Eugen von Böhm-Bawerk

Zum Abschluß des Marxschen Systems

I. Die Theorie vom Wert und vom Mehrwert

Die Grundpfeiler des Marxschen Systems sind sein Wertbegriff und sein Wertgesetz. Ohne sie wäre, wie Marx oft wiederholt, jede wissenschaftliche Erkenntnis der wirtschaftlichen Vorgänge unmöglich. Die Art, wie er beide ableitet, ist unzähligemal dargestellt und besprochen worden. Der Anknüpfung wegen müssen wir gleichwohl die wesentlichsten Glieder seines Gedankenganges kurz rekapitulieren.

Das Untersuchungsfeld, das Marx zu durchforschen unternimmt, um dem „Wert auf die Spur zu kommen“ (I. 23) [MEW 23, S. 62] (4), beschränkt er von Haus auf die Waren, worunter wir in seinem Sinn wohl nicht alle wirtschaftlichen Güter, sondern nur die für den Markt erzeugten Arbeitsprodukte zu verstehen haben (5). Er beginnt mit der „Analyse der Ware“ (I. 9) [MEW 23, S. 49]. Die Ware ist einerseits als nützliches Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgend einer Art befriedigt, ein Gebrauchswert, andererseits bildet sie die stofflichen Träger des Tauschwerts. Auf diesen letzteren geht die Analyse nunmehr über. „Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt“. Es scheint also etwas Zufälliges zu sein. Dennoch muß es in diesem Wechsel etwas Bleibendes geben, dem Marx nachzuspüren unternimmt. Er tut es in seiner bekannten dialektischen Weise. „Nehmen wir zwei Waren, z. B. Weizen und Eisen. Welches immer ihr Austauschverhältnis, es ist stets darstellbar in einer Gleichung, worin ein gegebenes Quantum Weizen irgend einem Quantum Eisen gleichgesetzt wird, z. B. 1 Quarter Weizen a Zentner Eisen. Was besagt diese Gleichung? Daß ein Gemeinsames von derselben Größe in zwei verschiedenen Dingen existiert, in 1 Quarter Weizen und ebenfalls in a Zentner Eisen. Beide sind also gleich <52> einem dritten, das an und für sich weder das eine noch das andere Ist. Jedes der beiden, soweit es Tauschwert, muß also auf dies dritte reduzierbar sein“.

„Dies Gemeinsame“ – fährt Marx fort – „kann nicht eine geometrische, physische, chemische oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein. Ihre körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten. Andrerseits ist aber das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert durch die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten. Innerhalb desselben gilt ein Gebrauchswert gerade so viel wie jeder andere, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist. Oder, wie der alte Barbon sagt: ‚Die eine Warensorte ist so gut wie die andere, wenn ihr Tauschwert gleich groß ist. Da existiert keine Verschiedenheit oder Unterscheidbarkeit zwischen Dingen von gleich großem Tauschwert.‘ Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedener Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedener Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert“.

„Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen. Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten; sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.“

„Betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen übrig geblieben, als dieselbe gespenstige Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d.h. der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stellen nur noch dar, daß in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie – Werte.“

Damit ist der Wertbegriff gefunden und bestimmt. Er ist der dialektischen Form nach nicht identisch mit dem Tauschwert, aber er steht zu ihm, wie ich schon jetzt feststellen möchte, in der innigsten, unzertrennlichsten Beziehung: er ist eine Art begrifflichen Destillats aus dem Tauschwert. Er ist, um mit Marx’ eige- <53> nen Worten zu reden, „das Gemeinsame, was sich im Austauschverhältnis oder Tauschwert der Waren darstellt“, wie denn auch umgekehrt wieder „der Tauschwert die notwendige Ausdrucksweise oder Erscheinungsform des Wertes“ ist (I. 13) [MEW 23, S. 53].

Von der Feststellung des Begriffes des Wertes schreitet Marx zur Darlegung seines Maßes und seiner Größe vor. Da die Arbeit die Substanz des Wertes ist, wird konsequent auch die Größe des Wertes aller Güter an dem Quantum der in ihnen enthaltenen Arbeit, bzw. an der Arbeitszeit gemessen. Aber nicht an jener individuellen Arbeitszeit, die gerade dasjenige Individuum, welches das Gut angefertigt hat, zufällig benötigt hat, sondern an der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“, welche Marx erklärt als die „Arbeitszeit, erheischt, um irgend einen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Grade von Geschick und Intensivität der Arbeit darzustellen“ (I. 14) [MEW 23, S. 53]. „Nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswertes gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist es, welche seine Wertgröße bestimmt. Die einzelne Ware gilt hier überhaupt als Durchschnittsexemplar ihrer Art. Waren, worin gleichgroße Arbeitsquanten enthalten sind, oder die in derselben Arbeitszeit hergestellt werden können, haben daher dieselbe Wertgröße. Der Wert einer Ware verhält sich zum Werte jeder anderen Ware wie die zur Produktion der einen notwendigen Arbeitszeit zu der für die Produktion der anderen notwendigen Arbeitszeit. Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Masse festgeronnener Arbeitszeit“.

Aus alledem leitet sich nun der Inhalt des großen „Wertgesetzes“ ab, welches „dem Warenaustausch immanent“ ist (I. 141, 150) [MEW 23, S. 172, 180] und die Austauschverhältnisse beherrscht. Es besagt, und kann nach dem Vorausgegangenen nichts anderes besagen, als daß die Waren sich untereinander nach dem Verhältnisse der in ihnen verkörperten gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsarbeit austauschen (z. B. I. 52) [MEW 23, S. 89]. Andere Ausdrucksformen desselben Gesetzes sind, daß die Waren „sich zu ihren Werten vertauschen“ (z. B. I. 142, 183, III. 167) [MEW 23, S. 173, 209]; [MEW 25, S. 197], oder daß sich „Äquivalent gegen Äquivalent vertauscht“ (z. B. I. 150, 183) [MEW 23, S. 180, 209]. Zwar kommen im einzelnen Falle je nach den momentanen Schwankungen von Angebot und Nachfrage auch Preise zur Erscheinung, die über oder unter den Werten stehen. Allein diese „beständigen Oszillationen der Marktpreise ... kompensieren sich, heben sich wechselseitig auf und reduzieren sich selbst zum Durchschnittspreis als ihrer inneren Regel“ (I. 151, Note 37) (MEW 23, S. 180] . Auf die Dauer setzt sich „in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen“ doch stets „die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durch“ (I. 52) [MEW 23, S. 89]. Marx spricht dieses Gesetz als das „ewige Gesetz des Warentausches“ (I. 182) [MEW 23, S. 208], als „das Rationelle“, als „das natürliche Gesetz des Gleichgewichts“ an <54> (III.  167) [MEW 25, S. 197]: Die allerdings, wie schon gesagt, vorkommenden Fälle, In denen Waren zu Preisen vertauscht werden, die von Ihren Werten abweichen, sind im Verhältnis zur Regel als „zufällige“ (I. 150, Note 37) [MEW 23, S. 180] und die Abweichung selbst als „Verletzung des Gesetzes des Warenaustausches“ anzusehen (I. 142) [MEW 23, S. 173].

Auf diesen werttheoretischen Grundlagen richtet Marx sodann den zweiten Teil seines Lehrgebäudes, seine berühmte Lehre vom „Mehrwert“, auf. Er untersucht die Quelle des Gewinnes, den die Kapitalisten aus ihren Kapitalien ziehen. Die Kapitalisten werfen eine gewisse Geldsumme ein, verwandeln sie in Waren und verwandeln diese dann – mit oder ohne dazwischen liegenden Produktionsprozeß – durch Verkauf in mehr Geld zurück. Woher kommt dieses Inkrement, dieser Überschuß der herausgezogenen über die ursprünglich vorgeschossene Geldsumme oder, wie Marx es nennt, der „Mehrwert“? (6)

Marx grenzt zunächst in der ihm eigentümlichen Weise dialektischer Ausschließung die Bedingungen des Problems ab. Er führt zuerst aus, daß der Mehrwert weder daraus entspringen kann, daß der Kapitalist als Käufer die Waren regelmäßig unter ihrem Wert einkauft, noch daraus, daß er sie als Verkäufer regelmäßig über ihrem Wert verkauft. Das Problem stellt sich sonach folgendermaßen dar: „Unser ... Geldbesitzer muß die Waren zu ihrem Werte kaufen, zu ihrem Werte verkaufen und dennoch am Ende des Prozesses mehr Geld herausziehen, als er hineinwarf ... Dies sind die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus, hic salta!“ (I. 150 fg.) [MEW 23, S. 180 f.].

Die Lösung findet nun Marx darin, daß es eine Ware gibt, deren Gebrauchswert die eigentümliche Beschaffenheit besitzt, Quelle von Tauschwert zu sein. Diese Ware ist das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft. Sie wird auf dem Markte feilgeboten unter der doppelten Bedingung, daß der Arbeiter persönlich frei ist – denn sonst würde nicht seine Arbeitskraft, sondern seine ganze Person, als Sklave, feil sein –, und daß der Arbeiter von „allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“ entblößt ist, denn sonst würde er es vorziehen, auf eigene Rechnung zu produzieren und seine Produkte statt seiner Arbeitskraft feilzubieten. Durch den Handel mit dieser Ware erwirbt nun der Kapitalist den Mehrwert. In folgender Weise.

Der Wert der Ware „Arbeitskraft“ richtet sich, gleich dem jeder anderen Ware, nach der zu ihrer Reproduktion notwendigen Arbeits- <55> zeit, das heißt in diesem Falle, nach der Arbeitszeit, die notwendig ist, um so viel Lebensmittel zu erzeugen, als zur Erhaltung des Arbeiters erforderlich werden. Ist z. B. zur Erzeugung der notwendigen Lebensmittel für einen Tag eine gesellschaftliche Arbeitszeit von 6 Stunden erforderlich, und ist zugleich, wie wir annehmen wollen, dieselbe Arbeitszeit in 3 sh. Gold verkörpert, so wird die Arbeitskraft eines Tages in 3 sh. zu kaufen sein. Hat der Kapitalist diesen Kauf geschlossen, so gehört der Gebrauchswert der Arbeitskraft ihm, und er realisiert ihn, indem er den Arbeiter für sich arbeiten läßt. Würde er ihn täglich nur so viele Stunden arbeiten lassen, als in der Arbeitskraft selbst verkörpert sind, und als er beim Einkaufe derselben hatte bezahlen müssen, so würde ein Mehrwert nicht entstehen. Denn 6 Arbeitsstunden können dem Produkte, in dem sie verkörpert werden, nach der Annahme keinen größeren Wert als 3 sh. zusetzen; so viel hat aber der Kapitalist auch an Lohn gezahlt. Aber so handeln die Kapitalisten nicht. Auch wenn sie die Arbeitskraft um einen Preis gekauft haben, der nur einer sechsstündigen Arbeitszeit entspricht, lassen sie den Arbeiter den ganzen Tag für sich arbeiten. Jetzt sind im Produkte, daß während dieses Tages geschaffen wird, mehr Arbeitsstunden verkörpert, als der Kapitalist bezahlen mußte; es hat daher einen größeren Wert als der bezahlte Lohn, und die Differenz ist „Mehrwert“, der dem Kapitalisten zufällt.

Ein Beispiel. Gesetzt, ein Arbeiter kann in 6 Stunden 10 Pfund Baumwolle in Garn verspinnen. Gesetzt, diese Baumwolle hat zu ihrer eigenen Erzeugung 20 ArbeItsstunden erfordert und besitzt demgemäß einen Wert von 10 sh. Gesetzt ferner, der Spinner vernutzt während der sechsstündigen Spinnarbeit am Werkzeug so viel, als einer vierstündigen Arbeit entspricht und daher einen Wert von 2 sh. repräsentiert – so wird der Gesamtwert der in der Spinnerei verzehrten Produktionsmittel 12 sh. entsprechend 24 Arbeitsstunden betragen. Im Spinnprozesse „saugt“ die Baumwolle noch weitere 6 Arbeitsstunden ein: das fertige Gespinst ist daher im ganzen das Produkt von 30 Arbeitsstunden und wird demgemäß einen Wert von 15 sh. haben. Unter der Voraussetzung, daß der Kapitalist den gemieteten Arbeiter nur 6 Stunden im Tage arbeiten läßt, hat die Herstellung des Garnes den Kapitalisten auch volle 15 sh. gekostet: 10 sh. für Baumwolle, 2 sh. für Abnützung an Werkzeugen, 3 sh. an Arbeitslohn. Ein Mehrwert kommt nicht zur Erscheinung.

Ganz anders, wenn der Kapitalist den Arbeiter 12 Stunden täglich arbeiten läßt. In 12 Stunden verarbeitet der Arbeiter 20 Pfund Baumwolle, in denen schon vorher 40 Arbeitsstunden verkörpert und die daher 20 sh. wert sind, vernutzt ferner an Werkzeugen das Produkt von 8 Arbeitsstunden im Werte von 4 sh., setzt aber dem Rohmateriale während eines Tages 12 Arbeitsstunden, d. i. einen Neuwert von 6 sh., zu. Nunmehr steht die Bilanz folgendermaßen. Das während eines Tages erzeugte Garn hat insgesamt 60 Arbeitsstunden gekostet, hat daher einen Wert von 30 sh.; die <56> Auslagen des Kapitalisten betrugen 20 sh. für Baumwolle, 4 sh. für Werkzeugabnutzung und 3 sh. für Lohn, folglich zusammen nur 27 sh.; es erübrigt jetzt ein „Mehrwert“ von 3 sh.

Der Mehrwert ist daher nach Marx eine Folge davon, daß der Kapitalist den Arbeiter einen Teil des Tages für sich arbeiten läßt, ohne ihn dafür zu bezahlen. Im Arbeitstage des Arbeiters lassen sich zwei Teile unterscheiden. Im ersten Teile, der „notwendigen Arbeitszeit“, produziert der Arbeiter seinen eigenen Lebensunterhalt, beziehungsweise dessen Wert; für diesen Teil seiner Arbeit empfängt er ein Äquivalent im Lohn. Während des zweiten Teiles, der „Surplus-Arbeitszeit“, wird er „exploitiert“, erzeugt er den „Mehrwert“, ohne selbst irgend ein Äquivalent dafür zu erlangen (I. 205 ff.) [MEW 23, S. 229 ff]. „Aller Mehrwert... ist seiner Substanz nach Materiatur unbezahlter Arbeitszeit“ (I. 554) [MEW 23, S. 556].

Sehr wichtig und für das Marxsche System charakteristisch sind die nunmehr folgenden Größenbestimmungen des Mehrwerts. Man kann die Größe des Mehrwerts zu verschiedenen anderen Größen in Beziehung setzen. Die Verhältnisse und Verhältniszahlen, die sich daraus entwickeln, müssen scharf auseinandergehalten werden.

Zunächst sind innerhalb des Kapitals, welches dem Kapitalisten zur Aneignung des Mehrwerts dient, zwei Bestandteile zu unterscheiden, die in Bezug auf die Entstehung des Mehrwerts eine vollkommen verschiedene Rolle spielen. Wirklich neuen Mehrwert schaffen kann nämlich nur die lebendige Arbeit, die der Kapitalist von den Arbeitern verrichten läßt, während der Wert der vernutzten Produktionsmittel nur einfach erhalten wird, indem er in veränderter Gestalt im Werte des Produktes wiedererscheint, aber keinen Mehrwert ansetzen kann. „Der Teil des Kapitals also, der sich in Produktionsmittel, d. h. in Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel, umsetzt, verändert seine Wertgröße nicht im Produktionsprozeß“ – weshalb Marx ihn „konstantes Kapital“ nennt. „Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals verändert dagegen seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eigenes Äquivalent und einen Überschuß darüber“, eben den Mehrwert. Darum nennt ihn Marx den „variablen Kapitalteil“ oder „variables Kapital“ (I. 199) (I. S. 244). Das Verhältnis nun, in dem der Mehrwert zum vorgeschossenen variablen Kapitalteil steht, in welchem dieser „sich verwertet“, nennt Marx die Rate des Mehrwerts. Sie ist identisch mit dem Verhältnis, in welchem die Surplusarbeitszeit zur notwendigen Arbeitszeit oder die unbezahlte zur bezahlten Arbeit steht, und gilt daher Marx als „der exakte Ausdruck für den Exploitationsgrad der Arbeit“ (I. 207 fg.) [MEW 23, S. 232]. Beträgt z. B. die notwendige Arbeitszeit, in welcher der Arbeiter den Wert seines Tagelohnes von 3 sh. hervorbringt, 6 Stunden, die tägliche Arbeitszeit aber 12 Stunden, wobei der Arbeiter während der zweiten 6 Stunden, als Surplusarbeitszelt, ebenfalls einen Wert von 3 sh., als Mehrwert, hervorbringt, so macht der Mehrwert ganz ebensoviel aus, als das zu Lohnzwecken vorgeschossene variable <57> Kapital, und es berechnet sich die Rate des Mehrwerts mit 100 %.

Vollkommen verschieden davon ist die Profitrate. Der Kapitalist berechnet nämlich den Mehrwert, den er sich aneignet, nicht bloß auf den variablen Kapitalteil, sondern auf sein ganzes angewendetes Kapital. Beträgt z. B. das konstante Kapital 410 Pfd. St., das variable 90 Pfd. St. und der Mehrwert ebenfalls 90 Pfd. St., so ist zwar die Rate des Mehrwerts, wie oben, 100 %‚ die Profitrate aber nur 18 %‚ nämlich 90 Pfd. St. Profit auf ein investiertes Gesamtkapital von 500 Pfd. St..

Es liegt nun weiter auf der Hand, daß eine und dieselbe Mehrwertsrate sich in sehr verschiedenen Profitraten darstellen kann und muß, je nach der Zusammensetzung des betreffenden Kapitals: die Profitrate wird desto höher sein, je stärker der variable und je schwächer der konstante Kapitalteil vertreten ist, welcher letztere zur Entstehung des Mehrwerts nicht beiträgt, wohl aber die Basis vergrößert, auf die der lediglich nach dem variablen Kapitalteil sich bestimmende Mehrwert als Profit zu berechnen ist. Ist z. B. – was praktisch allerdings kaum möglich ist – das konstante Kapital gleich Null und das variable Kapital 50 Pfd. St., und beträgt, nach der obigen Annahme, die Mehrwertsrate 100 %‚ so stellt sich der erzeugte Mehrwert ebenfalls auf 50 Pfd. St., und da derselbe auf ein Gosamtkapital von nur 50 Pfd. St. zu berechnen ist, so würde sich in diesem Falle auch die Profitrate auf volle 100 % stellen. Ist dagegen das Gesamtkapital im Verhältnis von 4 : 1 aus konstantem und variablem Kapital zusammengesetzt, tritt mit anderen Worten zum variablen Kapital von 50 Pfd. St. ein konstantes von 200 Pfd. St. hinzu, so ist der bei einer 100 %igen Mehrwertsrate gebildete Mehrwert von 50 Pfd. St. auf ein Gesamtkapital von 250 Pfd. St. zu reparieren und stellt für dieses nur eine Profitrate von 20 % dar. Wäre endlich das Zusammensetzungsverhältnis 9 : 1, d. i. 450 Pfd. St. konstantes auf 50 Pfd. St. variables Kapital, so entfiele ein Mehrwert von 50 Pfd. St. auf ein Gesamtkapital von 500 Pfd. St., und der Profitsatz wäre nur 10 %.

Dies führt nun zu einer äußerst interessanten und belangreichen Konsequenz und in ihrem weiteren Verfolg zu einer ganz neuen Etappe des Marxschen Systeme, der wichtigsten Neuerung des dritten Bandes.

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Anmerkungen des Verfassers

(4) Ich zitiere den I. Band des Marxschen Kapitals stets nach der (zweiten) Auflage von 1872, den II. Band nach der Ausgabe von 1885, den III. nach der von 1894, und zwar ist, wenn nichts anderes bemerkt wird, unter III stets die erste Abteilung des III. Bandes gemeint. (Die Angaben in eckigen Klammern beziehen sich auf die MEW Ausgabe Bd. 23 – 25. Die Herausgeber)

(5) I. 15, 17, 49, 87 und öfters. [MEW, Bd. 23, S. 55, 57, 87, 122]. Vgl. auch Adler, Grundlagen der Karl Marxschen Kritik der bestehenden Volkswirtschaft, Tübingen 1887, S. 210 u. 213.

(6) Ich habe von diesem Teile der Marxschen Lehren seinerzeit an einem anderen Orte (Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, S. 421 ff.) eine ausführliche Darstellung gegeben. Ich folge derselben auch jetzt, mit mehrfachen, durch den jetzigen Zweck gestatteten Abkürzungen


Zuletzt aktualisiert am 21. März 2020