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Die Werttheorie Ricardos – Die Marxsche Werttheorie und ihre Rolle in der Marxschen Gesellschaftslehre – Marx über die utopistische Auslegung von Ricardos Formel – Die utopistische Auslegung und das Naturrecht – Das sogenannte Recht auf den vollen Arbeitsertrag – Marx und das Recht des Mehrwerts – Mehrwert und Ausbeutung – Der Mehrwert und der Klassenkampf
Die Ableitung des Sozialismus von naturrechtlichen Betrachtungen steht in engem Zusammenhang mit der Ableitung des Sozialismus von der Lehre vom Arbeitswert, das heißt von der Werttheorie, wie sie von Ricardo aufgestellt und von Marx weiter entwickelt worden ist. David Ricardo geht in seiner Werttheorie aus von dem Wert der Waren, die auf dem Markt gehandelt werden und nicht ein Seltenheitsmonopol haben, sondern verhältnismäßig – auch da gibt es ja Grenzen – beliebig vermehrt werden können. Der Markt- oder Tauschwert dieser Waren, weist er nach, besteht in der zu ihrer Herstellung erforderten menschlichen Arbeit, gemessen nach der Zeit, die auf die Arbeit verwandt wird. Die Feststellung ist das Bedeutende an der Werttheorie Ricardos. Auch sie ist nicht völlig neu aus seinem Haupt entsprungen. Man kann Sätze, die den Gedanken annähernd aussprechen, schon bei Vorgängern Ricardos im 17. Jahrhundert finden. Aber mit der wahrhaft klassischen Klarheit hat erst Ricardo ihn formuliert. Es gibt zwei Arten Wert, stellt er fest: Gebrauchswert oder Nützlichkeitswert und Tauschwert oder Marktwert der Ware. Die Nützlichkeit ist die Voraussetzung des Tauschwertes, aber sie bestimmt ihn nicht. Soweit Waren beliebig produziert werden können, ist die Aufwendung von Arbeit das für ihren Tauschwert Maßgebende, wobei die Konkurrenz auf dem Markt den Ausgleich bewirkt. Selbstverständlich ist nicht alle Arbeit gleich. Qualifizierte Arbeit löst sich auf in verschiedene Bestandteile einfacher Arbeit. Nicht jede Arbeit ist ferner gleich wertbildend. Die Arbeit muß auf der Höhe der Technik der allgemeinen Produktionsentwicklung stehen.
Bei Ricardo nun, dessen Grundsätze der Volkswirtschaftslehre 1817 erschienen, kehrt diese Werttheorie ihre Spitze gegen das Grundeigentum, beziehungsweise gegen die Ansprüche der Grundeigentümer auf besondere Bodenrente. Das Werk erschien zu einer Zeit, wo England sehr hohe Kornzölle erhob, und wo der Kampf darum ging, ob sie fortdauern oder gar erhöht werden sollten. An die vollständige Abschaffung des Kornzolles wurde damals kaum gedacht. In diesem Kampfe bestritt Ricardo den Anspruch auf Grundrente, indem er ausführte, daß diese kein konstituierendes Element des Wertes sei, sondern ein Abzug vom Wert, der dem Besitzer des Grundeigentums gegeben wird, während ein naturrechtlicher Anspruch auf Grundrente überhaupt nicht bestehe. Der Kampf zwischen Grundeigentümer und kapitalistischem Unternehmer, der im ersten Teile des 19. Jahrhunderts eine große Bedeutung hatte, war bewußt oder unbewußt das Motiv, das Ricardo veranlaßte, seine Theorie aufzustellen.
Aber dabei blieb es nicht. Die Theorie Ricardos wurde bald gegen die Unternehmer überhaupt, auch gegen die industriellen Kapitalisten gekehrt. Es begann ein Streit um die Definition des Begriffs „Arbeit“. Ricardo begreift in ihn ein die Tätigkeit des Unternehmers, der Lohnarbeiter und der Angestellten, so daß der Wert bestimmt wird bei ihm eigentlich nicht durch die Arbeit des Lohnarbeiters, des physischen und geistigen Arbeiters, sondern das Produkt ist von dieser Arbeit und dem Unternehmerprofit zusammen. Sehr bald kehrten aber Sozialisten die Spitze gegen Ricardo als einen Verteidiger der Kapitalisten. Sie erklärten: nein, für den Wert ist die Arbeit allein maßgebend, die Arbeit der wirklich Arbeitenden, nicht der Anspruch des Kapitalisten. Der Unternehmerprofit ist auch nur ein Abzug vom Arbeitswert.
In dieser Argumentierung – und das ist sehr interessant – erblicken viele das große Werk von Karl Marx. Wenn man herumfragt, um welche bedeutsame Erkenntnis Karl Marx die Wissenschaft der Ökonomie bereichert habe, so wird man von den meisten hören, es sei das eben diese Theorie des Wertes, daß die aufgewendete Arbeit allein den Wert der Waren bestimme. Es geht Marx da so, wie fast jedem großen bahnbrechenden Denker. Es wird etwas als sein Werk erklärt, was er schon fertig vorfand, als er anfing zu arbeiten. Fragt man z. B. eine Anzahl Leute nach dem Werke Kants, so werden neun von zehn antworten, er habe die Theorie vom Ding an sich aufgestellt, das heißt eine Theorie, die tatsächlich schon über 2.000 Jahre vorher in der Philosophie lebte, ehe Kant geboren war. Er hat vielmehr die Folgerungen, die man aus dem Ding an sich gezogen hatte, begrenzt, das ist sein großes Werk; aber nicht, daß er die Idee selbst zuerst aufgestellt habe. Und Marx’ Werk besteht darin, die Ableitungen aus der Idee vom Arbeitswert sehr vertieft, sie zu weiteren Zwecken der Untersuchung fruchtbar verwendet zu haben. Was Marx bei seinem großen Werk Das Kapital sich zur Aufgabe stellte, war nicht der Nachweis, daß den Arbeitern das Produkt der Arbeit gehöre, weil Arbeit den Wert der Ware bestimmt, sondern das Streben, die großen Bewegungsgesetze der modernen kapitalistischen Wirtschaft zu erkennen, zu formulieren und festzustellen. Dazu brauchte er allerdings die Theorie vom Arbeitswert, weil sie ihm die Grundlage der Theorie vom Mehrwert über den Preis hinaus ist, des Mehrwerts, um den in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sich der Kampf der Klassen vollzieht. Der Kampf um den Mehrwert zwischen Unternehmer und Grundbesitzer, der Kampf um den Mehrwert zwischen Arbeiter und Unternehmer – der Lohnkampf –, der Kampf um den Mehrwert der Unternehmer untereinander in der freien Konkurrenz, das sind die großen Triebkräfte, die auf die Entwicklung der Wirtschaften nach den verschiedensten Seiten hin den allergrößten Einfluß haben.
Der Streit um den Mehrwert, der in der Grundrente steckt, ist nicht ein rein theoretisches Spiel, sondern der Niederschlag des Kampfes um die Bestimmung fast der ganzen Agrargesetzgebung einschließlich der Zollgesetzgebung in bezug auf Agrarprodukte. Der Kampf in der freien wirtschaftlichen Konkurrenz um den Mehrwert ist es wiederum, der dahin führt, daß, wenn der Druck auf die Löhne nicht möglich ist, um die Produktion zu verbilligen, die technische Herstellungsweise immer mehr vervollkommnet wird. Er führt ferner dazu, daß der Unternehmer, um andere Unternehmer aus dem Felde zu schlagen, sich genötigt sieht, die Unternehmung immer mehr zu vergrößern, damit ein relativ kleinerer Anteil an den Kosten auf den Lohn entfällt und ein relativ größerer Mehrwert verbleibt. Hierum aber spielt auch der Kampf der Unternehmer und Arbeiter selber, und als solcher spitzt er sich nach verschiedenen Seiten hin zu. So ist der Kampf um den Mehrwert in der kapitalistischen Gesellschaft gewissermaßen die zuletzt bestimmende Triebkraft aller großen wirtschaftlichen Bewegungen, hinter denen, durch sie hervorgerufen, die großen politischen Kämpfe, die Klassenkämpfe, stehen.
Die Umkehrung der Lehre vom Arbeitswert gegen Ricardo und die ganze bürgerliche Ökonomie setzt in England schon um das Jahr 1821 ein. Marx zitiert selbst eine in jenem Jahre erschienene kleine anonyme Schrift, deren Titel, ins Deutsche übersetzt, ungefähr lautet: Die Quelle und das Abhilfsmittel unserer nationalen Schwierigkeit. Ein Brief an Lord John Russell. Sie ward also 26 Jahre früher verfaßt, bevor Marx seine erste ökonomische Abhandlung schrieb, die gegen Proudhon gerichtete Streitschrift Das Elend der Philosophie, und 45 Jahre vor seinem Kapital. In dieser Schrift, was ganz interessant ist, heißt es:
„Was auch dem Kapitalisten zukommen möge, er kann immer nur die Mehrarbeit (hier haben wir schon diesen Begriff) des Arbeiters sich aneignen, denn der Arbeiter muß leben. Wenn das Kapital nicht an Wert abnimmt im Verhältnis, wie es an Masse zunimmt, so wird der Kapitalist dem Arbeiter das Produkt jeder Arbeitsstunde abpressen über das Mindestmaß dessen, wovon der Arbeiter leben kann.“
Da haben wir auch den Gedanken der Theorie des ehernen Lohngesetzes, wie Lassalle es seiner Agitation zugrunde legte, und wie es lange Jahre von der deutschen Arbeiterbewegung gleich einem Heiligtum hochgehalten wurde. Die zwanziger und dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts sind ja die Blütezeit, auch die geistige Blütezeit des Sozialismus in England. Sie zeitigte eine außerordentlich interessante sozialistische Literatur, sozialistische Schriften Robert Owens selbst, der William Thompson, John Gray, T. R. Edmonds, J. F. Bray und noch einer ganzen Reihe Schriftsteller aus der Schule Robert Owens. Sie alle fußen darauf: Der Arbeiter bekommt nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit, die Arbeit und nicht der Arbeitslohn bestimmt den Wert der Ware, infolgedessen hat der Arbeiter auf den vollen Wert des Produkts Anspruch.
Karl Marx hatte sein großes Werk über politische Ökonomie schon um 1849 in Angriff genommen, ging aber erst 1859 daran, es zu veröffentlichen. Es sollte in Lieferungen bzw. Heften erscheinen. Aber nur das erste Heft ist damals erschienen, nämlich die Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie, und in ihr wird vom Verhältnis des Arbeitslohns zum Arbeitswert noch gar nicht näher gehandelt.
Es ist beiläufig ein bemerkenswertes Zusammentreffen, daß dieses Buch von Marx, in dessen Vorwort er die Grundgedanken seiner Geschichtstheorie entwickelt, die wir als soziologische oder sozialwissenschaftliche Entwicklungslehre kennen, in demselben Jahre herauskam, wo das erste bahnbrechende Buch von Charles Darwin erschienen ist: Der Ursprung der Arten, das grundlegend war für die biologische Entwicklungslehre, die Wissenschaft von der Metamorphose der Lebewesen. Wenn die Darwinschen Aufstellungen heute auch in vielen Punkten umgeworfen sind, so ist der Grundgedanke seiner Theorie doch beibehalten; er bleibt der Vater der biologischen Entwicklungslehre. Und ebenso mit Marx. Was bei Darwin für die Entstehung und Entwicklung der Arten der Kampf ums Dasein in der Natur ist, ist bei Marx für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften der Kampf der Klassen in der Gesellschaft. Beider Theorien sind grundsätzlich auf den Kampf gestützte Entwicklungslehren.
In dem Buche Zur Kritik der politischen Ökonomie nun findet man von Marx an einer Stelle, wo er die damaligen Angriffe auf die Ricardosche Werttheorie auseinandersetzt und die aus ihr sich ergebenden Probleme formuliert, folgenden Satz:
„Wenn der Tauschwert eines Produktes gleich ist der in ihm enthaltenen Arbeitszeit, dann ist der Tauschwert eines Arbeitstages gleich seinem Produkt, oder der Arbeitslohn muß dem Produkt der Arbeit gleich sein. Nun ist das Gegenteil der Fall.“
Und dazu setzt Marx die Fußnote:
„Dieser von ökonomischer Seite gegen Ricardo beigebrachte Einwand ward später von sozialistischer Seite aufgegriffen. Die theoretische Richtigkeit der Formel vorausgesetzt, wurde die Praxis des Widerspruches gegen die Theorie bezichtigt und die bürgerliche Gesellschaft angegangen, praktisch die vermißte Konsequenz ihres theoretischen Prinzips zu ziehen. In dieser Weise kehrten wenigstens englische Sozialisten die Ricardosche Formel des Tauschwertes gegen die politische [bürgerliche. Ed. B.] Ökonomie.“
Marx nennt dann weiterhin an dieser Stelle diese Ableitung des Sozialismus von Ricardo die utopistische Auslegung der Ricardoschen Formel, und man hat geglaubt, sie sei das große Werk von Marx! Eine Auslegung, die er gerade als utopistisch bezeichnet hat! Sie aber zieht sich durch die ganze sozialistische Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie gipfelt, wie hier schon angedeutet wird, in der Forderung des Rechtes auf den vollen Arbeitsertrag. Die Frage dieses Rechtes hat gleichfalls eine ganze Literatur erzeugt. Unter anderem hat sie eingehend behandelt Anton Menger, der verstorbene, sehr gelehrte österreichische Sozialist. Aber noch ein anderer hat die Idee aufgegriffen, und das war Ferdinand Lassalle, der sie anscheinend zum Angelpunkt seiner sozialistischen Agitation machte. Auch bei Proudhon finden wir sie in seinen ersten großen sozialistischen Schriften behandelt, die am meisten Sensation erregten. Seine erste sozialistische Schrift hieß: Was ist das Eigentum?, in ihr hat er das bekannte Paradoxon aufgestellt: „Das Eigentum ist Diebstahl“. Und wie beweist er den Satz? Er stützt ihn darauf, daß das Eigentum es ermöglicht, den Ertrag der Arbeit des Arbeiters diesem zu verkürzen, ihm im Lohn einen großen Anteil vorzuenthalten. Und so gründet er seine sozialistische Theorie auf das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, auf das Ricardosche Wertgesetz. Dasselbe ist der Fall bei Karl Rodbertus, dem berühmten deutschen, mehr konservativ gerichteten Nationalökonomen. Auch dieser beruft sich für seine sozialistische Theorie auf das Wertgesetz Ricardos, und ebenso tut es Ferdinand Lassalle in seinen Agitationsschriften. Ferdinand Lassalle geht hierbei zuletzt zurück auf das Naturrecht, begründet den Sozialismus naturrechtlich. Er befindet sich damit, ohne es zu wissen, auf demselben Boden wie Proudhon. Ja, das bedeutende, hochinteressante wissenschaftliche Hauptwerk Lassalles: Das System der erworbenen Rechte, ist im letzten Grunde auch nur ein Eintreten für das Naturrecht gegen das erworbene Recht, denn sein leitender Grundgedanke ist die Anwendung eines aus dem Naturrecht abgeleiteten Satzes der Erklärung der Menschenrechte der großen französischen Revolution, nämlich daß keine Generation spätere Generationen an ihre Gesetze binden kann, auf das öffentliche wie auf das Privatrecht.
Ganz anders Marx. Er hat die Werttheorie, die er bei Ricardo vorfand, konsequent weitergebildet, aber nicht, um aus der Lehre vom Mehrwert Rechtsansprüche herzuleiten, sondern um die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft schärfer zu erfassen und darzustellen. Das unterscheidet ihn von fast allen anderen Sozialisten, die an Ricardo angeknüpft haben, und nicht zum wenigsten von Rodbertus und Lassalle.
Rodbertus hat schon in seiner 1842 erschienenen Schrift Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände und später in seinen Sozialen Briefen an die Werttheorie von Ricardo angeknüpft und sie ganz in der naturrechtlichen Auffassung der französischen und englischen Sozialisten so ausgelegt, daß dem Arbeiter schon dadurch, daß er Lohn statt den vollen Ertrag erhält, etwas weggenommen wird, was ihm von Rechts wegen zukommt. Lassalle legt die Idee seinem im Jahre 1863 erschienenen Offenen Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zugrunde und entwickelt sie ein Jahr später sehr eingehend in seiner Streitschrift: Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian. Er steht da vollständig auf den Schultern von Ricardo und vermeintlich auch auf den Schultern von Marx. Schon im Briefe vom 12. Mai 1851 an Marx nennt er diesen den „Sozialist gewordenen Ricardo“, und in demselben Briefe sagt er: „Ricardo ist unser unmittelbarer Vater!“ und rühmt die Definition der Grundrente, die Ricardo gegeben hat, als die „gewaltigste kommunistische Tat“. Ihm, der vor allem Rechtstheoretiker war, lag es eben ganz besonders nahe, den Sozialismus aus der Mehrwertstheorie juristisch abzuleiten. In der Agitation diente ihm diese Ableitung zur Unterstützung des von ihm als ehern bezeichneten Lohngesetzes Ricardos, wonach der Lohn des Arbeiters nie viel höher über dessen notwendige Lebensbedürfnisse steige und nie lange Zeit wesentlich darunter bleiben könne, beiläufig eine Deduktion, die mehr malthusianisch als ökonomisch ist. Auf sie beriefen sich aber, ihm folgend, dann jahrzehntelang die Agitatoren beider Richtungen der deutschen Sozialdemokratie, die spezifischen Lassalleaner wie auch die Sozialisten der Eisenacher Richtung von Bebel und Liebknecht, die im übrigen sich gegen Lassalles Mittel wandten, das darauf hinauslief, die Mehrarbeit zu beseitigen durch die Schaffung von Produktivgenossenschaften der Arbeiter mit Staatskredit. Diese Idee der Produktivgenossenschaften stammte gleichfalls von den englischen Sozialisten. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sind in England große Versuche mit einem verhältnismäßig ziemlich bedeutenden Aufwand von Kapital mit ihr gemacht worden. Wohlmeinende christliche Sozialisten Englands haben über eine Million Mark hergegeben für Produktivgenossenschaften. Aber diese Schöpfungen sind entweder zugrunde gegangen oder sie haben ihren Charakter geändert und sind kapitalistische Unternehmungen geworden. In Deutschland war man darüber nicht genauer unterrichtet, und als 1875 die beiden sozialistischen Parteien sich vereinigten, fand sich in dem Entwurf des Programms für die neue Partei im Anschluß an die Forderung der „Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes“ der Satz:
„Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zum Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrages.“
Wie Marx den ganzen Entwurf in einem Briefe an August Bebel und Genossen äußerst abfällig kritisierte, so auch speziell diesen Satz von der gerechten Verteilung des Arbeitsertrages, der nach seiner Meinung gar nichts besagte. Die Ableitung vom ehernen Lohngesetz bezeichnet er als utopistisch. Über die Forderung der gerechten Verteilung sagt er:
„Was ist ‚gerechte‘ Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, daß die heutige Verteilung ‚gerecht‘ ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzig ‚gerechte‘ Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen?“
Über das letztere, den Grundgedanken der ökonomischen Geschichtsauffassung, eingehender zu sprechen, ist hier nicht der Ort. Aber es geschieht in ihrem Sinne, wenn Marx scharf gegen den Gedanken polemisiert, agitatorisch in das Programm das Schlagwort gerechte Verteilung des Arbeitsvertrages hineinzuwerfen. Er führt aus, die Form, wie der Arbeitsertrag verteilt wird, werde bestimmt durch die jeweilige Produktionsweise, und auf dem Boden der jeweiligen Produktionsweise sei sie dann, ökonomisch betrachtet, gerecht. Ob auch die Lohnhöhe gerecht ist, ist etwas anderes; aber daß der Arbeiter Lohn bekommt und nicht den Ertrag der Arbeit, das entspreche der gegebenen Produktionsweise, und auf dem Boden dieser Produktionsweise könne daran nichts Wesentliches geändert werden. Des weiteren legt Marx dar, welche Widersprüche in der Forderung des vollen Arbeitsertrages liegen. Er erklärt, daß das gleiche Recht bei der Verteilung des Arbeitsertrags auf die Leistung bezogen seinem Inhalte nach gleiches Unrecht sei, denn die Arbeitsleistungen seien ja verschieden. Wenn der Arbeiter den vollen Ertrag seiner Arbeit bekomme, so bekomme er gegenüber anderen Arbeitern Ungleiches, weil er ungleich arbeitet, und so werde das gleiche Recht hier ein Recht der Ungleichheit. Er sagt:
„Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und die dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft“,
und er tadelt es auf das schärfste, daß man im Programm Vorstellungen Ausdruck gebe, die einmal obwaltet und deshalb einen gewissen Sinn hatten, aber im Angesicht der neugewonnenen Erkenntnis zum veralteten Phrasenkram gehören. Der Brief ist ungemein interessant, aber er ist zu jener Zeit bei der endgültigen Fassung des sozialdemokratischen Programms wenig berücksichtigt worden. Ohne den Namen zu nennen, richtete er sich wesentlich gegen Wilhelm Liebknecht, den hochverdienten Vorkämpfer der Sozialdemokratie, der lange Jahre hindurch in Deutschland als der berufene Interpret von Karl Marx galt. Das war er aber auf theoretischem Gebiet ganz und gar nicht. Er war vielmehr wesentlich naturrechtlicher Sozialist im Geiste der Franzosen, und daher wenig in den Sinn der Marxschen Lehre eingedrungen. Der Brief, der, wie gesagt, nur wenig auf die Gestaltung des damals vereinbarten Programms der Sozialdemokratie eingewirkt hat, geriet in Vergessenheit, bis im Jahre 1890, als die Sozialdemokratie von neuem vor der Aufgabe stand, ein Programm zu schaffen, Friedrich Engels ihn mit allen seinen Schärfen in der Neuen Zeit veröffentlichte.
Die Frage aber, um die es sich hier dreht, blieb eine Streitfrage des Sozialismus. Und zwar nicht so sehr eine Streitfrage über den Mehrwert und dergleichen, denn der war ja eine nachweisbare Tatsache. Daß der Arbeiter im allgemeinen einen höheren Wert erarbeiten muß, als er im Lohn bekommt, das ließ sich sehr leicht nachweisen. Will man es sich heute greifbar veranschaulichen, so lese man die Statistik der Aktionäre. Die Aktionäre sind eigentlich der herumwandelnde Mehrwert, ob sie nun sozialrechtlich Anspruch auf ihn haben oder nicht. Wie man die Aktionäre, d. h. die Leute, die ihr Geld in den Aktien von gewerblichen Unternehmungen anlegen, sozialrechtlich beurteilt, ob man auf sie als Schmarotzer verächtlich zu blicken hat, oder ob man sagen kann, sie sind zeitweise eine große Notwendigkeit gewesen und auch heute noch nicht entbehrlich, das ist eine Frage für sich. Zu ihrer Beleuchtung sei hier eine kleine Episode erwähnt. Der deutsche Reichstag verhandelte im Jahre 1906 über die vom damaligen Reichsschatzsekretär ausgearbeitete Finanzaufbesserung. Sie schlug zum ersten Male eine Reichserbschaftssteuer vor, und die Sozialdemokratische Partei, deren Mitglied ich bin, hatte, weil sie Gegnerin aller indirekten Steuern und Zölle war, höhere Sätze als der Minister für die Erbschaftssteuer beantragt. Mir fiel die Aufgabe zu, diese Forderung zu vertreten, und ich wies dabei darauf hin, daß damals schon eine Verteilung des Eigentums eingetreten sei, welche die Möglichkeit biete, die für die notwendige Entwicklung der Großproduktion erforderten Betriebskapitale auf genossenschaftlichem Wege aufzubringen, und verwies hierfür auf die starke Verbreitung des Aktienwesens. Der große Kapitalist habe eine notwendige Funktion erfüllt in der Beschaffung der Mittel für die Erweiterung der Produktion zu der Zeit, wo eine andere Form der Kapitalbildung nicht da war. Das sei aber zum Teil schon überwunden, und man könne infolgedessen schon dreister zugreifen bei der Besteuerung der großen Vermögen und Erbschaften. Da antwortete mir ein nationalliberaler westfälischer Abgeordneter, das klinge sehr schön, aber es sei doch falsch, denn wenn kleine Leute die Mittel zusammenschießen, würden sie nie den Unternehmergeist und den Wagemut aufbringen, der erforderlich sei, sich auf so weitschichtige Unternehmungen einzulassen, wie die Großkapitalisten es täten. Wer bemüht ist, objektiv zu urteilen und sich nicht durch seine eigenen Parteianschauungen den wissenschaftlichen Blick blenden läßt, der muß zugeben, daß ein Stück an dieser Antwort richtig war. Namentlich wenn man anerkennt, daß zur fortschreitenden Entwicklung der Volkswirtschaft – solange nicht der Staat und die Allgemeinheit dafür sorgen, daß ihre Organe nicht im Bureaukratismus versumpfen –, daß zum Fortschritt der Gesellschaft in entscheidender Linie die Fortentwicklung der Produktion durch beständige Verbesserung der Maschinerie und großzügige, weitblickende Versuche gehören, muß man sich sagen, daß ein Stück von jener Antwort wahr ist, und der Streit könnte nur darum gehen: Wieviel davon ist noch wahr, und wieviel überlebt?
Wir haben kürzlich einen Kongreß der deutschen Chemiker gehabt, auf dem ein Vertreter lebhaft gegen die Sozialisierung der chemischen Industrie polemisierte. Er wies hin auf die wichtigen, wertvollen Leistungen dieser Industrie, von denen er fürchtete, daß sie nicht in gleicher Weise gemacht würden bei der Sozialisierung. Ich halte das in dieser Allgemeinheit für sehr übertrieben, aber gerade weil ich Sozialist bin und der Erkenntnis der Wahrheit nachstrebe, verschließe ich nicht vor Tatsachen die Augen, sondern suche zu prüfen, wieviel an solchen Behauptungen wahr ist. Man kann nun nicht bestreiten, daß auch noch in neuerer Zeit die kapitalistische Unternehmung auf verschiedenen Gebieten in bezug auf wertvolle Neuerungen Bedeutendes geleistet hat. Gerade Sozialisten dürfen sich nicht das verhehlen, weil sie der sozialisierten Produktion zur Aufgabe stellen müssen, in der Produktion das zu leisten, was der Kapitalismus geleistet hat. Ein Beispiel sind unter anderem die großartigen Neuerungen auf dem wichtigen Gebiete nicht nur der Gewinnung, sondern der Weiterverarbeitung der Kohle, der chemischen Verarbeitung ihrer Nebenprodukte, der Extrahierung von Ölen aus der Kohle, was für Deutschland, das seine Einfuhren einschränken muß, eine sehr wesentliche wirtschaftliche Frage ist. Aus alledem geht hervor, wie recht Marx hatte, wenn er es für irreführend erklärte, die Form der Verteilung des Arbeitsertrages bei der Begründung des Sozialismus als maßgebend hinzustellen. Der Sozialismus ist in erster Linie gebunden an die Fortentwicklung der Produktion.
Marx, der dies bald erkannte, trat daher, so seltsam dies klingen mag, dem Kapital viel objektiver gegenüber, ließ seiner geschichtlichen Bedeutung viel mehr Gerechtigkeit angedeihen, als die meisten Sozialisten vor ihm und viele, die gleichzeitig mit ihm schrieben. Ähnlich Friedrich Engels in seiner Streitschrift wider den Wirklichkeitsphilosophen Eugen Dühring, der seinerzeit an der Berliner Universität gelesen hat und 1877 removiert wurde wegen Angriffen auf Kollegen, die allerdings erheblich über das Zulässige hinausgingen, sich aber dadurch erklären, daß der Mann erblindet war. Dühring war gleichfalls naturrechtlicher Sozialist und im Grunde Nichtökonom. Die Kritik, die Friedrich Engels in seiner Schrift Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft an ihm übt, tut ihm nun zwar hier und da Unrecht – Engels hieb stark zurück auf die ungerechten Ausfälle, die Dühring gegen Marx und andere Sozialisten gerichtet hatte –, aber bei alledem ist dieses Buch unbestritten das bedeutendste Werk des modernen Sozialismus nach Marx’ Kapital. In ihm nun finden wir eine Reihe von Kapiteln, die auch für unseren Gegenstand wichtig sind, weil Engels da gründlich mit der naturrechtlichen Lehre abrechnet. Ferner knüpfte sich an es eine Polemik, die für die Bedeutung der Mehrwertslehre für den Sozialismus Aufklärung gibt.
Engels bemerkt in der Schrift, daß erst durch Marx’ Enthüllung des Mehrwerts der Sozialismus eine Wissenschaft geworden sei. Das hat den österreichischen Gelehrten Anton Menger, seinerzeit Professor an der Wiener Universität, auf die Bühne gerufen. In seinem Buche: Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, das 1886 erschienen ist, nimmt er gegen Marx und Engels Stellung und sucht nachzuweisen, daß Engels für Marx und andere für Rodbertus eine Entdeckung reklamierten, die schon lange vor jenen von englischen und französischen Sozialisten gemacht war. Menger gibt dafür die ganze Literatur an, und man findet bei ihm auch sehr interessante Darlegungen über die naturrechtliche Auffassung des Sozialismus. Aber, weil er selbst wesentlich juristischer Sozialist ist, wie er in einer Polemik genannt wurde, hat Menger vollständig das Problem verkannt, um das es sich bei der Mehrwertslehre handelt. Er bezieht sie auf die Frage des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, eine Sache, um die sich Marx im Kapital gar nicht gekümmert hat. Warum nicht, entwickelt nun Engels im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Das Elend der Philosophie, eine Streitschrift von Karl Marx gegen Proudhon. Er erwähnt dort den von Rodbertus gegen Marx erhobenen Vorwurf, daß er den Nachweis des Mehrwerts erst nach ihm geliefert habe, zeigt, wie schon in jener zuerst 1847 erschienenen Schrift gegen Proudhon Marx diese Ableitung des Mehrwerts aus Ricardo behandelt und 1859 die Nutzanwendung der englischen Sozialisten aus ihr, daß den Arbeitern als den alleinigen Produzenten die ganze gesellschaftliche Produktion gehöre, als falsch hingestellt habe, und sagt dann:
„Die obige Nutzanwendung führt direkt in den Kommunismus. Sie ist aber, wie Marx an der obigen Stelle auch andeutet, ökonomisch formal falsch, denn sie ist einfach eine Anwendung der Moral auf die Ökonomie. Nach dem Gesetze der bürgerlichen Ökonomie gehört der größte Teil des Produktes nicht den Arbeitern, die es erzeugt haben. Sagen wir nun: das ist unrecht, das soll nicht sein, so geht das an sich die Ökonomie zunächst nichts an. Wir sagen nur, daß diese Tatsache unserem sittlichen Gefühl widerspricht. Marx hat daher nie seine kommunistischen Forderungen hierauf begründet, sondern auf den notwendig sich vor unseren Augen täglich mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise. Er sagt nur, daß der Mehrwert aus unbezahlter Arbeit besteht, was eine einfache Tatsache ist.“
Dann fährt Engels fort:
„Was aber ökonomisch formell falsch ist, kann darum doch weltgeschichtlich richtig sein. Erklärt das sittliche Bewußtsein der Masse eine ökonomische Tatsache, wie seinerzeit die Sklaverei oder Fronarbeit, für unsittlich, so ist das ein Beweis, daß die Tatsache selbst sich schon überlebt hat, daß andere ökonomische Tatsachen eingetreten sind, kraft deren jene unerträglich und unhaltbar geworden ist. Hinter der formellen ökonomischen Unrichtigkeit kann daher ein sehr wahrer ökonomischer Inhalt verborgen sein.“
Engels sagt also ausdrücklich, die Anwendung der Moral – und das Naturrecht ist Moral – auf die Ökonomie in dieser Frage ist ökonomisch falsch, die Ökonomie gehe das nichts an, was das sittliche Bewußtsein sagt. Er erkennt nur an, daß, wenn das sittliche Bewußtsein der Massen eine ökonomische Tatsache für unrecht erkläre, dies eine Anzeige sei, daß inzwischen Verhältnisse eingetreten seien, wonach diese Tatsache nicht mehr erträglich und haltbar sei. Das aber muß doch immer erst ermittelt werden, und wie führt man den Beweis? Engels zeigt es an, wenn er fortfährt:
„Marx hat seine kommunistischen Forderungen nie darauf begründet, sondern auf den sich vor unseren Augen täglich mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise.“
Das schrieb Engels 1877, und wenigstens bis zum Ausbruch des Weltkrieges war die kapitalistische Produktionsweise nicht zusammengebrochen, sondern hatte im Gegenteil einen gewaltigen weiteren Aufschwung genommen. Es lassen sich verschiedene Tatsachen anführen, aus denen hervorgeht, daß eine Reihe von Folgerungen, die man aus der alten Theorie geschöpft hatte, sich nicht bewahrheitet haben. So z. B. der Satz „Die Maschine schlägt den Arbeiter tot“. Der Ansicht, daß die Maschine in größerem Maße Arbeiter überflüssig mache, als durch sie zur Produktion herangezogen werden, steht die Tatsache entgegen, daß bis zum Kriege die Zahl der industriellen Arbeiter, des industriellen Proletariats, in allen Ländern moderner Entwicklung erheblich zugenommen hat, nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten Ländern. Diese Frage bedarf also gleichfalls einer Nachprüfung und genauen Untersuchung. Ganz besonders aber nötigt der Satz von Engels, Marx habe seine kommunistischen Forderungen auf dem mit Notwendigkeit sich vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise gegründet, genauer zu untersuchen, wie es sich mit diesem Zusammenbruch verhält.
Inzwischen liegt die Frage der Verteilung des Arbeitsertrages auf einem anderen Gebiete. Die Geschichte der Entlohnung der Arbeiter kennt ganz verschiedene Lohnraten, nicht bloß der absoluten Höhe, sondern auch dem Anteil am Produkt nach. Sie verzeichnete zu gewissen Zeiten bei einem wesentlichen Tiefstand der Entwicklung eine furchtbare Ausbeutung von Arbeitern. Wir wissen von dem Elend, das lange Zeit in England und Deutschland existiert hat und vielfach noch und wieder existiert, daß oft der Lohn ganz bedeutend zurückbleibt hinter dem Mehrwert. Es fehlt aber auch nicht an Beispielen eines anderen Verhältnisses von Lohn und Mehrwert. Im allgemeinen wird in der marxistischen Literatur die Mehrwertrate auch Ausbeutungsrate genannt. Aber an einer bestimmten Stelle polemisiert Engels dagegen, daß man den Begriff „Ausbeutung“ in diesem Zusammenhang moralisch auffaßt, er soll nur ökonomisch genommen werden als eine reine Tatsache, wie man etwa von der Ausbeutung eines Bergwerks oder eines Patents spricht. Ich muß indes sagen, daß dann doch das Wort ein wenig zu Unrecht angewandt wird. Ausbeutung kann natürlich eine rein ökonomische Tatsache sein ohne jeden Zusammenhang mit moralischen Beziehungen. Aber wenn wir in bezug auf Menschen von Ausbeutung sprechen, so können wir kaum jemals den moralischen Sinn des Wortes davon trennen, und daß im Lohnverhältnis oft eine wirkliche Ausbeutung im moralischen Sinne des Wortes stattfindet, läßt sich gar nicht bestreiten. Die Anschauung, daß das ganze Lohnsystem ein Ausbeutungssystem im moralischen Sinne des Wortes sei, hat unzweifelhaft der Arbeiterschaft in ihrem Emanzipationskampf einen großen moralischen und ethischen Antrieb gegeben. Bei den politischen Kämpfen der Arbeiterbewegung hat überall die Forderung: Abschaffung des Lohnsystems, und zwar von der Arbeiterseite aus gesehen: Abschaffung des Lohnsystems zur Sicherung des vollen Arbeitsertrages eine große Rolle gespielt. Aber freilich nur als Idee. Denn wie sollte es für die Gesamtheit der Arbeiter verwirklicht werden? Es könnte nur dadurch geschehen, daß man zum Kommunismus übergeht und gar keine Bezahlung der Arbeit, sondern eine einfache Verteilung des Reichtums vornimmt oder, wie Krapotkin es will, die Benutzung des ganzen gesellschaftlichen Reichtums allen zur freien Verfügung stellt. Solange man noch mit Leistungswert der Arbeit rechnet, und im Übergangsstadium wird man das sicher nicht umgehen können, wird allerdings auch noch immer eine Art Lohnsystem aufrechterhalten werden müssen, und die Forderung: Abschaffung des Lohnsystems, hat denn auch in der Praxis eine ganz andere Anwendung gefunden. Nicht die Form Arbeitslohn ist es, die in Wirklichkeit bekämpft wird. Die Arbeiterklasse hat in der Praxis sich ganz anders zu ihr gestellt. Gegen nichts haben sich die Arbeiter aus guten Gründen schärfer gewandt als gegen eine andere Art Bezahlung als durch den Lohn, gegen eine Ausgleichung der Arbeit, die etwa bestand in der Zuwendung von Lebensmitteln, Wohnung usw. Sie betrachten ein auf ihr beruhendes Verhältnis als eine Sklaverei oder Hörigkeit, den Lohn aber betrachten sie dieser altmodischen patriarchalischen Arbeitsabgeltung gegenüber, wie sie bei Fleischern, kleinen Kaufleuten und manchen anderen Handwerkern noch bestand, als einen Fortschritt. Es handelte sich bei ihren praktischen Kämpfen niemals darum, die Lohnform überhaupt grundsätzlich abzuschaffen, sondern erstens jedesmal um die Lohnhöhe überhaupt und zweitens um die Art, wie die Lohnhöhe bestimmt wird. Das ist vorläufig der eigentliche Kampf der Arbeiterklasse in der modernen Gesellschaft, auch dem Staate gegenüber, in Hinsicht auf den Entgelt der Arbeit, daß der Lohn nicht bestimmt wird durch die freie Konkurrenz, nicht willkürlich festgesetzt wird vom Unternehmer, sondern daß die Arbeiterklasse selbst in ihren Organisationen einen gesetzlichen Status erhält und mitwirkenden Einfluß ausübt auf die Lohnbestimmung. Dahin geht zunächst die Entwicklung. Von einem Naturrecht auf den ganzen Mehrwert ist da kaum noch die Rede.
Was aber die Deutung des Sinns der Marxschen Werttheorie selbst anbetrifft, so hat der Umstand, daß man in Deutschland Wilhelm Liebknecht, den sehr hervorragenden und verdienten Führer der Sozialdemokratie, für den Schüler und Interpreten von Marx hielt, während seine Auslegungen tatsächlich von Marx äußerst scharf kritisiert wurden, sein Gegenstück in anderen Ländern. Hinsichtlich der französischen Sozialisten wissen wir, daß Marx unter Bezugnahme auf seinen eigenen Schwiegersohn, den übrigens sehr geistreichen Paul Lafargue, der in Frankreich als der orthodoxeste Marxist angesehen wurde, einmal sagte: „Was mich betrifft, so weiß ich nur das eine, daß ich kein Marxist bin“ – will sagen, kein Marxist in solchem Sinne. Dasselbe spielte sich in England ab, wo der geistige Führer des marxistischen Flügels der dortigen Sozialisten, H. M. Hyndman, schon von Marx ähnlich beurteilt wurde. Da Hyndman sehr doktrinär auftrat und, wie Engels ihm vorwarf, aus dem Marxismus ein Sektendogma machte, so wurde das zum Anlaß, daß andersdenkende Sozialisten, wie die Fabianer, durch diese falsche Deutung der Marxschen Wertlehre veranlaßt, sich auf den Boden einer anderen Werttheorie stellten, die Grenznutzentheorie, die auf dem Kontinent hauptsächlich ausgearbeitet ist von hervorragenden österreichischen Ökonomen wie Böhm-Bawerk, Wieser, Karl Menger, und auch in Deutschland ihre Vertreter gefunden hat. In England hatte sie zum wissenschaftlichen Ausarbeiter den als mathematischen Logiker berühmten Henry Stanley Jevons. Die Fabianer nahmen diese Theorie auf unter Verkennung oder nicht genügender Berücksichtigung der Tatsache, daß in der Ökonomie der Begriff „Wert“ gar nicht eine einfache Eigenschaft ausdrückt, sondern verschiedene Elemente zusammenfaßt. Marx bezeichnete seinerzeit Tauschwert und Gebrauchswert als die Grundelemente. Später hat man allgemein Nutzwert für Gebrauchswert gesetzt. Im Begriff Nutzwert liegen aber wieder zwei Elemente: der unmittelbar individuelle Nutzwert und der soziale Nutzwert, der das Quantitätsverhältnis der Kauflust für die Ware umfaßt. Diesen Nutzwert hat die Grenznutzentheorie im Auge. Auf den Streit zwischen ihren sozialistischen Anhängern und den Verfechtern der Marxschen Wertlehre will ich hier nicht näher eingehen, ich will nur eins dabei erwähnen. Marx berücksichtigt zwar den Nutz- oder Gebrauchswert, nennt ihn die Grundbedingung des Wertes, läßt ihn aber bei seinen weiteren Untersuchungen über die Wertbestimmung zunächst außer Betracht. Das führt ihn zu bemerkenswerten Schlüssen, die jedoch einseitiger Natur sind. Seine Wertlehre wurde genauer so formuliert, daß der Wert bestimmt sei durch die in der Ware steckende Arbeit, gemessen an der zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. In dem Begriff gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit liegen wieder zwei Elemente eingeschlossen: erstens die Arbeitszeit, die gesellschaftlich notwendig ist, um jedes einzelne Exemplar der in Frage kommenden Ware herzustellen, das heißt, gesellschaftlich notwendig nach der Höhe der erreichten Technik. Aber es kommt auch darauf an, welche Arbeitszeit gesellschaftlich notwendig ist, um die Ware in derjenigen Masse herzustellen, die erfordert ist, um die für sie vorhandenen Käufer zu befriedigen. Die Höhe des Verbrauches bestimmt sich in der modernen Gesellschaft nicht danach, wie viele Menschen eine Ware brauchen, sondern wie viele sie kaufen können und zu kaufen Lust haben. Wirft man beide Momente durcheinander, so hebt eine Definition die andere auf, und wir kommen dann doch zur Grenznutztheorie. Soviel hierüber.
Was in der Marxschen Theorie Ausbeutung genannt wird, ist der Mehrwert, der von dem in den Preis umgesetzten Wert der Ware abzüglich der Sachkosten der Produktion nicht dem Arbeiter zufließt. Ich kann nicht sagen, dem Kapitalisten zufließt, denn er spaltet sich in Rente für den Grundbesitzer, den Profit für den Unternehmer und den Zins für den Geldkapitalisten. Liegt nun aber in der Tatsache, daß der Arbeiter nicht den vollen Ertrag der Arbeit bekommt, ein Ausbeutungsverhältnis? Wir haben gesehen, daß im objektiven Sinne man das Wort Ausbeutung anwenden kann, daß aber, wenn man es moralisch deutet, wie das bei vielen Sozialisten der Fall ist, man zu vollkommen falschen Schlüssen gelangt. Es würde nämlich danach in hochentwickelten Industrien, wo die Arbeiter am besten entlohnt werden und überhaupt sozial am höchsten stehen, die Ausbeutung, weil da am meisten sogenanntes konstantes Kapital im Unternehmen angelegt ist, als die höchste, und in solchen Industrien, wo die Arbeiter sehr schlecht bezahlt werden, weil wenig Maschinen angewandt werden, die Ausbeutung weniger hoch erscheinen. So erweckt die Gleichsetzung der Begriffe Mehrwertsrate und Ausbeutungsrate einen durchaus falschen Eindruck.
Wie wenig Marx den Sozialismus davon ableitet, daß der Arbeiter nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit bekommt, geht auch daraus hervor, daß er gerade feststellt, es sei schon vor der kapitalistischen Periode so gewesen. Im achten Kapitel des ersten Bandes Kapital schreibt er ausdrücklich: „Das Kapital hat die Mehrarbeit nicht erfunden“. Und in der Tat ist sie sogar unter dem Kapital vielfach geringer als in Zweigen der vorkapitalistischen Wirtschaft. Marx leitet vielmehr die Forderung des Sozialismus ab aus dem sich mit Notwendigkeit vollziehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise. Dieser Zusammenbruch nun kann verschieden aufgefaßt werden. Er kann begriffen werden als rein ökonomisches Phänomen dergestalt, daß die mit dieser Produktionsweise untrennbar verbundenen Wirtschaftskrisen immer größer werden, bis schließlich eine so große Krisis eintritt, daß in ihrer Folge der völlige Zusammenbruch erfolgt. Ich bemerke ausdrücklich, es handelt sich hierbei nicht um Krisen, die durch äußere Ereignisse, Kriege usw. herbeigeführt werden – denn das sind keine rein ökonomischen Erscheinungen –, sondern um solche, die hervorgebracht werden durch die Konkurrenzkämpfe der kapitalistischen Welt, die immanent sind der Wirtschaftsweise der kapitalistischen Produktion. Aber der Zusammenbruch kann auch aufgefaßt werden als Resultat der Klassenkämpfe, die sich auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft als unvermeidliche Rückwirkung der ihr innewohnenden und von ihr zunehmend gesteigerten Klassengegensätze vollziehen. Nach der Theorie von Marx treten diese Klassenkämpfe in immer stärkerem Maße auf, und das nötigt uns dazu, nun einmal das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt zu betrachten und darüber hinaus das Wesen ihrer Klassenkämpfe zu ermitteln.
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Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008