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Begriffsbestimmung – Das Alter des spekulativen Sozialismus – Der Widerstreit zwischen Radikalismus und Rationalismus in der Spekulation – Der theoretisierende Utopismus – Vom Utopismus des Ziels zum Utopismus der Mittel – Die Grundgedanken des marxistischen wissenschaftlichen Sozialismus – Sozialismus und Klassenkampf
Bevor man an die Aufgabe herangeht, Streitfragen des Sozialismus zu erörtern, wird man sich darüber zu äußern haben, was man überhaupt unter Sozialismus versteht, wie weit man den Rahmen des Begriffs gezogen wissen will. Das Wort Sozialismus ist sehr verschiedentlich gedeutet worden. Vielfach wird es als der Ausdruck für einen vorgestellten Zustand gebraucht, dem eine bestimmte Eigentums- und Wirtschaftsordnung zugrunde liegt, und der sich in einem ganzen Idealstaat verkörpern soll. Andere setzen es als gleichbedeutend mit einer Bewegung oder einem Kampf von Gesellschaftsklassen zur Verwirklichung solcher Wirtschaftsordnung, und wieder anderen ist es der Sammelbegriff für eine Summe von Forderungen oder Einrichtungen, denen bestimmte Rechtsgedanken und ethische Begriffe zugrunde liegen. Alle diese Deutungen haben insofern ihre Berechtigung, als sie auf bestimmte Formen des Sozialismus sich beziehen oder bestimmte Seiten der sozialistischen Bewegung kennzeichnen. Aber keine davon erschöpft den Gegenstand.
Auch in den Lehrbüchern oder Kompendien der Sozialwissenschaftler stoßen wir auf sehr unterschiedliche Definitionen des Begriffs. Um nicht weiter in der Geschichte zurückzugehen und uns auf Deutsche zu beschränken, so finden wir bei Schmoller eine andere Deutung als bei Roscher, bei Sombart eine andere als bei Schmoller, bei Oppenheimer eine andere als bei Sombart, und so noch weiter. Es wäre nicht uninteressant, sie vergleichend gegeneinander zu halten und festzustellen, was ihnen gemeinsam ist und zu sehen, ob sie sich nicht sozusagen auf einen Generalnenner bringen lassen. Mir scheint jedoch ein anderer Weg ratsamer, nämlich der Weg der Betrachtung der geschichtlichen Erscheinungsformen. Vermöge ihrer werden wir uns, glaube ich, am besten darüber unterrichten können, was wir heute unter Sozialismus zu verstehen haben.
Der allgemeinste und darum allerdings auch der oberflächlichste Begriff von Sozialismus ist die Vorstellung von einem Gesellschaftszustand, wo es weder Reiche noch Arme gibt, wo vieles allen gemeinsam ist und eine starke Brüderlichkeit herrscht. Wo diese Merkmale fehlen, wo weitgehende sachliche Gemeinschaft, weitgehende ethische Gemeinschaftlichkeit und Abwesenheit großer Vermögensunterschiede fehlen, fehlen die wesentlichen Attribute des Sozialismus. So begriffen nun ist er sehr viel älter als sein Name. Während dieser erst im 19. Jahrhundert aufkommt, findet man die Sache als Idee oder Bewegung schon in dem Zeitalter, das wir Altertum nennen. Überall dort, wo die Menschen nicht mehr in einfachen, ihren Wohnsitz wechselnden Stammesverbänden leben, sondern sich seßhaft gemacht haben und staatliche, beziehungsweise territorial gegliederte Gemeinwesen geschaffen haben, die der Bildung großer Vermögensunterschiede und Rechtsungleichheiten Vorschub leisten, stellt sich früher oder später bei Individuen oder Schichten der Wunsch nach Beseitigung dieser Ungleichheiten ein und findet in der Ausmalung von besseren Gesellschaftszuständen seinen ideologischen, in Kämpfen für solche seinen politischen Niederschlag. Die Geschichte der asiatischen und vorderasiatischen Kulturvölker, die Geschichte der Griechen und Römer gibt uns zwar nur lückenhaft, aber doch unmißverständlich Kunde von solchen Bewegungen. Als Quelle dafür sei auf Robert Pöhlmanns Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus verwiesen, ein Werk, gegen dessen kritische Aufstellungen ich mancherlei starke Einwände zu erheben habe, aus dem man aber ersehen kann, wie sehr nicht nur die sozialen Kämpfe, von denen uns die Geschichte der Alten erzählt, sondern auch die mehr oder weniger phantastischen Konstruktionen oder Ausmalungen von Idealstaaten, die uns – leider oft nur sehr skizzenhaft – überliefert sind, einer geschichtswissenschaftlichen Würdigung fähig sind und einer solchen daher auch bedürfen. Ob man das Urchristentum, das in Rom seine eigentliche Ausbildung erfahren hat, als eine sozialistische Bewegung auffassen darf, mag dahingestellt bleiben. Bekannt ist, daß ihm diese Eigenschaft vielfach bestritten wird und man es lediglich als eine ethische Bewegung aufgefaßt wissen will. Aber wenn es als Gesamterscheinung nicht auf die Bezeichnung sozialistisch Anspruch haben soll, so ist es doch unbestreitbar die Nährquelle vieler sozialistischer Theorien und Bewegungen gewesen. Zeugnis legen ab allerhand Kapitel aus der großen Literatur der Kirchenväter und der Scholastik, und Beispiele sind eine Reihe noch dem Altertum angehöriger kommunistischer und halbkommunistischer christlicher Sekten, denen solche des Zeitalters der Renaissance und der Reformation gefolgt sind.
Dem letzteren Zeitalter gehört auch die Entstehung des Buches an, dessen Titel zum Sammelbegriff für die ganze Gruppe der Beschreibungen spekulativ konstruierter Gemeinwesen oder Idealstaaten wird, nämlich die Abhandlung Utopia des Thomas More. Man kann von dieser Schrift des charaktervollen Staatskanzlers Heinrichs VIII. von England sagen, daß sie einer ganzen Literatur Leben gegeben hat. Denn sie machte für ihre Zeit Sensation und wurde in die verschiedensten Sprachen übersetzt. Das 16., 17. und 18. Jahrhundert sind voll von Beschreibungen vorgestellter Idealgemeinwesen, von Staatsromanen, wie man sie auch im Hinblick auf die Form der Beschreibung nennt. Nicht alle davon haben auf die Bezeichnung als sozialistisch Anspruch, es fehlt durchaus nicht an Utopien, die nach unseren heutigen Begriffen bürgerlicher Natur sind. Das gilt z. B. von der unvollendeten Utopie Die neue Atlantis, die einen der Amtsnachfolger des Thomas More, den berühmten Philosophen der empirischen Methode, Francis Bacon, zum Verfasser hat.
Nach zwei Seiten hin läßt sich in den sozialistischen Utopien des mit der Reformation einsetzenden Zeitalters eine abgestufte Entwicklung feststellen: erstens eine Tendenz der Überbietung in phantastischen Ausmalereien, und zweitens eine Tendenz zum größtmöglichen Rationalismus in der Spekulation. Diese letzte Tendenz ist für unsere Betrachtung die wichtigere, denn sie war ein Hebel zur Förderung der sozialen Erkenntnis und führte schrittweise zur wissenschaftlichen Behandlung der sozialistischen Bestrebungen. Die Verfasser rationalistischer Utopien des Sozialismus suchen ihre Vorgänger zu korrigieren, und wenn das lange Zeit ohne die Form der Polemik vor sich geht, so läßt sich doch bei verschiedenen Autoren eine unausgesprochene Bekämpfung von Ideen des oder der Vorgänger feststellen.
Es handelt sich schon um ernst aufgefaßte Streitfragen, der Nachfolger widerlegt den Vorgänger, ohne ihn zu nennen.
Was aber den Utopien gemeinsam war, was das eigentliche Merkmal der Utopie ist, ist die entscheidende Rolle, die bei ihnen der Zufall und der noch vom Zufall abhängige Wille spielen. Lange Zeit ist in diesen Beschreibungen der geschilderte Idealzustand hergestellt worden durch das Eingreifen einer ungewöhnlich weisen Persönlichkeit, eines Gesetzgebers oder anordnenden Fürsten, so daß, wenn dieser Fürst oder Gesetzgeber zufällig nicht geboren oder vor der Zeit gestorben wären, das betreffende Volk oder Land den Idealzustand nicht zu kosten bekommen hätten. Später, im Zeitalter der französischen Revolution, tritt an die Stelle des individuellen Willens oder Schaffensdranges von Wohltätern in der Konstruktion der Utopie als schöpferische Kraft der Kollektivwille von Anhängern einer bestimmten Idee. Dieser Kollektivwille ist aber, selbst wo er als der Wille eines ganzen Volkes gedacht wird, immer noch Zufallssache. Ob die Gruppe oder die Volksmasse für die Idee kämpfen, hängt lediglich davon ab, wie weit und wie stark sie von der Propagierung dieser Idee erfaßt sind, das Aufkommen der Idee aber selbst ist noch wesentlich vom Zufall abhängig.
An der Wende zum 19. Jahrhundert und in dessen erstem Drittel tritt hier ein wesentlicher Fortschritt ein. Es ist in der Geschichte des Sozialismus die Epoche der großen, kritisch gerichteten Utopisten, der Robert Owen, Charles Fourier und Henri Saint-Simon und ihrer Schulen. Das Merkmal dieser Sozialisten, das sie von den Utopisten des 18. Jahrhunderts unterscheidet, ist die Rolle, die bei ihnen der Entwicklungsgedanke spielt, und das Bestreben, an das Gegebene anzuknüpfen, die Welt, die sie vor sich haben, weiterzubilden. Robert Owen verweist in seinen sozialistischen Abhandlungen auf die in England aufgekommene kapitalistische Fabrik und die Zustände, die sie geschaffen hat, und nimmt sie zum Ausgangspunkt sozialistischer Reformpolitik. Charles Fourier im noch stark kleinbürgerlichen Frankreich sucht den Sozialismus als Ideal psychologisch zu fundieren, in der Praxis auf dem Wege der Genossenschaften zu verwirklichen, wobei sein Plan kommunaler Genossenschaftspolitik auf besonderes Interesse Anspruch hat. Saint-Simon ist so sehr Entwicklungstheoretiker, daß es fraglich wird, ob man ihn überhaupt noch einen Utopisten nennen kann, wie er zugleich so sehr Wirklichkeitsmensch ist, daß man befugt ist, seinen Anspruch auf Einreihung in die Geschichte des Sozialismus zu bestreiten. Wenn Fourier stark von Morelly, dem geistreichen Verfasser der Utopie „Die Basiliade“, beeinflußt ist, so Saint-Simon von Condorcet, dem Enzyklopädisten und Verfasser der wissenschaftlichen Abhandlung über den Fortschritt des menschlichen Geistes und die Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. Bei den Saint-Simonisten finden wir unter anderem schon die Einteilung der Geschichte der sich fortschrittlich entwickelnden Nationen in organische und kritische Perioden, d. h. Perioden relativ ruhiger Entwicklung und Perioden revolutionärer Umwälzungen.
Aber bei allen dreien, bei Owen, bei Fourier und bei Saint-Simon und ihren Schülern spielt trotz ihres Strebens nach Wissenschaftlichkeit und Anknüpfung an das Gegebene die Erfindung der Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus die entscheidende Rolle; wo sie praktisch sein wollen, arbeiten sie Rezepte aus, und immer wieder sind sie in Gefahr, auf die Utopie zurückzugreifen. An die Stelle des Utopismus des Ziels tritt ein Utopismus des Mittels. Die Literatur des Sozialismus im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ist voller Schriften, die utopistisch im Mittel sind, wobei man wieder einen utopistischen Reformismus und einen utopistischen Revolutionarismus unterscheiden kann. Der eine versteift sich auf ökonomische Experimente, die wegen ihrer unzulänglichen Voraussetzungen notwendig fehlschlagen müssen, der andere huldigt einem Wunderglauben an die schöpferische Allmacht der Revolutionsgewalt.
Hier nun bewirken einen grundlegenden Wandel in den Anschauungen die beiden großen Männer, die heute als Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus weithin anerkannt sind: Karl Marx und Friedrich Engels.
Warum trägt ihre Lehre diesen Namen, hat sie den besonderen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit? Weil sie tiefer und systematischer als alle vor ihr aufgestellten sozialistischen Theorien eindringt in das Wesen der Kräfte und Entwicklungsgesetze des gesellschaftlichen Fortschritts, den Kampf für den Sozialismus auf eine durchgearbeitete Entwicklungstheorie stützt, in der der Gedanke von der organischen Natur der sozialen Entwicklung zum Unterschied von der Auffassung dieser Entwicklung als eines mehr mechanischen oder chemisch bestimmten Vorgangs zu seinem Rechte kommt.
Wille und Idee, die von den Utopisten in der einen oder anderen Weise überschätzt werden, werden in der Marx-Engelsschen Lehre zwar nicht, wie vielfach angenommen worden ist, als Triebkräfte der sozialen Entwicklung gering eingeschätzt oder gar ignoriert – ohne Idee kein Wille und ohne Wille keine Aktion –, aber sie werden in ihrer sozialen Bedingtheit gekennzeichnet. Es wird gezeigt, wie sie abhängig sind von den materiellen Bedingungen und Formen des gesellschaftlichen Daseins der Menschen, für die der maßgebende Faktor ist die Art und Weise der Produktion der Lebensgüter der Menschen.
Denn diese Produktion wird entscheidend bestimmt vom Werkzeug, über das der Mensch verfügt; vom Werkzeug aber, das die Arbeitsweise vorschreibt, hängt zugleich ab das Eindringen des Menschen in die Gesetze der Natur und damit zuletzt auch der Höhegrad seiner Welterkenntnis.
Sozial betrachtet ist es das Werkzeug, das bestimmt, ob individualistisch oder kollektivistisch produziert wird.
Im Altertum und auch noch bis zum Ausgang des Mittelalters ist die Produktion überwiegend individualistisch; erst die Steigerung des Weltverkehrs und Welthandels in der Periode der großen Entdeckungen führt zu kollektivistischer Arbeit in der Produktion. Es breitet sich die Wirtschaftsform aus, die den Namen Manufaktur erhält, Produktion unter Leitung von Großkaufleuten, welche Arbeit an Handwerker ausgeben, dann aber Arbeiter in großen Werkstätten, Fabriken genannt, beschäftigen. Aus dem Kaufmann wird so ein Fabrikant, und in der Fabrik werden vervollkommnete Werkzeuge verwendet, für die als technischer Antrieb die Naturkraft verwendet wird. Das Werkzeug wird zur Maschine und aus dem Handwerker ein Fabrikarbeiter. Die Produktion in der Fabrik wird in steigendem Grade Kollektivarbeit, und da zur Einrichtung und zum Unterhalt der Fabrik Kapital gehört, beherrscht zunehmend das Kapital die Produktion.
Beim Aufkommen der kapitalistischen Produktion und im Wettbewerb der Kapitalisten untereinander wirkt als objektive Triebkraft der Kampf um die Mehrarbeit, das heißt um den Teil des Bruttowerts der Produktion über die Kosten von Anlage, Rohstoff, Hilfsstoffe und Werkzeuge, bzw. Maschinen hinaus, der nicht den Arbeitern als Lohn gezahlt werden muß. Dieser Kampf um den Mehrwert, wie Marx ihn nennt, hat im weiteren Verlauf zur Folge eine steigende Vergrößerung der Fabriken, weil diese eine größere Ökonomie der Kräfte erlaubt, damit die Unterbietung der Konkurrenz ermöglicht und zur Steigerung des Absatzes führt. Die weitere soziale Folge der Vergrößerung bzw. Konzentration der Unternehmungen ist die Verdichtung der Bevölkerung in Städten und Ländern. Die Industriezentren, die Städte wachsen; es tritt allmählich das ein, was man die Verstadtlichung des Landes nennen kann; mehr als in irgendeinem früheren Zeitalter ergreift die städtische Kultur auch die Bevölkerung des platten Landes und drückt der ganzen Gesellschaft ihren Stempel auf.
Alles das schafft die materiellen Vorbedingungen für eine neue Gesellschaftsordnung; denn es ist verbunden mit einer neuen Gliederung der Gesellschaftsklassen, als deren wichtigstes Moment zu nennen ist das Aufkommen und Wachstum der Klasse ständiger Lohnarbeiter, des industriellen Proletariats. Die ökonomische Umwälzung macht eine neue Rechtsordnung, neue soziale Einrichtungen und Gesetze notwendig. Es handelt sich nun für den sozialen Reformer nicht mehr um die Erfindung von Idealgesellschaften und die Ausklügelung von Rezepten, sondern um die Entdeckung von sozialen Notwendigkeiten. Die stärkste subjektive Triebkraft bei der Verwirklichung dieser aber ist die Arbeiterklasse, das Proletariat. Seine materiellen und geistigen Bedürfnisse treten immer mehr in den Vordergrund, seine Rechtsauffassungen erobern die öffentliche Meinung. Und die Summe der Forderungen der Arbeiterklasse unseres Zeitalters stellt sich der genaueren soziologischen Betrachtung dar als die Zusammenfassung des rationellen Inhalts der sozialistischen Ideologie früherer Epochen.
Und so gelangen wir an der Hand der Marx-Engelsschen Theorie zu einer neuen Definition des Sozialismus, die etwa so formuliert werden kann:
Der moderne Sozialismus ist
„die Zusammenfassung des geistigen Inhalts der politischen, wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Bestrebungen der zur Erkenntnis ihrer Klassenlage gelangten Arbeiter sowie der ihnen gleichgestellten Gesellschaftsschichten in den Ländern kapitalistischer Entwicklung, und der Kampf zur Verwirklichung dieser Bestrebungen.“
An die Herausarbeitung dieser Theorie in der sozialistischen Welt und an ihre Ausdeutung und praktische Anwendung im einzelnen knüpfen sich an die bemerkenswertesten Streitfragen des Sozialismus in Vergangenheit und Gegenwart.
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Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008