nicht existieren, daß ihre Versprechungen null und nichtig sind, da sie nur durch die Unterordnung des Menschen erfüllt werden können. Der Anarchismus vertritt deshalb die Lehre von der Einheit des Lebens, nicht bloß in der Natur, sondern auch im Menschen. Es gibt keinen Konflikt zwischen den individuellen und den sozialen Anlagen, genausowenig wie zwischen Herz und Lunge: Das eine ist der Behälter einer kostbaren Lebenssubstanz, die andere das Behältnis der Stoffe, die die Substanz rein und kräftig erhalten. Das Individuum ist das Herz der Gesellschaft, das die Substanz des Lebens bewahrt, die Gesellschaft ist die Lunge, die die Stoffe verteilt, die die Lebenssubstanz – d.h. das Individuum – rein und stark erhalten.

„Das einzig Wertvolle in der Welt“, sagt Ralph Waldo Emerson, „ist der aktive Geist, den jeder Mensch in sich trägt. Der aktive Geist sieht die absolute Wahrheit, äußert und schafft sie.“ Mit anderen Worten: der individuelle Instinkt ist das einzig Wertvolle in der Welt. Er ist der wahre Geist, der die lebendige Wahrheit erkennt und schafft, aus der dann eine noch größere Wahrheit entstehen wird, der neu geborene Gemeinschaftsgeist.

Der Anarchismus ist der große Befreier des Menschen von den Trugbildern, die ihn gefangen halten. Er ist Richter und Friedensstifter zwischen den beiden Kräften für individuelle und soziale Harmonie. Um diese Einheit zu verwirklichen, hat der Anarchismus den schädlichen Einflüssen, die bisher die harmonische Verbindung zwischen individuellen und sozialen Anlagen, zwischen Individuum und Gesellschaft verhindert haben, den Krieg erklärt.

Die Religion, die Herrschaft über den menschlichen Geist, das Eigentum, die Herrschaft über die menschlichen Bedürfnisse, der Staat, die Herrschaft über die menschliche Lebensweise repräsentieren die Hochburgen der menschlichen Versklavung und all der Schrecken, die sie zur Folge hat. Religion! Wie sie den menschlichen Geist beherrscht; wie sie seine Seele demütigt und entwürdigt. Gott ist alles, der Mensch ist nichts, sagt die Religion. Aber aus diesem Nichts hat Gott ein Reich erschaffen, so despotisch, so tyrannisch, so grausam, so furchtbar rigide, daß nichts als Trübsinn, Tränen und Blut die Erde beherrschen, seit es Götter gibt. Der Anarchismus ermutigt die Menschen zum Widerstand gegen dieses schwarze Ungeheuer. Sprenge deine geistigen Fesseln, sagt der Anarchismus zum Menschen, denn bevor du nicht anfängst, für dich selber zu denken und zu urteilen, wirst du die Herrschaft der Finsternis nicht abschütteln.

Das Eigentum, der Herrscher über die menschlichen Bedürfnisse, ist die Verneinung des Rechts, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Es gab eine Zeit, in der das Eigentum ein göttliches Recht beanspruchte, als es zu den Menschen mit demselben Refrain wie die Religion sprach: Opfere! Entsage! Unterwerfe dich! Der Geist des Anarchismus hat den Menschen aus dieser demütigen Position erhoben. Er steht nun aufrecht, sein Gesicht dem Licht zugewandt. Er hat gelernt, das unersättliche, verzehrende und vernichtende Wesen des Eigentums zu erkennen und bereitet sich darauf vor, das Ungeheuer zu erschlagen.

„Eigentum ist Diebstahl“, sagte der große französische Anarchist Pierre J. Proudhon. Ja, aber ohne Risiko und Gefahr für den Räuber. Indem das Eigentum die gesamten Anstrengungen des Menschen für sich vereinnahmt, beraubt es ihn seines Geburtsrechtes und macht ihn zu einem Almosenempfänger und Ausgestoßenen. Das Eigentum führt noch nicht einmal die abgenutzte Entschuldigung an, der Mensch produziere nicht genug, um alle seine Bedürfnisse zu befriedigen. Selbst der Anfänger in den Wirtschaftswissenschaften weiß, daß die Produktivität der Arbeit in den letzten Jahrzehnten weit über die normale Nachfrage hinausgegangen ist. Aber was bedeutet normale Nachfrage für eine abnorme Einrichtung. Die einzige Nachfrage, die das Eigentum wahrnimmt, ist ihr eigener, unersättlicher Appetit auf noch größeren Reichtum, denn Reichtum bedeutet Macht: die Macht zu unterwerfen, zu erniedrigen und auszubeuten, die Macht zu versklaven, zu vernichten und zu entwürdigen. Amerika ist besonders eingebildet auf seine große Macht, auf seinen enormen Nationalreichtum. Armes Amerika, was nützt sein ganzer Reichtum, wenn die Einzelnen, die die Nation ausmachen, erbärmlich arm sind. Wenn sie in Verkommenheit, Schmutz und Verbrechen leben, ohne Hoffnung und Freude, eine heimatlose, entwurzelte Armee menschlicher Opfer.

Es ist allgemein anerkannt, daß der Bankrott unvermeidlich ist, wenn die Gewinne eines Geschäftswagnisses nicht dessen Kosten übersteigen. Aber diejenigen, die am Geschäft, Reichtum zu produzieren, beteiligt sind, haben noch nicht einmal diese simple Lektion gelernt. Jedes Jahr nehmen die Verluste an Menschenleben in der Produktion zu (letztes Jahr – d.h. 1910, d.Hg. – wurden in Amerika 50.000 getötet und 100.000 verletzt); die Gewinne der Massen, die dazu beitragen, den Reichtum zu erzeugen, werden dagegen ständig geringer. Doch Amerika bleibt dem unausweichlichen Bankrott unseres Produktionswesens gegenüber blind. Aber das ist nicht sein einziges Verbrechen. Weitaus verhängnisvoller ist das Verbrechen, den Produzierenden in ein bloßes Teil der Maschine verwandelt zu haben, mit weniger Willen und Entscheidungskraft als sein Meister aus Eisen und Stahl. Der Mensch wird nicht nur der Produkte seiner Arbeit, sondern auch seiner Fähigkeit zu freier Initiative, seiner Ursprünglichkeit und dem Interesse in oder dem Verlangen nach den Dingen, die er herstellt, beraubt.

Wirklicher Reichtum besteht in schönen und nützlichen Dingen, in Dingen, die dazu beitragen, starke und schöne Körper hervorzubringen und eine Umwelt zu schaffen, die dazu einlädt, in ihr zu leben. Aber solange der Mensch dazu verurteilt ist, dreißig Jahre seines Lebens Baumwolle auf eine Spule zu wickeln, nach Kohle zu graben oder Straßen zu bauen, kann man nicht von Reichtum sprechen. Was er der Welt gibt, sind nur graue und schreckliche Dinge, die ein tristes und furchtbares Dasein widerspiegeln – zu schwach zum Leben, zu feige zum Sterben. Seltsamerweise gibt es Leute, die diese abstumpfende Methode der zentralisierten Produktion als die stolzeste Errungenschaft unserer Zeit anpreisen. Sie machen sich überhaupt nicht bewußt, daß, wenn wir die Unterordnung unter die Maschine weiterhin beibehalten, unsere Sklaverei vollkommener sein wird als die Knechtschaft unter einem König. Sie wollen nicht einsehen, daß die Zentralisation nicht nur das Grabgeläut für die Freiheit, sondern auch für Gesundheit und Schönheit, für Kunst und Wissenschaft ist, denn all diese Dinge sind in einer uhrwerkähnlichen, automatenhaften Atmosphäre unmöglich.

Der Anarchismus kann eine solche Produktionsweise nur ablehnen: sein Ziel ist der freiestmögliche Ausdruck aller latenten Kräfte des Individuums. Oscar Wilde definiert eine vollendete Persönlichkeit als „eine, die sich unter vollkommenen Bedingungen entwickelt, die nicht verletzt, verstümmelt oder in Gefahr ist.“ Eine vollendete Persönlichkeit ist daher nur in einem Stadium der Gesellschaft möglich, in dem der Mensch die Freiheit hat, die Arbeitsweise, die Arbeitsbedingungen und die Freiheit zum Arbeiten zu wählen. Eine Persönlichkeit, der das Herstellen eines Tisches, das Bauen eines Hauses oder die Bodenbearbeitung das bedeutet, was das Malen dem Künstler und die Entdeckung dem Wissenschaftler ist – das Ergebnis von Inspiration, intensivem Verlangen und tiefem Interesse an der Arbeit als einer schöpferischen Kraft. Da dies das Ideal des Anarchismus ist, müssen seine wirtschaftlichen Einrichtungen aus freiwilligen Produktions-, Handels- und Verbrauchergemeinschaften bestehen, die sich nach und nach zum freien Kommunismus, als der besten Produktionsweise mit der geringsten Vergeudung menschlicher Energie, hinentwickeln. Der Anarchismus anerkennt jedoch das Recht des Einzelnen oder einer Anzahl von Individuen, jederzeit andere Arbeitsformen, die in Übereinstimmung mit ihrem Geschmack und ihren Wünschen stehen, zu vereinbaren.

Da eine solch freie Entfaltung menschlicher Energie nur unter völliger individueller und sozialer Freiheit möglich ist, richtet der Anarchismus seine Kräfte gegen den dritten und größten Feind jeder sozialen Gleichheit, nämlich gegen den Staat, die etablierte Obrigkeit oder das gesetzliche Recht – die Herrschaft über die menschliche Lebensweise. Ebenso wie die Religion den menschlichen Verstand gefesselt hat, und ebenso wie das Eigentum oder die Vorherrschaft der Dinge die menschlichen Bedürfnisse unterdrückt und erstickt hat, so hat der Staat den Geist versklavt, indem er jede Verhaltensweise vorschreibt. „Jede Regierung“, sagt Emerson, „ist ihrem Wesen nach Tyrannei.“ Es kommt nicht darauf an, ob sie sich durch göttliches Recht oder Mehrheitsbeschluß legitimiert. In jedem Fall ist ihr Ziel die völlige Unterordnung des Individuums.

In Bezug auf die amerikanische Regierung sagte Amerikas größter Anarchist Henry David Thoreau: „Was ist die Regierung anderes als eine Tradition, dazu noch eine recht junge, die danach strebt, sich selbst ohne Machteinbuße der Nachwelt zu erhalten, die dabei aber in jedem Augenblick mehr von ihrer Glaubwürdigkeit verliert; sie hat nicht einmal die Lebenskraft und Energie eines einzelnen lebendigen Menschen. Das Gesetz hat den Menschen nicht um ein Jota gerechter gemacht, und gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten zu Handlangern des Unrechts.“

In der Tat ist der Grundtenor des Staates die Ungerechtigkeit. Mit der Arroganz und der Selbstherrlichkeit eines Königs, der keine Fehler machen könnte, erlassen Regierungen Anordnungen, sprechen Recht, verurteilen und bestrafen die belanglosesten Vergehen, während sie selbst das größte aller Verbrechen, die Vernichtung der individuellen Freiheit, aufrechterhalten. Deshalb hat Marie Luise Ouida recht, wenn sie behauptet, daß „der Staat nur danach strebt, der Öffentlichkeit solche Eigenschaften einzuimpfen, durch die seine Forderungen befolgt werden und seine Staatskasse gefüllt wird. Seine größte Leistung ist die Reduzierung der Menschheit zu einem Uhrwerk. In einer solchen Atmosphäre trocknen all jene zarten und empfindlichen Freiheiten, die Pflege und Platz brauchen, unvermeidlich aus und gehen zugrunde. Der Staat braucht eine steuerzahlende Maschine, die ohne Störung läuft, eine Staatskasse, in der niemals Defizit herrscht und eine Öffentlichkeit, eintönig, gehorsam, färb- und geistlos, die sich demütig wie eine Schafherde auf einer Straße zwischen zwei Mauern bewegt.“ Doch sogar eine Schafherde würde den Schikanen des Staates Widerstand leisten, wenn es die korrupten, tyrannischen und unterdrückenden Methoden nicht gäbe, derer er sich für seine Zwecke bedient. Deshalb lehnt Michail Bakunin den Staat als gleichbedeutend mit der Aufgabe der Freiheit des Einzelnen oder kleiner Minderheiten ab – die Zerstörung der sozialen Beziehungen, die Einschränkung oder sogar völlige Negation des Lebens selbst zu Zwecken seiner eigenen Machtausdehnung. Der Staat ist der Altar der politischen Freiheit und wird, wie der religiöse Altar, zum Zwecke von Menschenopfern beibehalten.

Es gibt in der Tat kaum einen modernen Denker, der nicht ebenfalls der Ansicht ist, daß die Regierung, die etablierte Obrigkeit oder der Staat nur dazu notwendig ist, um Eigentum und Monopole zu erhalten bzw. zu schützen. Er hat sich nur in dieser Funktion als leistungsfähig erwiesen. Sogar George Bernhard Shaw, der sich Wunderdinge vom Staat unter dem Fabianismus erhofft, gesteht dennoch ein, daß „er gegenwärtig eine riesige Maschine zur Beraubung und Sklaventreiberei der Armen durch die brutale Gewalt ist.“ Da das zutrifft, ist schwer zu verstehen, warum der scharfsinnige Verfasser des Vorhergenannten wünscht, nachdem die Armut zu existieren aufgehört hat, den Staat aufrechtzuerhalten.

Unglücklicherweise gibt es noch eine große Anzahl von Leuten, die an dem verhängnisvollen Glauben festhalten, daß die Herrschaft auf Naturgesetzen beruht, daß sie die soziale Ordnung und Harmonie aufrechterhält, daß sie die Kriminalität verringert und daß sie den Faulen davon abhält, seine Mitmenschen auszunutzen. Ich werde deshalb diese Behauptungen untersuchen.

Ein Naturgesetz ist das Element im Menschen, das sich frei und spontan ohne irgendwelche äußere Gewalt, in Harmonie mit den Erfordernissen der Natur entfalten kann. Das Verlangen nach Nahrung, nach sexueller Befriedigung, nach Licht, Luft und Bewegung ist z.B. ein Naturgesetz. Aber sein Ausdruck benötigt keine Regierungsmaschinerie und benötigt weder Knüppel, Gewehr, Handschellen oder Gefängnis. Um solchen Gesetzen zu gehorchen, wenn wir es Gehorsam nennen wollen, bedarf es nur der Spontaneität und der uneingeschränkten Möglichkeit dazu. Daß sich Regierungen nicht durch solche harmonische Elemente aufrechterhalten, zeigt das schreckliche Maß an Gewalt, Macht und Zwang, das Regierungen zum Überleben brauchen. Deshalb hat Sir William Blackstone recht, wenn er sagt: „Menschliche Gesetze sind“ wertlos, weil sie den Naturgesetzen zuwiderlaufen.“

Es fällt schwer, den Regierungen irgendeinen Sinn für Ordnung oder soziale Harmonie zuzugestehen – es sei denn, man meint die Ordnung, die in Warschau nach der Abschlachtung von Tausenden von Menschen herrschte. Ordnung, die durch Unterwerfung geschaffen und durch Terror aufrecht erhalten wird, ist nicht gerade eine verläßliche Gewähr, dennoch ist dies die einzige „Ordnung“, die Regierungen jemals aufrechterhalten haben. Wahre soziale Harmonie erwächst auf natürliche Weise aus einem Zusammengehen der Interessen. In einer Gesellschaft, in der diejenigen, die immerzu arbeiten, niemals etwas besitzen, während diejenigen, die niemals arbeiten, über alles verfügen, ist Interessenübereinstimmung nicht gegeben; daher ist soziale Harmonie dort nichts anderes als ein Mythos. Das einzige Mittel, mit dem die etablierte Obrigkeit dieser ernsten Lage begegnet, ist die Gewährung noch größerer Privilegien für die, die bereits die Welt beherrschen und der weiteren Versklavung der enterbten Massen. Somit ist das gesamte Arsenal der Regierung – Gesetze, Polizei, Soldaten, die Gerichte, Gesetzgeber, Gefängnisse – eifrig mit dem „Harmonisieren“ der antagonistischen Elemente in der Gesellschaft beschäftigt.

Die absurdeste Verteidigung von Autorität und Gesetz ist, daß sie dazu dienten, die Kriminalität einzudämmen. Abgesehen von der Tatsache, daß der Staat selbst der größte Verbrecher ist, indem er jedes geschriebene und natürliche Recht bricht, mittels Steuern stiehlt, durch Krieg und Todesstrafe mordet, ist er hinsichtlich der Bewältigung der Kriminalität an einem absoluten Nullpunkt angelangt. Es ist ihm gänzlich mißlungen, die fürchterliche Plage, die er selbst geschaffen hat, auszurotten oder auch nur zu verringern.

Verbrechen ist nichts anderes als fehlgeleitete Energie. Solange jede bestehende Institution insgeheim dazu beiträgt, menschlichen Tatendrang wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich und moralisch in falsche Bahnen zu lenken; solange die meisten Menschen am falschen Platz Dinge tun, die sie nicht ausstehen können, ein Leben führen, das sie verabscheuen, werden Verbrechen unvermeidlich sein, und all die Vorschriften in den Gesetzesblättern können die Kriminalität nur erhöhen, sie aber niemals beseitigen. Was weiß die Gesellschaft, so wie sie heute existiert, von dem Prozeß der Verzweiflung, der Leere, der Ängste, der furchtbaren Kämpfe, den die menschliche Seele auf ihrem Weg ins Verbrechen und in die Erniedrigung durchmachen muß. Wer, der diesen Vorgang kennt, empfindet nicht die Wahrheit in diesen Worten Peter Kropotkins: „Diejenigen, die zwischen den Vorteilen abwägen, die Gesetz und Bestrafung zugeschrieben werden und der entwürdigenden Wirkung des letzteren auf das menschliche Wesen; diejenigen, die sich den Sturzbach der Verderbtheit vorstellen können, der sich durch den, selbst vom Richter begünstigten und vom Staat unter dem Vorwand, Verbrechen zu entlarven, mit klingender Münze bezahlten Spitzel in die Gesellschaft ergießen wird; diejenigen, die in die Gefängnisse gehen und dort sehen werden, was aus Menschen wird, wenn ihnen die Freiheit genommen worden ist, wenn sie in der Behandlung durch brutale Aufseher, durch grobe, harte Worte, tausenden von peinigenden, bohrenden Demütigungen unterworfen sind, werden mit uns darin übereinstimmen, daß der gesamte Apparat von Gefängnis und Bestrafung ein Greuel ist, dem ein Ende gemacht werden muß.“

Die abschreckende Wirkung des Gesetzes auf den arbeitsscheuen Menschen ist zu widersinnig, um Beachtung zu finden. Wenn die Gesellschaft nur von der Verschwendung und den Kosten befreit wäre, eine ganze arbeitsscheue Klasse zu ernähren und von dem ebenso großen Aufwand für die Sicherheitsausrüstung, die diese faule Klasse benötigt, würden die Tische dieser Gesellschaft für alle, einschließlich sogar des gelegentlich müßigen Individuums, im Überfluß gedeckt sein. Außerdem ist es angebracht zu berücksichtigen, daß Faulheit entweder aufgrund besonderer Privilegien oder aus körperlicher oder geistiger Abnormität entsteht. Unser gegenwärtiges, wahnwitziges Wirtschaftssystem begünstigt beides; und das Erstaunlichste ist, daß die Leute angeblich immer noch arbeiten wollen. Der Anarchismus zielt darauf ab, die Arbeit von Stumpfsinn und Geistlosigkeit, von Schwermut und Zwang zu befreien. Er erstrebt, die Arbeit zu einem Instrument der Freude und Kraft, der Farbe und wahren Harmonie zu machen, damit auch der schwächste Mensch in der Arbeit beides, Entspannung und Hoffnung, finde.

Um zu einer solchen Ordnung der Dinge zu gelangen, muß der Staat mit seinen ungerechten, willkürlichen, repressiven Maßnahmen abgeschafft werden. Im besten Falle hat er, ohne Rücksicht auf individuelle und soziale Verschiedenheit und Bedürfnisse, allen ein und denselben Lebensstil aufgezwungen. Mit der Vernichtung des Staates und des gesetzlichen Rechts beabsichtigt der Anarchismus, die Selbstachtung und Selbständigkeit des Individuums von aller Beschränkung und allem Eingriff durch die Staatsgewalt zu befreien. Nur in Freiheit kann sich der Mensch zu seiner ganzen Bedeutung entwickeln. Nur in Freiheit wird er lernen zu denken, zu handeln und sein Bestes zu geben. Nur in Freiheit wird er die wahre Bedeutung der gesellschaftlichen Bande erfassen, die die Menschen zusammenhalten und die eigentliche Grundlage jedes normalen Zusammenlebens sind. Aber wie steht es mit der Natur des Menschen? Kann sie verändert werden? Und wenn nicht, wird sie den Anarchismus vertragen?

Arme menschliche Natur! Welch schreckliche Verbrechen sind in deinem Namen begangen worden! Jeder Narr, vom König bis zum Polizisten, engstirnigen Pfaffen bis zum phantasielosen Stümper in der Wissenschaft, maßt sich an, aufgrund seiner Autorität über die menschliche Natur zu sprechen. Je berühmter der intellektuelle Quacksalber, desto hartnäckiger sein Bestehen auf der Bosheit und Schwäche der menschlichen Natur. Doch wie kann man heutzutage darüber sprechen, da sich jede Seele gefangen findet, jedes Herz gefesselt, verletzt und verkrüppelt ist.

John Burroughs hat dargelegt, daß experimentelle Studien über Tiere in Gefangenschaft vollkommen sinnlos sind. Ihr Wesen, ihre Lebensweise, ihre Triebe unterliegen einer vollständigen Wandlung, wenn sie ihrer natürlichen Umwelt entrissen werden. Wie aber können wir über die Entwicklungschancen der menschlichen Natur reden, wenn die Menschen auf engem Raum zusammengepfercht und täglich in den Gehorsam geprügelt werden? Freiheit sowie Raum und Möglichkeiten zur Selbstentfaltung, vor allem jedoch Frieden und eine entspannte Atmosphäre, sie allein können uns die wesentlichen Merkmale in der Natur des Menschen samt ihrer wunderbaren Fähigkeiten aufzeigen.

Anarchismus bedeutet also die Befreiung des Geistes von der Herrschaft der Religion, die Befreiung des Menschen von der Herrschaft des Eigentums, die Befreiung von den Fesseln und dem Zwang des Staates. Anarchismus steht für eine Gesellschaftsordnung, basierend auf dem freiwilligen Zusammenschluß von Individuen zum Zweck, wirklichen sozialen Wohlstand zu schaffen; eine Ordnung, die jedem Menschen freien Zutritt zur Welt und volles Ausleben der Lebensbedürfnisse entsprechend den individuellen Wünschen, Neigungen und Vorlieben gewährleistet. Dies ist keine abenteuerliche Phantasie oder geistige Verwirrung. Es ist das Ergebnis, zu dem eine große Zahl vernünftiger Männer und Frauen in der ganzen Welt gelangt sind; eine Folgerung, die sich aus der scharfen, sorgfältigen Beobachtung der Tendenzen der heutigen Gesellschaft ergibt: individuelle Freiheit und ökonomische Gleichheit; die in dieser Gemeinschaft notwendigen Kräfte für die Geburt des Guten und Wahren im Menschen.

Was die Methode anbelangt, so ist der Anarchismus nicht wie manche vermuten eine Theorie der Zukunft, die vermittels göttlicher Eingebung verwirklicht wird. Er ist die lebendige Kraft in den Angelegenheiten unseres täglichen Lebens, das unaufhörlich neue Bedingungen hervorbringt. Die Vorgehensweise des Anarchismus enthält deshalb kein starres Programm, das unter allen Umständen durchgeführt werden müßte. Methoden müssen aus den ökonomischen Erfordernissen jedes Ortes und jeder Region und aus den intellektuellen und anlagebedingten Bedürfnissen des Individuums erwachsen. Das heitere, ruhige Wesen eines Leo Tolstoi wird andere Wege zur sozialen Neuordnung wünschen als die heftige, überschäumende Persönlichkeit Michail Bakunins oder Peter Kropotkins. Ebenso muß es klar sein, daß die wirtschaftlichen und politischen Nöte Rußlands drastischere Maßnahmen gebieten werden als die Englands und Amerikas. Anarchismus steht nicht für militärischen Drill und Uniformität. Er steht jedoch für den Geist der Revolte, in welcher Form auch immer, gegen alles, das der Entwicklung des Menschen hinderlich ist. Darin stimmen alle Anarchisten überein, ebenso wie sie sich in ihrem Widerstand gegen die politische Maschinerie als einem Mittel zur Herbeiführung der großen gesellschaftlichen Veränderung einig sind.

„Alles Wählen“, sagt Thoreau, „ist eine Art Spiel wie Schach oder Backgammon; ein Spiel um Recht oder Unrecht. Seine Verbindlichkeit übersteigt nie das Maß der Zweckmäßigkeit. Der gerechten Sache seine Stimme zu geben, heißt noch lange nicht, etwas dafür zu tun. Ein vernünftiger Mensch wird das Recht weder der Gnade des Zufalls überlassen, noch wird er wollen, daß es durch die Macht der Mehrheit wirksam werde.“ Eine gründliche Prüfung des Räderwerks der Politik und seiner Errungenschaften wird den Schluß Thoreaus bestätigen.

Was zeigt die Geschichte des Parlamentarismus? Nichts als Fehlschläge und Niederlagen; nicht eine einzige Reform, die je die ökonomische und soziale Last des Volkes wirklich erleichtert hätte. Zur Verbesserung und zum Schutz der Arbeit sind Gesetze in Kraft gesetzt und Verordnungen erlassen worden. Dennoch hat sich allein im letzten Jahr gezeigt, daß Illinois, mit den strengsten Grubenschutzgesetzen, die größten Minenunglücke hatte. In Staaten, in denen sich Kinderarbeitsschutzgesetze durchsetzten, ist die Ausbeutung der Kinder am größten, und obwohl die Arbeiter bei uns alle politischen Möglichkeiten haben, hat der Kapitalismus das höchste an schamloser Entfaltung erreicht.

Selbst wenn die Arbeiter ihre eigenen (parlamentarischen) Repräsentanten hätten – wie das unsere guten sozialistischen Politiker ständig lauthals fordern – welche Aussichten hätten ihre Ehrlichkeit und ihr guter Glaube? Man muß nur an den Lauf der Politik denken, um zu erkennen, daß sein Weg der guten Vorsätze mit Fußangeln gepflastert ist: Manipulation, Intrigen, Schmeichlertum, Lügen, Betrügereien; Schliche aller Art, mit denen der politische Emporkömmling Erfolg erzielen kann. Hinzu kommt eine völlige Unterminierung der Persönlichkeit und der Überzeugung, bis nichts mehr übrig ist, das einen von solch einem menschlichen Wrack noch etwas erwarten ließe. Immer und immer wieder waren die Menschen dumm genug, strebsamen Politikern zu trauen, ihnen zu glauben und sie mit ihrem letzten Pfennig zu unterstützen, nur um sich letzten Endes verraten und verkauft zu finden.

Man mag einwenden, daß integre Menschen nicht in der politischen Tretmühle korrumpiert werden. Vielleicht nicht; aber solche Menschen wären, wie es sich auch in der Tat in zahlreichen Fällen gezeigt hat, vollkommen unfähig, auch nur die geringste Macht im Namen der Arbeiter auszuüben. Der Staat ist der Finanzier seiner Bediensteten. Gute Menschen, wenn es solche dort gibt, würden entweder ihrem politischen Bekenntnis treu bleiben und ihre finanzielle Stütze verlieren, oder sie würden sich an ihren Geldgeber klammern und absolut unfähig sein, auch nur das geringste an Gutem zu tun. Die politische Arena läßt einem keine Wahl; man muß entweder ein Narr oder ein Schuft sein.

Der politische Aberglaube herrscht noch immer über Herz und Hirn der Massen; aber die wahren Freunde der Freiheit werden mit ihm nichts mehr zu tun haben. Stattdessen meinen sie mit Max Stirner, daß der Mensch soviel Freiheit habe, wie er sich zu nehmen willens sei. Anarchismus bedeutet daher direkte Aktion, offene Mißachtung und Widerstand gegenüber allen Gesetzen und Beschränkungen ökonomischer, sozialer und moralischer Art. Aber Gesetzesmißachtung und Widerstand sind illegal. Darin liegt das Heil der Menschen. Alles Illegale verlangt Integrität, Selbstvertrauen und Mut. Kurz, es erfordert freie, unabhängige Geister, „Menschen, die stark sind und denen man nicht das Rückgrat brechen kann.“ Selbst das allgemeine Wahlrecht verdankt seine Existenz der direkten Aktion. Ohne den Mut zur Auflehnung, zum Widerstand seitens der amerikanischen revolutionären Vorfahren, würden deren Nachkommen noch heute den Königsrock tragen. Ohne die direkte Aktion eines John Brown und seiner Kameraden würde Amerika noch heute mit dem Körper des schwarzen Menschen Handel treiben. Zugegeben, der Handel mit weißen (und schwarzen Lohnarbeitern, d.Hg.) dauert bis heute an, aber auch das wird durch direkte Aktion abgeschafft werden. Die Gewerkschaftsbewegung, die Arena der Lohnkämpfe moderner Gladiatoren, verdankt ihre Existenz der direkten Aktion. Erst kürzlich haben Justiz und Regierung versucht, die Gewerkschaftsbewegung zu zerschlagen, und sie verurteilten die Verteidiger des Versammlungsrechts als „Verschwörer“ zu Gefängnisstrafen. Hätten sie versucht, ihre Sache mit Betteln, Bitten und Kompromissen durchzusetzen, wäre die Gewerkschaftsbewegung heute eine unbedeutende Größe. In Frankreich, in Spanien, in Italien, in Rußland, ja sogar in England (das beweist der wachsende Widerstand der englischen Gewerkschaften) ist die direkte revolutionäre Aktion im Bereich der Wirtschaft eine so starke Kraft im Kampf für die Freiheit der Arbeit geworden, daß die Welt nicht umhin kann, die gewaltige Bedeutung der Arbeitermacht anzuerkennen. Der Generalstreik, der höchste Ausdruck des ökonomischen Bewußtseins der Arbeiter, wurde in Amerika vor nicht all zu langer Zeit lächerlich gemacht. Heute muß jeder große Streik, um Erfolg zu haben, die Bedeutung des solidarischen, umfassenden Protestes begreifen.

Die direkte Aktion, die sich schon auf ökonomischem Gebiet als erfolgreich erwiesen hat, ist im Bereich des Individuums gleichermaßen wirksam. Hunderte von Zwängen beeinträchtigen dort sein Dasein, und nur hartnäckiger Widerstand dagegen wird es endlich befreien. Direkte Aktion gegen die Betriebsführung, direkte Aktion gegen die Autorität des Gesetzes, direkte Aktion gegen den zudringlichen, lästigen Einfluß unseres Moralkodexes ist die folgerichtige, konsequente Vorgehensweise des Anarchismus.

Wird das nicht zu einer Revolution führen? In der Tat, das wird es. Keine wirkliche soziale Veränderung ist jemals ohne eine Revolution vor sich gegangen. Entweder sind die Leute nicht mit ihrer Geschichte vertraut, oder sie haben noch nicht gelernt, daß Revolution nichts anderes ist, als in die Tat umgesetzte Gedanken. Anarchismus, die großartige, treibende Kraft im Denken, durchdringt heute jeden Bereich menschlicher Bestrebungen. Wissenschaft, Kunst, Literatur, das Schauspiel, die Bemühungen um ökonomische Verbesserungen; wahrhaftig, jede individuelle und soziale Opposition gegen die bestehende Unordnung der Dinge ist von dem Feuer des Anarchismus erleuchtet. Er ist die Philosophie von der Souveränität des Individuums. Er ist die Lehre von der sozialen Harmonie. Er ist die wunderbare, vorwärtsdrängende, lebendige Wahrheit, die die Welt umgestalten und die Morgendämmerung einleiten wird.

 


Zuletzt aktualisiert am 30.12.2004