Eduard Bernstein

 

Bemerkungen über Engels’ Ursprung der Familie

Vorrede zur italienischen Ausgabe des Buches

(August 1900)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1900 Nr.8, August 1900, S.447-457.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Herausgeber dieser Übersetzung einer der wertvollsten Arbeiten von Fr. Engels, Freund Turati, ersucht mich, ihr ein Vorwort mit auf der Weg zu geben. Ich komme dem Verlangen gern nach, obwohl ich mir nicht verhehle, dass es mich vor eine schwer zu lösende Aufgabe stellt.

Was dieses Buch giebt, sagt sein Titel; für die meisterhafte Beherrschung des Gegenstandes bürgt der Name seines Verfassers. Die Vorzüge der Engelsschen Darstellungsweise sind so allgemein anerkannt, dass sie hier nicht noch besonders aufgeführt zu werden brauchen. Es handelt sich nicht darum, dem Leser zu erzählen, dass ihm hier die Arbeit eines Mannes geboten wirc, dessen Wissen ebenso reich war, wie sein Urteil tief und seine Sprache klar und einfach. Es kann sich nur darum handeln, auseinanderzusetzen, in welcher Hinsicht diese glänzende Studie heute etwa zu ergänzen wäre.

Wie Engels in seinem Vorwort vom Jahre 1884 betont, war die Ausarbeitung dieses Buches für ihn die Vollführung eines Vermächtnisses von Karl Marx. Dem Schreiber dieses war es vergönnt, einen Blick in die Werkstatt zu thun, wo das Buch geschaffen wurde. Anfang März 1884 war ich auf einige Zeit bei Engels zu Gast, der damals gerade mit der ersten genaueren Durchsicht des Marxschen Nachlasses beschäftigt war. Zu den Manuscripten, die mir Engels damals an weit bis in die Nacht ausgedehnten Abenden vorlas, gehörten auch die Auszüge, die sich Marx aus Lewis H. Morgans Ancient Society angefertigt und mit oft sehr drastischen Randglossen ausgestattet hatte. Es thut dem Ruhm des Verfassers des Capital keinen Eintrag, wenn ich bemerke, dass jene Glossen daran nichts änderten, dass die Auszüge zwar beredte Zeugnisse für die gewissenhafte Arbeitsweise dieses grossen Mannes, sonst aber nur erst roher Marmor waren, der noch völlig der Hand des formgebenden Kunstlers harrte. Marx hatte lediglich aus Morgan excerpiert, was ihm der besonderen Festhaltung wert erschien. Zu mehr liess es sein Tod nicht kommen. Die Aufgabe der Verarbeitung; fiel Engels zu und ward von ihm in verhältnismässig kurzer Zeit gelöst – dank ausgedehnter eigner Vorarbeiten auf dem Gebiet der Urgeschichte der Deutschen und Kelten.

Neben dem fein sachlichen Bestreben, die Entdeckungen Morgans hinsichtlich der Gentilverfassvng. und- ihre Tragweite für die Geschichtswissenschaft der socialistischen und, wenigstens mittelbar, der Welt der Fachgelehrten bekannt zu geben, leitete Engels bei der Ausarbeitung seiner Schrift auch der mehr persönliche Wünsch, das seines Erachtens unbillig vernachlässigte Werk Morgans in helleres Licht zu stellen und dadurch für eine angemessene Würdigung der Verdienste des americanischen Forschers zu wirken. Engels geht vielleicht etwas zu weit, wenn er im Vorwort von 1891 die Vermutung ausspricht, dass Morgans Buch in England „systematisch unterdrückt“ wurde. Die Unterschätzung dieses Werkes von seiten der englischen Ethnologen erklärt sich auch ohne die Annahme eines Totschweigungsbundes, und nachdem die Fachpresse es mehr kritisiet, als gewürdigt hatte, war; seine Vernachlässigung durch den Verleger nur zu begreiflich. Aber sicher ist, dass die Häupter der ethnologischen Schulen ihm nicht den Rang zugebilligt hatten, der ihm gebührt, und dass sie über Fehlgriffen in Einzelheiten, die Morgan nachgewiesen werden konnten, den Wert der neuen Gesichtspuncte übersahen, mit denen er die Wissenschaft der Ursprungsgeschichte der Völker bereichert hat. Dazu waren Leute erforderlich, die von den Voreingenommenheiten jener frei waren, die zur ganzen Gesellschaftslehre in ähnlicher Weise standen, wie Morgan.

Allem Fachwissen liegt eine Tendenz zur specialistischen Mikrologie inne. Sie führt, wo sie überwuchert, zu einem pedantischen Positivismus oder Phänomenalismus. Vor der Fülle des gesammelten Materials und der Masse der Varietäten schwindet das- Vertrauen in allgemein bestimmende Regeln, und mit dem Classificieren und Coordinieren der ermittelten Gegenstände oder Vorgänge scheint sich die Aufgabe des Forschers zu erschöpfen. So steht der Jurist von Fach allen naturrechtlichen Theorieen um so misstrauischer gegenüber, je mehr er in der Casuistik des positiven Rechts Virtuose ist. Die rechtsphilosophischen Aufstellungen sind ihm dann phantastische Abstractionen oder Generalisationen ohne soliden Hintergrund. In gleichem Lichte mussten den positivistisch disponierten Ethnologen die allgemeinen Sätze erscheinen, die Morgan auf Grund seiner Analyse der Einrichtungen der nordamericanischen Indianer aufstellte. Hier sollte aus einem bestimmten Grundprincip heraus die Vielheit der Erscheinungen genetisch abgeleitet werden, womit die bisherige, vorwiegend auf formale Merkmale gestützte Classification in hohem Grade entwertet wurde. Kein Wunder, dass die Vertreter dieser ihr Augenmerk fast ausschliesslich darauf richteten, die Lücken der neuen Theorie zu erspähen; und dass manche Hypothesen Morgans sich als ungenügend oder unhaltbar erwiesen haben, giebt Engels, selbst zu. Für die Vertreter der alten Auffassung fiel damit das theoretische Gebäude Morgans ganz zusammen und blieben nur verdienstvolle Aufklärungen von Einzelerscheinungen, übrig, die man willig acceptierte. Sie schienen soweit von keinem anderen Kaliber, als das sonstige empirische Material, welches die ethnologischen Archive anfüllt und bei dem es ja auch immer wieder Berichtigungen im Detail giebt.

Engels stellt Morgan das Zeugnis aus, er habe die von Marx und ihm 1844-45 entdeckte, materialistische Geschichtsauffassung “in seiner Art neu entdeckt“. Giebt man nicht dem „in seiner Art“ eine sehr weite Deutung, so wird sich dieser Satz nach meiner Ansicht nicht aufrechterhalten lassen. Gerade das bezeichnende Princip der materialistischen Geschichtsauffassung, die Ableitung der rechtlichen, moralischen etc. Anschauungen und Einrichtungen aus der Ar und den Veränderungen der Produktionsweise der Lebensmittel fehlte bei Morgan.

Er hat zwar, viel Materialien für die Feststellung solcher Zusammenhänge erbracht und hat, was hier noch wichtiger ist, die Entwickelungsstufen des allgemeinen Culturzustandes nach demStande der Gewinnung oder Erzeugung der Lebens- und Genussmittel unterschieden. Darüber hinaus ist er jedoch in der Betonung des ökonomischen Moments für die Entwickelung der menschlichen Gesellschaften nicht gegangen. Er überschreitet nirgends principiell die Grenzen, die den Durchschnitt der objectivistischen Culturhistoriker von Vertreter dea historischen Materialismus trennt. Oder, um es anders auszudrücken, Morgan steht als Geschichtshistoriker zum historischen Materialismus in keinem anderen Verhältnis wie die socialistischen Theoretiker der Epoche von 1825 bis 1840 zum Marx-Engelsschen Socialismus.

Soviel vom historischen Materialismus, wie bei Morgan, findet man auch bei den Theoretikern des Owenismus, Saint-Simonismus und Fourierismus, von denen namentlich der letztere in den Vereinigten Staaten sehr geistreiche Vertreter hatte und Morgan wohl bekannt war. Nun könnte man vielleicht einwenden, dass Morgan zwar nicht eine dem historischen Materialismus correspondierende Geschichtstheorie aufgestellt, aber doch nach ihrer Methode gearbeitet, sie am Beispiel bekräftigt habe. Indes, selbst dies lässt sich meines Erachtens nicht aufrechterhalten. Der bestimmende Einfluss des Productionsfactors findet sich zwar bei Morgan gelegentlich entwickelt, spielt aber bei ihm nicht die Rolle der durchweg entscheidenden Triebkraft geschichtlicher Entwickelung. Morgan legt den Ideologieen (den religiösen Vorstellungen etc.) eine viel grössere Bestimmungskraft bei, als dies der historische Materialismus thut, und behandelt die Gestaltung der Familie (das Wort in seinem weiteren Sinne genommen) als einen der Production mindestens nebengeordneten Factor gesellschaftlicher Entwickelung.

Engels hat dies letztere, soweit die von Morgan behandelten Entwickelungsperioden in Betracht kommen, als durchaus der materialistischen Geschichtstheorie entsprechend hingestellt. Er begründet dies damit, dass er das Geschlechtsleben selbst als einen Productionsfactor bezeichnet, als den Factor der Erzeugung von Leben, als den Träger der Fortpflanzung der Gattung. Gegen diese Gleichsetzung der Mensehenproduction mit der Güterproduction ist jedoch im eigenen Lager der Marx-Engelsschen Schule Widerspruch erhoben worden. Einer ihrer bekannteren Vertreter, H. Cunow, hat in seiner Abhandlung über die ökonomischen Grundlagen des Mutterrechts ausgeführt, dass sie sich auf eine blosse Wortähnlichkeit gründe, aber der sachlichen Berechtigung entbehre. Es handle sich für die geschichtliche Betrachtung nicht um die materielle Production oder Reproduction von Menschenleben, die seit Urzeiten die gleiche geblieben sei, sondern um die Formen des geselligen Zusammenlebens der Geschlechter, ihr Rechtsverhältnis zu einander – die Familienordnung und deren Veränderungen im Verlauf der Menschheitsgeschichte. Diese Veränderungen nun gingen nicht selbständig neben den Veränderungen der Art der Production der Lebensmittel vor sich, sondern seien durch diese bedingt. Die Familienordnung sei abhängig von der Art der Production bezw. Gewinnung der Lebensmittel. Anderes annehmen, heisse den Geltungsbereich des historischen Materialismus einschränken.

An diesem Einwand ist jedenfalls so viel, richtig, dass sich jene Gleichsetzung der Familie als Factor der Fortpflanzung des Menschen mit den Factoren der Production der Lebensmittel in keiner der Definitionen des historischen Materialismus findet, die Marx und Engels vordem veröffentlicht hätten. Allerdings, weist Engels in der vorliegenden Schrift daraufhin, dass schon in einem im Jahre 1846 von Marx und ihm ausgearbeiteten Manuscript gesagt werde, die erste Teilung; der Arbeit sei die von Mann und Frau zur Kindererzeugung. Aber dies lässt das Trügerische dieser Analogie nur um so schärfer hervortreten. Denn die Teilung der Functionen bei der Zeugung oder Fortpflanzung gehört als Entwickelungsstufe überhaupt nicht der Menschengeschichte an, sondern führt sehr weit in die Entwickelungsgeschichte der Tiere und Pflanzen zurück und ist da nur die Weiterführung anderer Arbeits- oder Fünctionsteilungen. Als Production betrachtet ist die Zeugung biologische, aber nicht sociologische Arbeitsteilung.

Wenn aber Cunows Einwand hinsichtlich der Begründung zutrifft, die Engels für jene Gleichsetzung der Familienordnung mit der Productionsweise giebt, so heisst das noch nicht, dass Engels auch der Sache nach im Unrecht ist, wenn er die Familie oder den Geschlechlsverband anderen Productionsfactoren gleich oder sogar unter Umständen – für frühe Entwickelungsstufen – überordnet. Erstens ist auf jenen Entwickelungsstufen der Modus des Zusammenlebens der Geschlechter, insoweit er die Bildung und den Zusammenhalt grösserer oder kleinerer Gemeinschaften beeinflusst, ja selbst ein sehr wichtiger Factor der Erzeugung oder Gewinnung von Lebensmitteln, und zweitens lässt sich nicht bestreiten, dass er mittelbar die Entwickelung der Productionsweise dadurch beeinflussen kann, dass er die Bedingungen für eine Fortentwickelung der letzteren schafft oder verstärkt. So scheinen mir z.B. Engels’ Bemerkungen über die Wichtigkeit der Hordenbildung iür die Erhebung der ersten Menschen über die Entwicklungsstufe, auf der die menschenähnlichen Affen stehen geblieben sind, sehr vieles für sich zu haben, obwohl es sich natürlich hier nur um Hypothesen handelt und jener Fortschritt auch von anderen Ursachen bewirkt worden sein kann. Jedenfalls begeht Cunow bei seinem Einwand den Fehler, auf den wir aber auch gelegentlich bei Engels selbst stossen, dass er den Unterschied zwischen causalen und conditionalen Beziehungen nicht genügend hervortreten lässt, – mit anderen Worten, Ursache und Bedingung beinahe als gleichbedeutend setzt.

Es ist dies überhaupt eine der verhängnisvollsten Klippen der materialistischen Geschichtsdarstellung. Ihre Vertreter verfallen leicht dem Fehler, in Factoren, die einen Vorgang oder eine Entwickelung möglich machten, kurzweg die Ursachen und Triebkräfte zu erblicken, die sie herbeiführten; Nun. können solche Factoren zwar auch als Triebkraft gewirkt haben, sie brauchen, aber darum noch nicht jedesmal die entscheidende Triebkraft gewesen zu sein. So sind bestimmte Naturbedingungen: bestimmte Bodenbeschaffenheit, Klima, Pflanzen- oder Tierwelt notwendig, damit gewisse Wirtschaftsformen und Gesellschaftszustände sich, entwickeln können. Aber das beweist noch nicht, dass diese Formen und Zustände die notwendigen Producte jener sind. Es können noch andere Factoren erforderlich gewesen sein, um sie „mit Notwendigkeit“ herbeizuführen. Es ist sehr leicht, den abstracten Gedanken zu fassen, dass alles, was geschieht, mit Notwendigkeit geschieht. Aber diese Notwendigkeit im concreten Falle nachzuweisen, ist bei dem Thun höher organisierter Wesen die schwerste Sache von. der Welt. Genauer untersucht, bestehen die vermeintlichen Nachweise dieser Art stets nur in einer Combination von Teilursachen und Bedingungen, die zu einem mehr oder minder starken Wahrscheinlichkeitsschluss, aber nie zu apodiktischer Gewissheit berechtigen.

Wem dies als entmutigender Skepticismus erscheint, der sei daran erinnert, dass es sich hier um wissenschaftliche Erklärungen ex post und nicht um Aufstellungen von Forderungen, um Wissen, und nicht um Wollen handelt. Übrigens richtet sich auch das praktische Handeln der Socialdemokratie in der Hauptsache auf die Schaffung von Bedingungen, für eine höhere Gesellschaftsordnung, deren Durchführung der Zukunft überlassen bleibt.

Es war nur natürlich, dass Morgan, als Pfadfinder der auf Mutterfolge (Bestimmung der Verwandtschaft nach der mütterlichen Abstammung) aufgebauten Gens, bei der Forschung nach Spuren derselben bei den verschiedenen Völkern einen schärferen Blick für diejenigen Thatsachen hatte, die für das von ihm Gesuchte zeugten, als für solche, die auf Abweichungen hinwiesen. Ihn entschuldigt ausserdem für manche übertriebene Verallgemeinerung, dass, als er sein Werk schrieb, die urgeschichtliche Forschung als Wissenschaft noch wenig entwickelt war. Aber wer heute alle seine Sätze als apodiktische Wahrheiten hinstellen wollte, würde sich lächerlich machen. Ähnliches gilt von den Folgerungen, die Engels im Anschluss an Morgan hinsichtlich der Gens gezogen hat. Auch sie sind nicht frei von Verallgemeinerungen, die sich als zu weitgehend herausgestellt haben.

So hat H. Cunow in dem schon citierten Aufsatz überzeugend nachgewiesen, dass das Mutterrecht keineswegs eine Einrichtung ist, die sich mit unbedingter Notwendigkeit aus der ursprünglichen Hordenfamilie, wenn man es so nennen darf, als Folge ihres Wachstums entwickelt, sondern dass stets gewisse ökonomische Vorbedingungen – mässiger Ackerbau neben Jagd und Fischfang als Grundlage der Lebensführung – erforderlich sind, um der Frau in der Hausgenossenschaft und eventuell, in der Gens jene Stellung zu verschaffen, die man als mutterrechtlich in dem Sinne bezeichnen kann, wie Engels das Wort braucht. Bei Engels erscheinen Mutterrecht im Sinne einer höheren socialen Stellung der Frau und Mutterfolge als nahezu identisch, obwohl sie dies in Wirklichkeit keineswegs sind, Mutterfolge in vielen Fällen mit einer sehr niedrigen socialen Stellung der Frau verbunden war, bezw. ist. Ebenso findet man Mutterfolge bei Hirtenvölkern, obwohl nach der Theorie die Viehzucht die patriarchalische Familie zur Folge haben soll. Es ist eben, wie bemerkt, stets ein Zusammenwirken verschiedener Umstände notwendig, um eine bestimmte sociale Einrichtung herbeizuführen; und schon bei den primitiven Völkern zeigt es sich, dass die Entwickelüngsreihe der socialen Einrichtungen durchaus nicht überall die gleiche Stufenfolge innehält.

Engels hat in dieser Hinsicht sich in der vorliegenden Schrift mehrfach von einer Vorliebe für gewisse Formen und Einrichtungen des socialen Rechts zu Folgerungen verleiten lassen, die bei näherer Prüfung nicht aufrechterhalten werden können. So überschätzt er gelegentlich – nicht immer – die Tragweite des sogenannten Urcommunismus, der doch im Grunde nur ein negativer Communismus war – Abwesenheit ausgebildeter Rechtsbegriffe – oder nur als Collectivismus von Verwandschaftsgruppen positive Gestalt erhielt. Was die Socialdemokratie als Partei der Arbeiter heute erstrebt, ist in seinen materiellen und ideellen Voraussetzungen so grundverschieden von jenem ursprünglichen “Recht, aller auf die Erde und ihre Erzeugnisse“, dass sie ihm mit völliger Unbefangenheit gegenübersteht. Es hat mit ihren Bestrebungen nicht mehr zu thun, wie der Animismus der Wilden mit den vitalistischen Theorieen moderner Physiologen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich der Urcommunismus als Sondereigentum von Gruppen an der Erde und ihren von selbst dargebotenen Schätzen heraus, gegründet auf Occupation oder Eroberung und den ihnen verwandten Formen der Gewinnung von Lebensmitteln: Einsammlung und Jagd. Indes findet man schon auf diesen Stufen auch persönliches Eigentum, das aber natürlich nur solches an Gegenständen individueller Verwendung sein konnte, wie Waffen, Schmuck u.dergl. Man kann beinahe sagen, dass der Urcommunismus ein auf Nichtarbeit gegründeter Communismus war und im dem Masse verschwand, wie die Lebensmittelgewrinnung mit der planmässigen Bearbeitung des Bodens und der Züchtung von Haustieren erst wirklich den Charakter schöpferischer Arbeit erhielt. Oder, von der anderen Seite her, dass der Urcommunismus dem Zustand entspricht, wo der Mensch sich noch wenig über die directe Abhängigkeit von den freiwilligen Gaben der Natur erhoben hat, und gerade da aufhört, wo der Mensch anfängt, Herr über die Natur zu werden. Der Abfall von diesem ursprünglichen Communismus ist meines Erachtehs höchstens in dern Sinne als ein geschichtlicher Sündenfall zu betrachten, als er ein Kosten vom Baum der Erkenntnis war.

Ähnlich wird das geschichtliche Urteil über die Aufhebung oder Verdrängung der Gentilverfassung lauten müssen. Engels hebt selbst hervor, dass diese nur für eine ziemlich niedrige Stufe gesellschaftlicher Entwickelung – dünne Bevölkerung und geringe Productivität der Arbeit – passte und von dem Moment an dem Untergang geweiht war, wo die Entwickelung über diese Grundlagen hinaustrieb. Die grosse Sympathie, die er für die auf Gentilverbänden aufgebaute and auf Grund ihrer organisierte Gesellschaft empfindet, lässt ihn deren Schattenseiten und transitorischen Charakter nicht übersehen. Aber doch ist, will mir scheinen, seine Darstellung der Art und Weise, wie die Gentilverfassung dazu kam, der Ausbildung des Staates Platz zu machen, nicht ganz frei von tendenziöser Färbung. Er schildert sie generell als eine Art Sündenfall, herbeigeführt durch degradierende Einflüsse, die niedrigsten Interessen und schmählichsten Mittel, als ein Herabsinken der Menschen von einem Standpunct relativ grosser sittlicher Höhe auf den einer gewissen sittlichen Corruption. Darin liegt, denke ich, neben zu grosser Verallgemeinerung von zufälligen oder secundären Erscheinungen ein Stück falscher Ethik, ein Rest von socialen Romanticismus, den wir sonst eher bei Radicalen mit conservativen Neigungen finden, wie etwa bei kleinbürgerlichen Demokraten, als beim Vertreter des wissenschaftlichen Socialismus. Unzweifelhaft ist da, wo die gesellschaftlichen Einrichtungen wenig entwickelt sind und dem Individuum nur geringen Spielraum für besondere Strebungen lassen, weniger Corruption möglich, als in complicierteren Gesellschaften. Aber können wir die Sittenzustände jener einfacheren Gesellschaften darum generell als höhere bezeichnen? Müssen wir uns nicht vielmehr sagen, dass, so sehr sie uns auch perspektivisch durch den Contrast mit der nächsten Umgebung anmuten mögen, sie doch ethisch nicht sehr hoch zu werten sind? Die Ehrlichkeit aus Beschränktheit oder Mangel an Verführung ist ganz anderer Natur, als die Ehrlichkeit von geweckten und allen möglichen Verführungen aus gesetzten Angehörigen grosser complicierter Gemeinwesen. An verschiedenen Stellen zeigt, Engels selbst, wie furchtbar schnell z.B. die Sittlichkeit der barbarischen Germanen bei der Berührung mit der Civilisation in die Brüche ging, und Ähnliches wird noch heute beobachtet, wo Angehörige einfacherer Culturkreise in den Bereich höherer Civilisationen hineingezogen werden.

Wir verfallen nur zu leicht in den Fehler, die Abwesenheit gewisser Unsitten oder Laster unserer Civilisaton für den Beweis einer höheren Sittlichkeit zu nehmen, während sie in Wirklichkeit oft nur Zeichen der Roheit der Verhältnisse und Denkart der Völker ist, bei denen wir sie bewundern. Einfachere Sitten und höhere Sittlichkeit sind wie jeder weiss, zwei grundverschiedene Dinge. Die Treuherzigkeit des Naturkindes, das jedem gerade heraus sagt, was es über ihn denkt, entzückt uns als Gegenstück gegen unsere conventionelle Höflichkeit, die uns Leuten, die wir verachten, Artigkeiten sagen lässt. Wir denken aber gar nicht daran, es nachzuahmen, und würden es sehr unangenehm empfinden, wenn unsere Umgebung dies thäte. Ist unsere Höflichkeit unsittlicher, als jene Treuherzigkeit? Ich möchte es bestreiten. Sie ist keine böswillige Täuschung, eben, weil sie conventionell ist. Sie ist vielmehr eine Selbstbeherrschung, die den Bedingungen unseres entwickelten Verkehrslebens entspricht. Es verträgt sich nicht mit diesen, dass wir unsere Herzen auf der Zunge tragen. So konnte vor 100 Jahren, wo Deutschland noch überwiegend Bauernland war, Goethe sagen: „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.“ Heute wäre das eine abgeschmackte Übertreibung. Aber noch abgeschmackter wäre es, aus dem Verschwinden der etwas urwüchsigen Umgangsformen auf ein Sinken des sittlichen Niveaus folgern zu wollen. Unzweifelhaft sind die Sittenzustände im heutigen Deutschland denen vom Jahre 1800 überlegen.

Wo Engels mit bestimmten Völkern und deren Entwickelung zu thun hat, zeigt, er sich gewöhnlich von romantischer Überschätzung früherer Culturen frei und spottet, selbst gern über Schriftsteller, denen der Wilde der bessere Mensch ist. Aber wo er zusammenfasst und allgemeine Sätze aufstellt, da passiert es auch ihm, dass er über den Lichtseiten älterer Gesellschaftsformen deren Schattenseiten vergisst. Es .ist aber nicht nur die begreifliche Sympathie mit den demokratischen Einrichtungen der Urvölker, die zu solchen Einseitigkeiten verführt. Hier spielen vielmehr gewisse Fouriersche und Hegelsche Gedankenreihen, in seine Geschichtsdarstellung hinein. Engels selbst verweist am Schlüsse seines Buches auf Fouriers Kritik der Civilisation, und einer der Grundzüge dieser ist die Schilderung der bisherigen Entwickelung als cultureller Fortschritt bei sittlicher Entartung. Auf ähnliche Folgerungen läuft Hegels Gedanke von der Entwickelung der Geschichte in Gegensätzen hinaus. Beurteilen wir nun die Gegenwart unter diesem Gesichtspunct, so müssen wir notgedrungen zu einer Überschatzung bestimmter Einrichtungen der Vergangenheit gelangen.

So ist z.B. unserem moralischen Empfinden die moderne Prostitution etwas viel Abstossenderes, als die Vielweiberei, wie sie auf früheren Entwickelungsstufen bestand. Und doch kennzeichnet sie einen grossen sittlichen Fortschritt.

Sie beruht auf der Anerkennung der freien Persönlichkeit. Die moderne Prostituierte verfügt selbst über ihren Körper, was in den meisten Fällen der Vielweiberei nicht der Fall war. Selbst wenn sie unter dem Zwang der Not ihren Körper yerkauft, übt sie einen Act der Selbstbestimmung aus, der dem weiblichen Geschlecht bei vielen sogenannten Naturvölkern versagt ist. Dass herangereifte Mädchen von ihren Eltern oder dem Familienvorstand an einen Dritten in die Ehe verkauft oder vertauscht werden, mag mehr mit der allgemeinen sittlichen Denkart dieser Völker harmonieren, als die freiwillige Prostitution mit der unseren, aber das beweist nur, dass unser Massstab heute ein höherer ist, nicht aber, dass unsere Sitten gesunken sind.

Was ist überhaupt der Massstab, nach dem, wir die Sittenverhältnisse verschiedener Epochen gegen einander zu messen und zu werten haben? Wie wir die Formel auch aufsetzen mögen, so werden wir immer finden, dass sie im letzten Grunde auf die Frage nach der Achtung vor der Persönlichkeit und ihrer Slellung zum Gemeinwesen hinausläuft. Es ist selbstverständlich, dass die blos formale Freiheit der Persönlichkeit gewisser ökonomischer Vorbedingungen bedarf, um wirk1iche Freiheit zu werden, und dass sociale Achtung der Persönlichkeit Selbstachtung und Selbstzucht einschliesst.

An Fourier und Hegel knüpfen auch verschiedene der Ausführungen Engels’ über die zukünftige Gestaltung der Familie und des Gesellschaftsverbandes an. Engels sieht in der proletarischen Ehe eine höhere Stufe der Monogamie, als wie diese in der bürgerlichen Ehe vertreten ist. Bei ersterer fehlen nach ihm mit dem Eigentum der Antrieb und die Mittel, um die Männerherrschaft geltend zu machen, sei die Frau dem Manne ökonomisch gleichgestellt und sei daher wirklich die Geschlechtsliebe Regel bei der Eheschliessung. Mit der Verwandlung der Productionsmittel in Gemeineigentum der Gesellschaft, der Umwandlung der Privathaushaltung in eine öffentliche Industrie und der Übernahme der Pflege und Erziehung der Kinder durch die Öffentlichkeit werde, diese factische Gleichstellung der Geschlechter allgemein werden und zugleich ein ausschliesslich auf Geschlechtsliebe gegründeter Geschlechtsverkehr möglich. Ob der aber dann noch Monogamie sein werde, hält Engels für zweifelhaft. Die Monogamie habe heute als Correlat die Prostitution. Sei anzunehmen, dass die Prostitution verschwinden könne, ohne die Monogamie mit sich in den Abgrund zu ziehen?

Einige der hier gemachten Voraussetzungen können jedoch selbst angezweifelt werden. So betrachtet, Engels das Eheleben des modernen Arbeiters etwas zu sehr unter dem Gesichtspunct des abgeleiteten Begriffs Proletarier. Factisch tendiert die Arbeiterehe in den vorgeschrittenen Ländern mehr dahin, bürgerlich zu werden, als sich von der bürgerlichen Ehe hinweg zu entwickeln, und vorläufig wenigstens ist die sociale Gesetzgebung mehr geeignet, auf das erstere, als auf das letztere hinzuwirken. Sie nimmt zwar den Eltern einen Teil der Sorgen für die Kinder ab, unterbindet aber zugleich, durch Verbot der Fabrikarbeit der Kinder, Verkürzung der Arbeitszeit der Erwachsenen und ähnliche Gesetze, eine Reihe der auf Auflösung oder Zersetzung der Familie wirkenden Tendenzen. Auch ist es bei der grossen Masse der Arbeiter Regel, dass mit der Eingehung der Ehe die Frau die Erwerbsthätigkeit aufgiebt oder erheblich einschränkt und sich hauptsächlich der Führung des Haushalts widmet. Unzweifelhaft bedeutet der Einzelhaushalt eine grosse Arbeitsverschwendung. Aber der Reiz des eigenen Heims ist für die grosse Mehrheit der Menschen so stark, dass sie die für das Heim erforderliche Mehrarbeit der grösseren Menge von Genussmitteln vorziehen, welche die Verwandlung der Haushalte in öffentliche Industrieen bedeuten würde. Wir können wohl, eine Reihe von Erscheinungen feststellen, die auf Erleichterung und Ergänzung der Einzelhaushalte hinwirken, aber eine Auflösung, lässt sich nicht feststellen, – wenigstens nicht in der Arbeiterclasse. Das die bürgerlichen Haushalte in vorgeschrittenen Ländern heute bedrohende Dienstbotenproblem hat für die Arbeiterhaushalte keine Schrecken.

So muss es denn auch als fraglich bezeichnet werden, ob wir einer Zeit entgegengehen, wo der monogamischen Ehe die wirtschaftlichen Grundlagen entzogen sind. Dass diese Ehe nicht ohne Prostitution soll, bestehen können, ist nur bei einer sehr eingeschränkten Deutung des Begriffs monogam möglich. Engels sagt von der heutigen Arbeiterehe, sie sei monogam im etymologischen Sinne des Wortes, aber durchaus nicht in seinem historischen Sinne. Indes, was sollen wir unter monogam im historischen Sinne verstehen? Wenn wir genauer zusehen, meint Engels damit diejenige Form der Monogamie, in der| diese zuerst sich aus früheren Eheformen – Gruppen- und Paarungsehe – entwickelte: Einzelehe bei fast absoluter Herrschaft des Mannes über die Frau. Aber Engels giebt selbst zu, dass die Monogamie keineswegs überall in der „classisch-schroffen Form“ auftrat, die sie nach ihm bei den Griechen annahm, und zeigt auch, dass sie heute in verschiedenen Ländern verschiedene Züge trägt. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass der Begriff Monogamie nicht mit jener an die Urform anknüpfenden Deutung erschöpft ist, wir vielmehr berechtigt sind, ihn auf alle Ehen anzuwenden, die aus einem Mann und einer Frau bestehen und für mehr als den blossen Paarungsact oder eine gewisse Paarungszeit eingegangen werden. Ein Moment, das bei der Eheschliessung sehr in Betracht kommt: die geistige oder seelische Harmonie bezw. Ergänzung der sich Verbindenden, wird von Engels völlig vernachlässigt. Und doch wird es mit dem Fortschritt der Civilisation ein immer wichtigerer Factor der Ehe. Wohl mag also noch manche Schranke fallen, manches Vorurteil schwinden, die heute die Frau gegen den Mann in Nachteil setzen, deswegen kann die Ehe bezw. die Familieneinheit noch lange in der Hauptsache monogam bleiben. Und wie mit der Ehe, so mit dem Staate. Auch mit Bezug auf ihn sehen wir Engels, unter Berufung auf eine Definition, die an die Entstehungsumstände der Institution – Ausbildung der Classenherrschaft – anknüpft, deren künftiges Verschwinden ankündigen. Nun hat aber der Staat im Laufe der Entwickelung seine Formen wesentlich erweitert und immer neue Functionen übernommen. Engels selbst spricht von ihm als Organ gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Ist daher anzunehmen, dass mit dem Verschwinden der ersterwähnten Voraussetzung auch der Staat absterben oder einschlafen werde? Mir scheint das sehr unwahrscheinlich. Die sich vor unseren Augen vollziehende Entwickelung zeigt uns im Gegenteil, dass, je mehr der Staat aufhört, Organ der Classenherrschaft oder Classenunterdrückung zu sein, sein Wirkungsbereich ein grösserer wird. Der Staat ist auch von Anfang an mehr, als bloss Werkzeug der Classenunterdrückung. Sein Aufkommen fällt mit der Ausbildung grosser, auf abgegrenzten Territorien sesshaft niedergelassener und nicht mehr ausschliesslich durch Familienverbände zusammengehaltener Völkereinheiten zusammen.

Er entsteht als Product des Wachstums der Niederlassung in Bezug auf Zahl ihrer Mitglieder und Dichtigkeit der Siedlung, und da dieses Wachstum nur möglich ist durch grössere Ergiebigkeit der Wirtschaft und längere Friedensperioden, so ist der aufkommende Staat wohl Mittel der Classenherrschaft, aber Träger und Ausdruck eines grossen socialen Fortschritts. Auch das zeigt uns Engels selbst, wenn er darlegt, dass schon der Bund der Irokesenstämme die Untergrabung der dem Staatsverband vorausgehenden Gentilverfassung. bedeutete, dass diese letztere zu eng und engherzig war, um einen nennenswerten Fortschritt über die Lebensweise der beständig um Jagdgebiete Krieg führenden Indianer zu erlauben. Wenn also der Staat bei seinem Entstehen der Classenherrschaft diente oder von herrschenden Classen behufs Befestigung ihrer Herrschaft ausgebildet wurde, so ist diese Seite seines Wesens doch nur eine secundäre Eigenschaft und hat ihre Wurzel nicht in den dauernd wirkenden Kräften, sondern in den vorübergehenden Umständen seiner Schaffung und Erhaltung. Das Absterben des Staates setzt nicht nur das Aufhören der Classenherrschaft, sondern auch die Auflösung der grossen nationalen Einheiten in lose Verbäride kleiner Korporationen oder Gruppen voraus. Dies letztere ist aber kaum zu erwarten. Wie sehr sich auch das demokratische Föderationsprincip in der Ausbildung des Verhältnisses der örtlichen und beruflichen Gruppen zum Staatsverband Geltung verschaffen wird – und dass hierin eine der bedeutenden Aufgaben der Zeit liegt, ist gerade die Ansicht des Schreibers dieser Zeilen – so spricht doch wiederum die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Gruppen, die immer reichere Gliederung der Gesellschaft dafür, dass es nicht zur Auflösung des zusammenfassenden Organismus, Staat genannt, führen wird.

Nur soviel ist richtig, dass der Ausbeuter- und Unterdrückerstaat absterben wird. Aber das ist nur eine bestimmte Staatsform und nicht der Staat überhaupt.

Wenn Engels hier Wesen und Form identificierte oder eine bestimmte Seite der Sache für das Ganze nahm, so leiteten ihn dabei, wie schon erwähnt, Fourier-Hegelsche Gedankengänge. Auch Fourier löst den Staat auf, und zwar, indem er an seine Stelle den Verband der Phalansterien treten lässt; und dass der Staat mit der Classenherrschaft, die ihn ins Leben gerufen, verschwindet, entspricht der Hegelschen Formel von der Negation der Negtion als Entwickelungsgesetz. Aber so grosse Bahnbrecher der modernen Entwickelungslehre Fourier und Hegel auch waren, so sind doch ihre Formeln gerade darin irreleitend, dass sie absolute oder totale Umgestaltungen unterstellen, wo die Wirklichkeit nur relative Veränderungen kennt.

Damit genug der Vorbehalte! Sie betreffen nur einzelne Seiten des Engelsschen Werkes, das in seinem Ganzen durch sie wenig berührt wird. Auch für den, der ihnen zustimmt, behält diese Arbeit ihren hohen Wert. Alle Geschichtsdarstellung, alle Erklärung geschichtlicher Entwickelungen ist bis zu einem gewissen Grade Construction und enthält ein von der Persönlichkeit des Darstellers bestimmtes subjectives Element. Niemand ist im stande, die volle Wirklichkeit zu geben und in jedem Falle das Verhältnis der wirkenden Factoren genau zum Ausdruck zu bringen. Im vorliegenden Falle handelt es sich zudem vielfach erst um Hypothesen, die mehr oder minder grosse Wahrscheinlichkeit für sich haben, aber noch nicht Gewissheiten sind. So hat Engels selbst in der vierten Auflage dieses Buches manche Sätze der ersten Auflage richtig gestellt und würde auch bei späteren Auflagen von diesem Recht der Correctur, wo es ihm nötig erschienen wäre, Gebrauch gemacht haben. Das Buch ist kein Katechismus, sondern ein Versuch, die Kräfte und Umstände vorzuführen, unter denen sich die drei bedeutendsten rechtlichen Institute der civilisierten Gesellschaft ausgebildet und ihre uns bekannten Formen erhalten haben: Eigentum, Familie, Staat. Wenn es hier und da in der Abschätzung des Einflusses einzelner dieser Kräfte bei bestimmten Entwickelungen fehlgreift, so löst es dafür mit um so grösseren Geschick die Aufgabe, ein lebhaftes, anschauliches Bild des ganzen Zusammenwirkens zu geben. Sowohl das stille Werk der ökonomischen Factoren, die fast unbemerkt die Grundlagen bestehender Gesellschaften oder Gesellschaftseinrichtungen untergraben und dadurch die Umgestaltung dieser selbst möglich und, je nachdem, nötig machen, so wie der Einfluss der subjectiven oder ideologischen Kräfte werden in glänzender Weise zur Anschauung gebracht. Engels besass wie wenige, die Gabe, in kurzem Umriss viel zu geben, ohne je schwerfällig zu werden. Er ist immer klar und lebendig, Meister der Analyse und der Kunst, aus der Vielheit der Erscheinungen oder Kräfte stets die wichtigsten herauszugreifen. Dadurch wird sein Buch selbst den Ethnologen von Fach wertvoll, die leicht der Gefahr unter liegen, über Specialuntersuchungen die grossen Zusammenhänge aus dem Gesicht zu verlieren. Für die Socialdemokratie aber hat es das grosse Verdienst, sie mit den Ergebnissen einer Wissenschaft vertraut zu machen, der die Masse der Socialisten wenig Zeit hat widmen können, und die doch für das Verständnis des Wesens der Gesellschaft von grosser Bedeutung ist. In seinen Einzelheiten kann es corrigiert werden, aber als Leitfaden für die Erkenntnis der urgeschichtlichen Probleme ist es unübertrefflich.


Zuletzt aktualisiert am 6.1.2009