Eduard Bernstein

 

Sozialdemokratie und Imperialismus

(Mai 1900)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1900 Nr.5, Mai 1900, S.238-251.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


„Ich muss sagen, dass ich das Wort hasse.“ So äusserte sich vor einigen Wochen der Earl of Kimberley, einer der wenigen gladstonianisch-liberalen Peers, auf einem Festessen des radicalen Eighty Club. Das Wort, das dem derzeitigen Führer der Liberalen im Hause der Lords so verhasst klingt, ist dis vielberufene, vieldiscutierte Wort: Imperialismus.

Ein ominöses Wort, in der That. Die nächstliegende Association, die sich mit ihm verbindet, ist die des römischen Cäsarentums: ein auf brutaler Gewalt errichtetes Reich, zusammengehalten durch ein rohes Prätorianerheer, und auf dieses gestützt, sein Abgott und Werkzeug zugleich, ein Nero oder Caligula als Imperator. Wen schaudert es nicht vor diesem Bilde?

Oder nehmen wir ein moderneres Beispiel: Frankreich unter den beiden Bonapartes. Was war das erste, was das zweite Empire? Gewaltherrschaft, Byzantinismus, auswärtige Kriege und Abenteuer, die jedesmal schliesslich zu einer das Land demütigenden Katastrophe führten.

Auch das erste deutsche Kaisertum spricht nicht gerade verführerisch an. Seiner glanzvollen Tage waren wenige, und sie waren teuer erkauft. Jeder, obendrein stets nur kurzen Periode der Behauptung seiner welterobernden Macht folgten erneute Losreissungen und zerrüttende innere Wirren. Masslos in seinen Weltmachtsansprüchen und Bestrebungen, zerstörte es heute, was es gestern geschaffen, um schliesslich an elender Entkräftung dahinzusiechen. Diese Masslosigkeit, die ja auch den Weltreichen des Ostens eigen war, scheint danach mit dem Imperialismus untrennbar verbunden zu sein, und in allen Fällen ward sie sein Verhängnis. Ihre Kosten aber hatten die Völker zu tragen.

Nichts leichter, als dem Imperialismus ein Sündenregister vorzuhalten, das ihn dem Hass und der Verachtung jedes Freundes der Freiheit und des Fortschritts der Völker überliefert. An Flüchen auf ihn hat es in der Geschichte nicht gefehlt.

Aber trotz aller jener Erfahrungen, trotz aller Verwünschungen erhebt er sich immer wieder von neuem. Ja, er verallgemeinert sich. Air allen Seiten beobachten wir heute imperialistische Tendenzen. Mit Ausnahme der in voller Zerrüttung befindlichen Überbleibsel einer grossen imperialistischen Vergangenheit – Österreichs und der Türkei – giebt es heute keinen Grossstaat, der nicht eine starke imperialistische Strömung aufwiese. Sehen wir von der Regierungsform ab, so ist die dritte französische Republik durchaus nicht weniger imperialistisch, wie die englische Monarchie, die Riesenrepublik der Vereinigten Staaten nicht weniger, wie das ungeheure russische Czarenreich. Die jetzige französische Republik unterscheidet sich in puncto Imperialismus vom zweiten bonapartistischen Kaiserreich blos, dadurch, dass sie die Sache praktischer betreibt, als jenes. Oder sagen wir lieber geschäftsmässiger, denn ob ihre Eroberungen und Erwerbungen alle sehr praktisch sind, ist ziemlich zweifelhaft. Jedenfalls geht sie auf den materiellen Gewinn aus, während Louis Bonaparte sich mit der Verwirklichung von napoleonischen „Ideen“ abquälte. Ihr Imperialismus ist realistisch“ und erzielt Erfolge, der seine war ein gutes Stück sentimental und ging daran zu Grunde. Die Vereinigten Staaten aber spielen in America ähnlich Schutz- und Vormacht, wie Russländ in Asien. Die Monroe-Doctrin vertritt da das sogenannte Testament Peters des Grossen und wird in ähnlicher Weise, wie dieses, schrittweise erweitert. In der Frage des Panama- bezw. Nicaragua-Canals ward sie auf Mittelamerica, in der Cuba-Frage auf den mittelamericanischen Archipel ausgedehnt, in der Venezuela-Frage übertrug sie ihre Geltungssphäre nach Südamerica. Samoa und die Philippinen zeigen dagegen, dass ihre Kraft als Factor der Selbsteinschränkung eine nur sehr mässige ist.

Kein Zweifel, wir stehen inmitten einer Ära imperialistischen Dranges. Wie ihn erklären, welche Stellung zu ihm einnehmen?

Eine in der Socialdemokratie ziemlich verbreitete Auffassung sieht in ihm einen letzten verzweifelten Versuch der Bourgeoisie, ihre Herrschaft zu verlangern, bezw: den Moment ihres Sturzes aufzuhalten. Für sie handelt es sich dabei um die „Weltpolitik des sterbenden Capitalismus“, um ein Symptom des Verfalls der bürgerlichen Welt, um ein mehr oder minder geschickt verkleidetes Stück Reaction.

Die Grundgedanken, auf welche sich diese Auffassung stützt, sind bekannt. Es sind überlieferte Theoreme, in denen, ein Stück, geschichtlicher Wahrheit eine epigrammatische Form erhalten hat. Da sie zudem von scharfen und kenntnisreichen Denkern herrühren, so braucht man in die überkommenen Sätze nur immer wieder neue Namen und neue Daten einzuschreiben; um sie auf alle möglichen Fälle anwenden zu können. Wer die bürgerliche Welt am Verenden sieht, der wird leicht dazu geführt, in all ihrem Thun nur Sterbesignale, letzte Aufraffungen und dergleichen zu erblicken.

Indes macht sich die Geschichte nicht, oder nur in grossen Epochen, nach dem Schema von Epigrammen. Was sub specie aeternitatis richtig ist, kann sub specie diei sehr falsch sein. Unser Leben ist von einem gewissen Zeitpunct ab ein fortgesetztes Sterben, aber unser Handeln bleibt noch lange, nachdem dieser Zeitpunct eingesetzt hat, Lebens- und nicht Todesvorbereitung.

In der Parvusschen Correspondenz für deutsche socialistische Zeitungen ward kürzlich mit einem Aufwand von Schimpfereien gegen den Schreiber dieses und unter Berufung auf Brentano behauptet, in England habe der Imperialismus „gleichzeitig die unverschämteste Reaction, das Aufkommen des Scharfmachertums in den inneren Zuständen nach sich gezogen“. Brentano lässt sich nun zwar sehr leicht durch Zeitungsberichte düpieren, dass er aber eine so allen Thatsachen ins Gesicht schlägende Behauptung aufgestellt haben sollte, halte ich für undenkbar.

Man kann im englischen Imperialismus als solchem Reaction erblicken. Das Wort ist vieldeutig, Marx ironisiert seinen Gebrauch seitens gewisser Politiker einmal damit, dass er sagt, für sie sei Reaction „Nacht, worin alle Katzen grau sind“. Und in der That dient es oft mehr zur Verdunkelung, als zur Erhellung einer politischen Erscheinung. Jede Bewegung ist Reaction, insofern sie Abwendung von einer vorhergegangenen Bewegung, einen Gegensatz gegen diese darstellt. Der heutige englische Imperialismus ist eine Gegenströmung gegen das Klein-Englandtum, das in den zwei mittleren Vierteln des XIX. Jahrhunderts in England gepredigt wurde, für die Bekenner dieses also „Reaction“. Aber keine einzigö Verkürzung der politischen Rechte der englischen Arbeiter, keine einzige gesetzliche Beschränkung ihres Coalitionsrechts, keine einzige Verfolgung politischer Ansichten markiert bis jetzt die Ära der imperialistischen Strömung. Das letzte Viertel des XIX. Jahrhunderts hat den Arbeitern Erweiterung ihrer Rechte in der Landes-, der Grafschafts- und der Ortsverwaltung, in Schul-und Armenverwaltung gebracht, und ihre gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen stehen heute stärker da, als je. Wohl giebt es Politiker und Ökonomen, die auf all das mit Furcht und Ingrimm blicken und gern den Zeiger zurückdrehen möchten, aber ihr Einfluss ist viel zu schwach, um irgend etwas in dieser Richtung auszurichten.

Ende Februar dieses Jahres fand in London eine Conferenz von Gewerkschaftlern und Sozialisten statt, deren Zweck die Schaffung eines Arbeiterwahlbundes war. Sie war, ausser von Socialisten, fast nur von vorgeschrittenen Gewerkschaftlern besucht, die conservativeren Gewerkschaftler waren fortgeblieben. Trotzdem ward eine von socialdemokratischen Delegierten eingebrachte Resolution, welche die aufzustellenden Candidaten auf den Classenkampf und die Vergesellschaftung der Productions- und Austauschmittel verpflichten wollte, mit erdrückender Mehrheit abgelehnt.

Der Grund der Ablehnung war opportunistischer Natur, man wollte nicht durch ein zu radicales Programm die werbende Kraft des Bundes schwächen. Wohlgemerkt, es handelte sich um die werbende Kraft bei den Arbeitern, nicht bei Bourgeois. Aber würde diese Zurückhaltung durchgedrungen sein, wenn England sich in einer Ära des „Scharfmachertums“ befände? „Wir erkennen Classengegensätze (class differences) an, aber keinen Classenkampf“, erklärte der Vertreter einer der Organisationen unqualificierter Arbeiter (der Bauhandlanger). Man mag darin eine blosse Buchstabenreiterei oder ein Beispiel für die der Abstraction feindliche Denkweise der Engländer erblicken, aber glaubt man, dass solche Bucbstaberreiterei durchdringen würde, wenn die Gemüter der Arbeiter unter dem Einfluss von Scharfmacherei ständen? Bei englischen Arbeitern sicherlich nicht. Im Kampf sind sie die letzten, die ein Blatt vor den Mund nehmen.

Nein, der britische Imperialismus mag im weiteren geschichtlichen Sinne Reaction bedeuten, oder Retardation – Aufhaltung von socialem Fortschritt, der sich sonst vollziehen würde, sociale Kraftausgabe am unrechten Orte – aber actuelle, sich in Unterdrückungsmassregeln, m Entziehung von Rechten äussernde Reaction bedeutet er nicht.

Indes wäre er selbstverständlich für Socialdemokraten damit zur Genüge gerichtet, dass das erstere zuträfe. Es ist einer der wichtigsten Gesichtspuncte für die Partei derjenigen, die unter den heutigen Verhältnissen leiden, dass der sociale Fortschritt sich so schnell vollzieht, wie nur irgend möglich, dass alle verzögernden Massnahmen oder Vorschläge bekämpft werden.

Wie steht es nun damit? Ist der Imperialismus für England ein retardierender Factor?

Man muss ihn nicht mit der Politik identincieren, die zum jetzigen Krieg in Südafrica geführt hat bezw. für ihn verantwortlich gemacht wird. Wenn diese Politik Imperialismus ist, so ist derselbe eine uralte Erscheinung. Oder, wie es ein englischer Socialist jüngst sehr gut ausgedrückt hat: „Britische Grossthuerei ist in keiner Weise etwas neues, wohl aber steckt im britischen Imperialismus ein neues Element“.

Imperialismus und Imperialismus sind eben zweierlei. Man kann es sich dadurch verbergen, dass man gewisse äussere Ähnlichkeiten in jedem Falle für das Wesentliche erklärt, die inneren Unterschiede aber für das Unwesentliche. Indess die famose Gleichsetzung von Monmouthshire mit Makedonien, weil beide mit M anfangen und von einem Fluss durchzogen werden, ziemt wohl dem braven Leutnant Fluellen, aber nun und nimmer dem Vertreter einer Lehre, die sich wissenschaftlicher Socialismus nennt.

Ich habe anderswo mit Bezug auf diesen Punct den Satz von Marx im Bürgerkrieg citiert: „Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicher Schöpfungen, für das Seitenstück älterer und selbst verlebter Formen des gesellschaftlichen Lebens versehen zu werden, denen sie einigermassen ähnlich sehen,“ und habe ferner auf den Satz im Achtzehnten Brumaire verwiesen, wo Marx gegen die Gleichsetzung des modernen mit dem antiken Cäsarismus Verwahrung einlegt und bemerkt, dass bei den grossen Unterschieden zwischen der modernen und der antiken Gesellschaft der eine mit dem andern nicht mehr gemein haben könne, wie der Erzbischof von Canterbury mit dem Hohepriester Samuel. Man kann mir nun aus beiden Schriften Stellen entgegenhalten, die in schärfster Weise antiimperialistisch lauten. So heisst es z.B. im Bürgerkrieg: „Der Imperialismus ist die prostituiersteste und zugleich die. schliessliche Form jener Staatsmacht, die die entstehende bürgerliche Gesellschaft ins Leben gerufen hatte, als das Werkzeug ihrer eigenen Befreiung vom Feudalismus, und die die entwickelte Bourgeoisgesellschaft verwandelt hatte in ein Werkzeug zur Knechtung der Arbeit durch das Capital!“ Aber dieser Satz zielt auf das bonapartistische Kaisertum, und es lässt sich mit Fug und Recht die Frage aufwerfen, ob er nicht in seiner Verallgemeinerung über die Grenze dessen hinausgeht, was der vorher citierte Satz von der Wertung geschichtlicher Erscheinungen sagt. Liest man die Stelle durch, deren Abschluss er bildet, so wird man nicht nur auf Superlative stossen, die vor der heutigen Erkenntnis nicht Stich halten [1], sondern auf den, ebenfalls viel zu sehr verallgemeinernden Satz: „In Wirklichkeit war es (das Kaisertum), die einzig mögliche Regierungsform zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie die Fähigkeit, die Nation zu beherrschen, schon verloren, und die Arbeiterclasse sie noch nicht erworben hatte“. Dreissig Jahre Republik haben gezeigt, dass auch eine andere Regierungsform mindestens so gut, wie das Kaisertum, den Bedürfnissen der Nation Genüge leisten konnte, und dass die Frage überhaupt nicht so steht, wie sie hier formuliert ist. Es handelt sich nicht um die Bourgeoisie und die Arbeiterclasse, sondern um eine ganze Reihe in ihren Lebensverhältnissen und Interessen verschiedenartig differenzierter Classen oder Schichten, von denen allerdings keine einzige stark genug ist, die Nation zu beherrschen, so dass die Frage heute so steht: Beherrschung aller durch eine über ihnen stehende, auf den Säbel gestützte Macht oder Regierung auf Grundlage von. Coalitionen und Compromissen.

Das wird noch auf eine ziemlich lange Weile hinaus die Signatur des Regierungsproblems in Frankreich sein, und darum, muss die Arbeiterpartei Frankreichs vorbereitet und entschlossen sein, da, wo es unter anständigen Bedingungen geschehen kann, die keine Preisgabe fundamentaler Rechte und Forderungen bedeuten; in solche Comprömissregierung einzutreten. Es ist ein kategorischer Imperativ im politischen Leben, alle uns zu Gebote stehenden Mittel zur Förderung der von uns vertretenen Sache auch auszunutzen. In diesem Sinne hat der Schreiber dieses seiner Zeit auf die Umfrage der französischen Socialisten über den Eintritt Millerands ins Ministerium Waldeck-Rousseau mit einer rückhaltlosen principiellen Zustimmung geantwortet, und es scheint, dass auch viele von denen, die damals an der Richtigkeit des Schrittes zweifelten, jetzt sich freuen, dass er gemacht wurde.

Aber, wie gesagt, wenn Frankreich nicht mehr kaiserlich-bonapartistisch ist, so ist es doch immer noch imperialistisch – imperialistischer sogar, als das zweite Kaiserreich. Sein ausgedehnter Colonialbesitz mit seinen Schutzherrschaften prägt ihm den Stempel eines Reiches auf, das – von Gemeinschaft der Rasse und Nationalität ganz zu schweigen – nur zu einem Teil auf Gleichheit der Sitten und Einrichtungen, zu einem anderen aber auf Herrschaftsbeziehungen aufgebaut ist. Nicht der Regierungsform, wohl aber seiner Zusammensetzung nach ist Frankreich ein Imperium. Die französischen Socialisten haben die Politik bekämpft, die dahin geführt hat, aber wenn es darauf ankäme, ihre Ergebnisse wieder ungeschehen zu machen, so würden sie sich die Sache wahrscheinlich sehr überlegen und mindestens mit Unterscheidungen vorgehen. Jedenfalls denkt die Republik heute nicht daran, sich ihrer Colonieen zu entäussern.

Soviel über Frankreich, dessen Reichsprobleme zu erörtern nicht in den Rahmen dieses Artikels fällt. Was England betrifft, so ist es in dem vorentwickelten Sinne schon lange ein imperialistischer Staat. Der englische Sprachgebrauch, der stets nach Genauigkeit strebt, unterscheidet streng zwischen dem Vereinigten Königreich, das nur England und Wales, samt Schottland und Irland, umfasst, und dem britischen Reich – the british empire – , das das Vereinigte Königreich mit all seinen auswärtigen Besitzungen umspannt. 1876-77 versinnbildlichte Disraeli das letztere, als er der Königin von England die indische Kaiserkrone aufs Haupt drückte. Zu gleicher Zeit, dominierte in England jedoch die Anschauung, dass gerade die englischen Auswanderercolonieen nur ein zeitweiliges Anhängsel des britischen Reiches bildeten, und dieses Anhängsel ward von vielen britischen Staatsmännern und Ökonomen als kein sehr vorteilhaftes Besitztum empfunden, sondern als eine Last – „ein Mühlenstein um unseren Hals“, wie Disraeli sich einst ausdrückte. Allgemein nahm man an, dass das Beispiel der Vereinigten Staaten das typische Vorbild für die politische Entwickelung aller englischen Colonieen abgäben, das heisst, dass jede von ihnen, wenn sie zu genügender Ausbildung gediehen, ihre Verbindung mit dem Mutterland lösen werde. [2]

Dieser Auffassung, die der damals alles beherrschenden Manchesterlehre entsprach, ist es auch zuzuschreiben, dass Generationen hindurch nicht der geringste Versuch gemacht wurde, die Colonieen organisch mit dem Mutterlande zu verbinden. Hierin besteht einer der charakteristischen Unterschiede zwischen der französischen und der englischen Colonialverwaltung. Frankreich giebt seinen Colonieen wenig oder gar keine Selbstregierung, aber eine Reihe von ihnen sind im französischen Parlament durch eigene Abgeordnete vertreten. Im englischen Parlament, das sich gern imperial parliament nennen lässt, sitzt nicht ein Abgeordneter der imperial colonies; autoritative Stimme hinsichtlich der Colonieen hat da nur der Colonialminister (bezw. der Staatssecretär für Indien und, für gewisse Kroncolonieen, der Staatssecretär des Auswärtigen Amts). Dafür haben aber die englischen Colonieen mit starker weisser Bevölkerung eine so weitgehende Selbstregierung, dass das Bedürfnis, im Parlament zu Westminster vertreten zu sein, für sie ein minimales ist. Der Zusammenhang ist ein so loser Föderalismus, wie man sich nur irgend denken kann.

Aber es ist auch ein durchaus unorganischer, unsystematischer Föderalismus, das Product des extremen Gegensatzes zu der französischen Neigung zum Schematisieren. Wenn es je einen Zickzackcurs gegeben hat, so in der Colonialpolitik Englands. Nur der Unfähigkeit, Zerrüttung und Schwäche der festländischen Mächte ist es zuzuschreiben, dass dieser Zickzackcurs nicht an allen Ecken und Enden zu Niederlagen und Katastrophen geführt hat. Aber die Zeit ist vorbei, wo England es sich leisten durfte, colonialpolitische Böcke zu schiessen.

Der heutige englische Imperialismus ist zum Teil Gegenwehr gegen die Expansions- und Ausschliessungstendenzen der schutzzöllnerischen Grossstaaten und insofern eine Notwehr zu gunsten des Freihandels, deren Alternative Aufgabe des Freihandels und Übergang zu Schutz- oder Kornzöllen wäre. Zum anderen Teil aber ist er eine Reaction gegen das administrative Manchestertum in der Colonialverwaltung, eine Bewegung zur Herstellung eines rationellen, systematisch organisierten Reichsföderalismus.

Die Methoden, mit denen das erstere Ziel zu verwirklichen gesucht wird, also die eigentliche Expansionspolitik, fordern selbstverständlich die stärkste Controle der Socialisten heraus, aber im Princip lässt sich nicht viel dagegen sagen, dass England ein möglichst weites Gebiet der unbesetzten Welt dem Freihandel zu reservieren sucht. Die socialistische Kritik war denn auch in den letzten Jahren gerade den Unternehmungen gegenüber, die in diese Rubrik fallen, ziemlich lau. Wir sehen da natürlich von den paar Sonderlingen ab, welche sich einbilden, man könne durch Aufhalten dieser Entwickelung den grossen Zusammenbruch der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung herbeiführen. Die Consolidierung der Siedelungen am Niger zu einer regelrechten Reichscolonie hat z.B. wenig oder gar keine Opposition seitens der englischen Socialisten erfahren. Vor die Wahl gestellt, zwischen concessionierten capitalistischen Colonialunternehmungen (sogenannten Chartered Companies) und Reichscolonieen zu entscheiden, – und das ist heute die wirkliche Alternative – werden die Socialisten heute überall da den letzteren den Vorzug geben, wo die Reichsverwaltung nicht politische Grundsätze und Verwaltungsmethoden vertritt, die entwickelungsfeindlicher sind, als die Wirtschaft von capitalistischen Conquistadoren.

Die andere Seite des modernen britischen Imperialismus, die Bewegung zur organischen Verbindung des Reichs mit seinen sich selbst verwaltenden Colonieen, hat aus verschiedenen Gründen auf sympathische Beurteilung seitens der Socialdemokratie Anspruch.

Man kann allerdings zweifeln, ob es möglich sein wird, die in ihrer socialen Zusammensetzung und Wirtschaftstendenzen so verschieden gearteten Colonieen dauernd und mit Erfolg in einen engeren Verband mit dem Reich zu bringen. Indes, dieser Zweifel trifft wesentlich die Idee des Reichszollverbandes, die zwar ursprünglich von verschiedenen Leuten mit der Reichsverbandsidee verbunden ward, aber heute von der Tagesordnung abgesetzt, ist. Das heutige Programm der Reichsverbandsbewegung umfasst die Fragen der. Vereinheitlichung der höchsten Verwaltungs- und Rechtsinstanzen, eine bessere Systematik in der Verteilung der Aufgaben zwischen Reich und Colonieen, sowie eine directe Vertretung der Colonieen im Reichsparläment.

All das verleiht dem heutigen britischen Imperialismus einen stark demokratischen, freiheitsfreundlichen Zug, denn die hier in Frage kommenden Colonieen vertreten eine entwickeltere Demokratie, eine vorgeschrittenere Socialpolitik, wie das Mutterland. Bis in die äusserste Linke hinein, unter radicalen Socialreformern und Socialisten, hat er seine entschiedenen Anhänger. Andere stellen sich ihm in ähnlicher Weise gegenüber, wie die Socialdemokratie sich grundsätzlich zu den gewerblichen Trusts stellt: kritisch, aber nicht absolut negierend. Sie erblicken in der Ausdehnung der Machtsphäre der Grossstaaten ein ebenso unvermeidliches Product moderner Entwickelung und insbesondere der modernen Verkehrsverhältnisse, wie in der Ausdehnung der rein gewerblichen Unternehmungen. Schliesslich giebt es aber auch viele, die im Imperialismus lediglich den Nährer militaristischer Tendenzen erblicken und von ihm politisch reactionäre, antidemokratische Rückwirkungen befürchten, und die ihn deshalb in jeder Form bekämpfen zu müssen glauben. Eine Auffassung, die meines Erachtens nur so lange aufrecht zu erhalten ist, als die Socialdemokratie zu schwach ist, um irgend welchen bestimmenden Einfluss auf die thatsächliche Gestaltung der Dinge auszuüben.

Wie gegenüber den gewerblichen Trusts, kann auch den politischen Reichsverbänden gegenüber die Haltung der Socialdemokratie nicht unter allen Umständen die gleiche sein, sondern wird sich nach deren. Formen, Rechtsgrundlagen und Methoden zu richten haben. Welches wird, dies vorausgesetzt, ihre Stellung zum heutigen deutschen Imperialismus sein müssen?

Die Frage wird in einer soeben erschienenen Schrift des bekannten Gründers und Führers der nationalsocialen Belegung in Deutschland, Fr. Naumann, eingehend und eindringlich erörtert. [3] Herr Naumann sucht da die deutsche Demokratie, insbesondere ihren stärksten Flügel, die Sozialdemokratie, von der Notwendigkeit einer Unterstützung der imperialistischen Politik des deutschen Kaisers im allgemeinen und der gegenwärtigen Flottenvorlage im besonderen zu überzeugen. Er thut es, wie man ihm zugeben muss, mit außerordentlichem Geschick. Es ist eine im hohen Grade plausible Arbeit, die in schöner, wohlgeordneter und übersichtlicher Darstellung. so ziemlich alles enthält, was sich zu gunsten der von ihrem Verfasser vorgeschlagenen socialistischen Realpolitik überhaupt wird sagen lassen, mit eindrucksvoller, aber von Declamation freier Wärme vorgetragen, ebenso reich an anregenden Gedanken, wie an instructivem Thatsachenmaterial. All das rechtfertigt ihren Anspruch auf eingehende Besprechung.

Die Grundthese des Herrn Naumann ist, dass, wenn die Reichsregierung oder ihr Haupt, der deutsche Kaiser, sich heute noch auf die Conservativen stützt; wenn die im Wirtschaftsleben der Nation immer mehr zurücktretende Classe der preussischen Junker immer wieder dazu kommt, in der Reichspolitik und mehr noch in der Regierung des grössten deutschen Staates, Preussen, entscheidend mitzureden; wenn die politische Entwickelung Deutschlands mit seiner wirtschaftlichen nicht Schritt hält, sondern hinter ihr zurückbleibt, ja, Rückschritte macht; wenn im Gegensatz zum industriellen Fortschritt politischer Stillstand oder Rückschritt herrscht – dies zu einem grossen Teil der negierenden Haltung zuzuschreiben ist, welche die demokratischen Parteien in Deutschland den Anforderungen einer starken und weitschauenden auswärtigen Politik entgegensetzen. Diese, nach Naumann, doctrinäre Negierungspolitik der demokratischen Parteien nötige den Kaiser, der die weiteren nationalen Interessen wahrzunehmen habe, die Unterstützung der Junker und ihres Anhanges zu erkaufen, die nur um den Preis von reactionären Massregeln im Innern und Belastungen der Volksmasse zu gunsten jener Classen zu haben sei. Ehe hierin kein Wandel eintrete, sei auf Besiegung der Reaction in Deutschland nicht zu rechnen. Also nationaler Socialismus! Sache der Reichsregierung aber sei es, durch Verzicht auf alle kleinlichen Hemmungen und Belästigungen der Arbeiterbewegung einen solchen nationalen Socialismus möglich zu machen.

Man müsste blind sein, wollte man verkennen, dass in diesem Raisonnement ein Kern von Wahrheit steckt. Indes ist dieser Kern von Wahrheit noch kein Grund, darum das ganze Raisonnement mit seinen Schlussfolgerungen, zu acceptieren. Es erheischt nur desto schärfere Prüfung.

Dass der deutsche Kaiser die deutschen Arbeiter für seine nationale Politik zu gewinnen wünscht und für diesen Zweck zu manchen Zugeständnissen bereit wäre, wird man Herrn Naurnann ohne weiteres glauben dürfen. Es wäre Widersinn, das Gegenteil anzunehmen. Die Frage ist hier nicht die des guten Willens, sondern die der Macht zu socialen Reformen und der Höhe und Natur der Gegenforderungen. Steht das, was der Kaiser den deutschen Arbeitern geben kann, im Verhältnis zu dem, was er von ihnen verlangt oder verlangen müsste? Um eine demokratisch-arbeiterfreundliche Politik durchzuführen, müsste der Kaiser mehr thun, als nur mit den ostelbischen Junkern brechen. Er hätte in einem solchen Moment alle jetzigen wirtschaftlich-reactionär und conservativ disponierten Parteigänger dieser mitsamt den Grossindustriellen und deren Gefolge gegen sich. Denn eine derartige Politik, sofern sie nicht in blossen Besänftigungspillen bestehen soll, müsste eben auf allen Gebieten entschieden auf den socialen Fortschritt gerichtet sein, in der engeren Socialpolitik, wie im Schulwesen, in. der Austeilung der politischen Rechte, wie in der Finanz-, Zoll- und sonstigen Verwaltungspolitik. Das steht aber ausserhalb der Macht des Kaisers. Und zwar nicht nur wegen der socialen Kraft, welche die Coalition der aufgezählten Schichten repräsentieren würde! Der würde gegebenenfalls in der That eine Coalition von Socialisten, Demokraten und sonstigen Reformfreunden gegenübergestellt werden können, die als „eine progressistische Masse“ jener wohl das Haupt bieten könnte Nicht hier liegt die grösste Schwierigkeit. Deutschlands sociale Zusammensetzung und der Höhegrad seiner intellectuellen Entwickelung ist einer derartigen Coalition nicht ungünstiger, als die Frankreichs und anderer Länder. Ja, insoweit hat Naumann meines Erachtens durchaus recht, dass das Zustandekommen einer solchen geschlossenen Coalition unter Umständen eine Lebensfrage für die freiheitliche Entwickelung Deutschlands – um es crass auszudrücken, die Frage werden kann, ob unverfälschte Reaction, gegen welche das jetzige Umsichschlagen der Junker und Dunkelmänner nur Kinderspiel ist, oder va banque auf der Strasse. Indes, wenn sich die Elemente zu einer solchen Partei der Linken zusammenfinden würden, würde der Kaiser mit ihr, in ihrem Sinne regieren vvollen oder regleren können? Selbst, wenn seine Sympathie in neun Zehnteln ihres Wirtschaftsprogramms auf ihrer Seite wären, so würde er doch nicht mit ihr gehen können. Er steht nicht als vom Himmel geschneiter Fürst über den Parteien, über den Classen. Er gehört selbst einer Classe an, er repräsentiert die Traditionen einer Classe, und diese Classe ist mit keiner intimer verwandt, als mit den ostelbischen Junkern. Mag er sich in seinem Regentenbewusstsein noch so sehr über ihren engen Horizont erheben, mag er für ihre wirtschaftlichen Schmerzen nur massiges Mitgefühl, für die meisten ihrer Idiosynkrasieen nur ein Achselzucken haben, so giebt es doch einen Punct, wo er sich durchaus als ihr natürlicher Alliierter fühlt. Seine Erlasse, seine Reden, seine Mottos sprechen es deutlich aus, er ist als Hohenzoller zuerst Vertreter des persönlichen Regiments, Standesherr, vornehmster Repräsentant des hohen, junkerlichen Adels. Wie modern er auch sonst denken mag, an diesem Erbe hängt er mit allen seinen Fasern, und darum ist jedes dauernde Bündnis zwischen ihm und der Linken eine Unmöglichkeit.

Ich gestehe es offen, für mich steht die Republik als blosse Form nicht so hoch, dass ich mir nicht eine regierungsfreundliche Socialdemokratie in einer Monarchie denken könnte. Aber dann müssten wenigstens die wesentlichen Institutionen des Landes, das Verfassungsieben, republicanisch, d.h. auf demokratischer Grundlage aufgebaut sein. Dazu fehlt aber heute in. Deutschland noch unendlich viel. Noch wird das Heer auf die Person des Kaisers und Königs, statt auf die Verfassung und die Volksvertretung, vereidigt. Noch wandern die Beschlüsse der Volksvertretung, die der Regierung nicht convenieren, in den Papierkorb. Noch ist das Reich ein Bund von Regierungen, die ihrerseits so undemokratisch sein mögen, als sie nur irgend wollen, ist es eine Republik nicht der Völker oder Parlamente, sondern der Fürsten, erblich präsidiert von einem Fürsten, in dessen Staat es der Arbeiterclasse unmöglich gemacht ist, ihre eigenen Vertreter in völlig freier Wahl in die Volksvertretung zu entsenden. Im ersten Staat des Deutschen Reiches herrscht das reactionärste aller Wahlsysteme und hält die Arbeiterclasse in der Lage von politischen Heloten.

Eine Partei von Privilegierten kann einer Regierung ruhig Machtmittel bewilligen, sobald sie dafür die Versicherung erhält, dass die Regierung ihre Privilegien schützen oder respectieren wird. Für die Arbeiterclasse aber liegt die Sache nicht so einfach. Sie kann durch Willfährigkeit in diesen Dingen ihre Position sehr verschlechtern. Denn dessen kann man sicher sein, dass in dem Augenblick, wo die Socialdemokratie sich bereit zeigte, Militär und Flotte zu bewilligen, es mit der Nörgelei der Junker und ihres Anhanges wider diese Forderungen vollständig vorbei wäre. Sie würden, sie müssten zeigen, dass sie mindestens so gute Patrioten sind, wie die Socialisten. und sobald diese eine Forderung stellten, die am Wesen des von Preussen ins Deutsche Reich herübergeretteten Halbabsolutismus ernsthaft rüttelte, wäre die Freundschaft der Regierung mit der Rechten sofort wieder hergestellt.

Naumann bestreitet, dass dies notwendig eintreten müsse. Der helle Blick des Kaisers, dessen Umgebung durchaus nicht so junkerlich sei, wie man meine, zeige ihm, dass die Zukunft seines Hauses nicht dort zu haben sei, wo die Grossagrarier nisten. Aber das ist eine Conjectur, die zusammenbricht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in solcher Situation, wie die hier vorausgesetzte, die Dienste der Junker für sehr viel weniger zu haben sein werden, als für eine Preisgabe der Welthandelsinteressen der deutschen Industrie.

Nein, unter den heutigen poltischen Verhältnissen Deutschlands kann die Socialdemokratie nicht mit den capitalistischen und Grundbesitzparteien im Bewilligen von Militär und Flotte concurrieren. Dem Imperialismus in Deutschland fehlt das Stück Demokratie, das dem heutigen englischen Imperialismus innewohnt, und wenn er in seinen Bemühungen um die Förderung von Deutschlands Welthandel eine dem socialen Fortschritt förderliche Sache vertritt, so thut er damit etwas, was in seiner Art jeder capitalistische Unternehmer auch thut. Es hindert ihn nicht, politisch reactionär zu sein.

Gewiss ist es für die massgebenden Vertreter der Reichsgewalt keine gleichgiltige Sache, dass eine Partei, die über zwei Millionen Wähler hinter sich hat, gerade in den das Heer und die Flotte betreffenden Fragen ihr grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Denn wenn man es auch jüngst gegen Erich Rother bestritten hat, so ist es doch thatsächlich der Fall, dass mit Bezug auf diesen Punct die Socialdemokratie zwar für solche Forderungen stimmt, die den Schutz der Soldaten betreffen, sonst aber sich in erster Linie durch politische, und nicht durch kriegstechnische Rücksichten bestimmen lässt. Sonst wäre es widersinnig, in der Flottenfrage einen Standpunct zu vertreten, der nur Ausgaben für den Küstenschutz, die äusserste Defensive, als berechtigt anerkennt. Es wäre die verkehrteste Sparsamkeit von der Welt.

Indem ich dies bemerke, will ich jedoch, um keines der beliebten Missverständnisse auf kommen zu lassen, hinzufügen, dass ich in wesentlichen Puncten von Rother abweiche und Naumanns Ausführungen zu gunsten der gegenwärtigen Flottenvorlage durchaus nicht für stichhaltig erachten kann. Ich gehe dabei von keinem verschwommenen Kösmopolitismus aus, sondern von jenem Standpunct, den ich in meiner Schrift über die Voraussetzungen des Socialismus entwickelt habe, d.h., dass ein gesunder Internationalismus nur auf Grundlage der Anerkennung nationaler Gemeinschaften möglich ist, und dass man infolgedessen gut national sein kann, ohne darum notwendig ein schlechter Internationaler zu sein. Die nationalen Einheiten grosser Völker, die wir als Imperien kennen, sind heute, im Zeitalter des Verkehrs, mehr als je notwendige Träger des wirtschaftlichen Fortschritts, wie sie die Vorstufen sind für die Verwirklichung der Idee des Friedensbundes der Völker. Selbst das römische Cäsarenreich hat bekanntlich unter diesem Gesichtspunct einen grossen geschichtlichen Fortschritt gebracht. Das Deutsche Reich ist also für die Socialdemokratie meines Erachtens nicht etwa bloss eine Thatsächlichkeit, in die sie sich schickt, sondern als umfassendes Gemeinwesen etwas sehr Schätzenswertes. Zugleich verkenne ich nicht, dass wir heute poch nicht so weit sind, lediglich von der Einsicht und brüderlichen Gesinnung die Sicherung des Friedens zu erwarten, sondern seine Verbürgung zugleich in der Erhaltung der Wehrfähigkeit suchen müssen.

Indes, alles hat seine Grenzen. Naumann malt behufs Verteidigung des Flottenplanes Gefahren an die Wand, die thatsächlich nicht bestehen, Von dem Zustandekommen der Flottenvermehrung ist die Entwickelung des deutschen Welthandels ganz und gar nicht abhängig. Der deutsche Welthandel hat sich ohne grosse Kriegsflotte zu seiner jetzigen Stärke entwickelt und wird daher auch in Zukunft wachsen, auch wenn er nur eine massige Kriegsflotte hinter sich hat. Er ist nicht in Defensivstellung und hat von. England, auf das Naumann verweist, nichts zu fürchten. Nicht, weil die Engländer besonders edle Wesen wären und ausnehmend wohlwollend auf Deutschland blickten, sondern, weil England gar nicht in der Lage ist, eine Deutschland-schädigende Ära der Handelsbeschränkungen einzuleiten. „Wo die Macht ist, dahin rinnen die Güter“, sagt Naumann. Das mag für die reine Eroberung stimmen, aber nun und nimmer für die auf Grund der Industrie ausgebildeten modernen Handelsbeziehungen. „Wenn England die Führung des Welthandels hat und behält, so nimmt es unsere Arbeit und bezahlt uns dafür nach seinem Wohlgefallen“, fährt Naumann fort. Hierauf ist es erlaubt, mit der Katechismusfrage zu antworten: „Wie geschieht das?“ Wenn England jemals den Welthandel in einer solchen Weise beherrschte, um ihm in der Weise; die hier unterstellt wird, die Preise zu dictieren, so sind diese Zeiten für immer vorbei. Und wenn Naumann ferner das Schreckgespenst einer möglichen Sperrung oder Bezollung des Seewegs von Gibraltar und Suez durch England heraufzaubert, so verliert dies Argument alle Kraft durch die Erwägung, dass an der Freiheit dieser Handelswege alle Nationen gleichmässig interessiert sind und England nicht erlauben werden, sie in sein Monopol zu ververwandeln. Ganz abgesehen davon, dass noch kein Mensch in England je an dergleichen gedacht hat.

Es ist gerade das Bedenkliche an der ganzen jetzigen deutschen Flottenbewegung, dass sich ihre Spitze gegen England richtet, gegen diejenige Seemacht, die in ihrer Handels- und Colonialpolitik die liberalsten, fortschrittlichsten Principien Vertritt. Das muss jeden Freund freiheitlicher Entwickelung von vornherein stutzig machen. Ich will dabei England nicht idealisieren und nicht verkennen, dass immerhin Conflicte mit ihm denkbar sind, wo der Appell an das formale Recht nicht ausreicht. Aber die Gefahr solcher Conflicte ist nicht grösser, sondern geringer, als die eines Conflicts mit irgend einer anderen Handelsmacht, und kann durch eine verständige, progressivistische Handelspolitik mit entsprechenden Verträgen auf ein Mindestmass reduciert werden.

Die Naumannschen Argumente zu gunsten des jetzigen Flottenplans sind so wenig überzeugend, dass man sich des Gedankens nicht entschlagen kann, ein so gescheidter Mann müsse neben ihnen noch andere Gründe für seine Unterstützung desselben haben, die er aus gewissen – meinetwegen durchaus achtungswerten – Gründen nicht auszusprechen wünscht. Dass er und seine Freunde z.B. eine Intervention der „gepanzerten Faust“ Deutschlands zu gunsten der Transvaalboeren sehr gern gesehen hätten, ist sicherlich keine aus der Luft gegriffene Unterstellung, und andere Flottenfreunde haben sich darüber mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit ausgesprochen. Ich will auch unumwunden gestehen, dass ich eine Parteinahme für die Boeren aus nationalen Gründen eher verstehen kann, wie eine solche aus Gründen demokratischer Rechtsauffassung. [4]

Indes betreten wir gerade mit dieser Frage ein Gebiet, wo die Gewährung von Machtmitteln an eine Regierung eine Sache des Vertrauens ist – des Vertrauens nicht nur in ihren guten Willen, den industriellen und commerciellen Fortschritt der Nation zu fördern, sondern auch in die Fähigkeit, sich selbst dann zu keinen Übereilungen und politischen Abenteuern hinreissen zu lassen, wenn einmal diese Machtmittel in ausreichend erscheinendem Masse vorhanden sind. Ob die deutsche Socialdemokratie berechtigt ist, der deutschen Reichsregierung jenes Vertrauen zu schenken, ist eine Frage, die sich Naumann selbst beantworten mag.

Die Socialdemokratie ist in eminentem Sinne eine Partei des Friedens, sie würde einer ihrer vornehmsten Aufgaben untreu werden, wenn sie darauf verzichtete, Hüterin des Friedens und des Vertrauens der Völker zu einander zu sein. Wie kann sie in einem Lande, wo das persönliche Regiment noch so stark ist, dieser Aufgabe gerecht werden, wenn sie Rüstungen bewilligt, die mindestens von einem grossen und einflussreichen Teile der Nation als Mittel zu anderen Zwecken betrachtet werden, und ihr jede gesetzliche Handhabe fehlt, einer solchen Verwendung vorzubeugen? Die gegenwärtige Flotten vorläge überschreitet die Bedürfnisse einer lediglich auf Erhaltung des Friedensgerichteten Politik, sie ist, wie Naumann selbst erklärt; auf Entfaltung von Macht gerichtet. Macht kann ein Friedensfactor sein, aber sie muss es nicht sein.

Naumann beruft sich darauf, dass die Flotte ein demokratischeres Institut sei, wie das Heer, und ehedem gerade eine Forderung der Demokratie gewesen sei. Gewiss, und man kann die Flotte nicht in gleicher Weise, wie das Heer, gegen das Volk verwenden. Aber dafür entzieht sich die Verwendung der Flotte mehr, wie die des Heeres, der demokratischen Controle, ist die Flotte in höherem Grade, wie dieses, den persönlichen Dispositionen des obersten Kriegsherrn unterworfen.

So lange das deutsche Kaisertum, in dessen Händen die Vertretung der Nation nach aussen ruht, in seinem ganzen Wesen undemokratisch bleibt, heisst nationale Politik in dem Sinne, wie Naumann sie versteht, Preisgabe der Demokratie um möglicher, aber nicht einmal sicherer kleiner Vorteile willen. Darauf kann die Socialdemokratie es nicht ankommen lassen. Ihre Aufgabe ist die Erkämpfung der Demokratie, und nur in dem Masse, als sie durch das Mittel demokratischer Einrichtungen ihren Einfluss auf die Führung des Landes zu erweitern, ihn aus einem präventiven in einen directiven zu verwandeln im stände ist, wird sie der äusseren Politik freier gegenübertreten können. Einstweilen kann sie nur einen präventiven Einfluss in der Reichspolitik ausüben, und das bestimmt, soweit er sich nicht aus ihren allgemeinen Principien ergiebt, den Massstab, mit dem sie den Flöttenplan und ähnliche Forderungen des deutschen Imperialismus misst.




Fußnoten

1. „Unter seiner Herrschaft erreichte, die Bourgoisgesellschaft ... eine von ihr selbst nie geahnte Entwickelung. Ihre Industrie, ihr Handel dehnten sich zu unermesslichen Verhältnissen aus.“ Die Ausdehnung, welche die Industrie Frankreichs 1870 erlangt hatte, erscheint luns heute als ziemlich mässig. Frankreich war 1870 noch immer vorwiegend Landwirtschaft treibendes Land, und in seiner Industrie spielten Klein- und Mittelbetriebe bei weitem die Hauptrolle.

Superlative sind selbst bei den besten Tendenzschriften immer verdächtig. Liest man die beiden citierten Broschüren, so stösst man mitten unter ihren wahrhaft elastischen Ausführungen auf Sätze, die sich als Vorwegnähmen einer selbst heute noch nicht verwirklichten Entwickelung herausstellen. Im Achtzehnten Brumaire wird der bäuerliche Grundbesitz Frankreichs als die „überlebte“, von der Hypothek erdrückte, den „Todeskampf“ führende „Parcelle“ hingestellt. Heute nach zwei Generationen, atmet die erdrückte Parcell noch immer nicht den letzten Seufzer. Übrigens giebt Marx schon in Herr Vogt ein viel realistischeres Bild von der agrarischen Bevölkerung Frankreichs.

2. John Morley erklärte es für die grösste Unwahrscheinlichkeit, dass der austrasiche Colonialverband in menschlich absehbarer Zeit, wenn überhaupt je, zu stande komme, und dass die australischen Viehzüchter und die canadischen Holzhändler je auch nur einen Penny für Reichszwecke in Südafrica ausgeben würden. Die Gegenwart zeigt, wie voreilig diese Prophezeiung des manchesterlichen Positivisten war.

3. Fr. Naumann: Demokratie und Kaisertum, Berlin-Schöneberg 1900; Buchverlag der Hilfe.

4. Geradezu komisch macht es sich z.B., wenn Leute, die sonst nicht genug Wesens von ihrem Revolutionarismus machen können, mit den conservativsten Blättern in Entrüstung über den Jamesonschen Überfall wetteifern. Nicht minder widerspruchsvoll ist es, wenn Socialisten und Radicale jenen englischen Arbeitern applaudieren, die erklärten, sie hätten in Transvaal gute Löhne bekommen und folglich kein Interesse an Wahl- und Bürgerrecht gehabt.


Zuletzt aktualisiert am 6.1.2009