Eduard Bernstein

 

Die Entwickelung der Agrarverhältnisse in England

(1897)


Ursprünglich: Probleme des Sozialismus, Teil 4, Die Neue Zeit, XV. Jg. 1. Bd, Nr.25, S.772-782.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.2, Berlin 1904, S.41-57.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Von welcher Bedeutung es für jede Theorie ist, sich über den Gang der thatsächlichen Entwicklung jederzeit unterrichtet zu halten, bedarf keiner weitläufigen Begründung. Die Anekdote von dem Arzte, der einen von ihm aufgegebenen, aber trotzdem am Leben gebliebenen Patienten kategorisch erklärte: für die Wissenschaft sind Sie tot, ist nicht nur für voreilige Jünger Äsculaps eine Warnung.

Keinem Zweige wirtschaftlicher Bethätigung ist so oft der hippokratische Zug abgelesen worden, wie der west- und mitteleuropäischen Landwirtschaft. Aber sie ist darum doch noch nicht gestorben. Ebenso wenig freilich waren die Thatsachen, auf die hin ihr totaler Ruin prophezeit wurde, aus der Luft gegriffen oder blosse Kleinigkeiten. Sie sind nicht spurlos an dem Patienten vorübergegangen, sondern haben tiefe Furchen auf seinem Antlitz zurückgelassen. Es ist daher immer noch die Frage, ob seine Lebensfähigkeit wirklich nur vorübergehend oder nicht doch endgiltig untergraben wurde, ob nicht nur dank der besonderen Zähigkeit seiner Constitution und der Anvrendung von gewissen Kunstmitteln der Eintritt der Katastrophe etwas weiter hinausgeschoben werden konnte, als vorhergesehen.

Zur Untersuchung dieser Frage ist nun vielleicht kein Land geeigneter, wie England. Die englische Landwirtschaft ist den Angriffen jener für tödlich erachteten Factoren stärker ausgesetzt gewesen und noch ausgesetzt, wie die irgend eines anderen Landes, und sie hat sich ohne das Hauptkunstmittel helfen müssen, durch das die deutschen und französischen Landwirte die Concurrenz der neuaufgeschossenen landwirtschaftlichen Exportländer zu neutralisieren oder wenigstens abzuschwächcn gesucht haben. Die Masse der grossen Bevölkerungscentren und Industriebezirke Deutschlands liegen abseits der Seehäfen, Englands grösste Städte aber liegen – von Birmingham abgesehen – sämtlich entweder direct an der See resp. an von Seeschiffen befahrenen Flüssen, oder aber in der Nachbarschaft grosser Seehäfen; seine Hauptstadt ist zugleich sein Hauptstapelplatz des Seehandels, die Hauptlagerstätte der Producte von aller Herren Länder. Rechnet man die Bewohnerschaft von London, Liverpool, Glasgow, Edinburg, Aberdeen, Newcastle, Hull, Southampton, Bristol, Cardiff kurz, aller Seeplätze Grossbritanniens zusammen, so erhält man ein Conglomerat von Menschen, das sich auf zwischen einem Drittel und der Hälfte der Gesamtbevölkerung des Landes beläuft. Kein europäischer Staat hat ein gleiches Verhältnis aufzuweisen. Frankreich bleibt in dieser Hinsicht weit hinter England zurück, von Deutschland gar nicht zu reden. England ist der Nahrungsmittelconcurrenz des Auslandes auf der ganzen Breitseite preisgegeben, es ist die bequemste Abladestätte für den jeweiligen Productenüberschuss aller Länder und damit für den jeweiligen Überschuss an Producten aller Kategorieen, da, was das eine Land nicht zu viel hat, gewöhnlich irgend, ein anderes in Masse auf den Markt wirft. Kein Zweig der Landwirtschaft, von dem man sagen könnte, dass er dem englischen Landwirt eine gesicherte Zufluchtsstätte vor Concurrenten böte, keine Specialität, die nicht mindestens von einem Concurrenten Englands unter besonders günstigen Bedingungen produciert würde. Es ist kaum übertrieben, zu sagen, dass Englands Landwirtschaft seit langem das Versuchstier für alle möglichen Concurrenzexperimente der ganzen Welt ist. Das Minimum von staatlichem Schutze vereint sich mit einem Minimum geographischer Schutzwehren, um der fremden Ware eine Angriffsfläche freizuhalten, wie sie in gleichem Umfange nirgends anderswo zu finden ist.

Es ist unter diesen Umständen leicht zu begreifen, dass die englischen Landwirte seit mehr als einem halben Menschenalter ihres Lebens nicht recht froh geworden sind. Weniger zu begreifen ist, wie sie die ihnen von den verschiedensten Seiten erteilten Schläge so lange haben aushalten können, und dass gerade die englische Landwirtschaft jetzt die Krise zum grössten Teil überstanden haben, wiederum auf gesunder Basis stehen soll.

Letzteres wird nämlich in einer Schrift behauptet, die sich betitelt: Die Lage der englischen Landwirtschaft unter dem Drucke der internationalen Concurrenz der Gegenwart und Mittel und Wege zur Besserung derselben. [1] Ihr Verfasser, Dr. F.Ph. König, ist ein Fachmann, der verschiedene der Hauptländer landwirtschaftlicher Grossproduction bereist hat. Er ist, trotz seines deutschklingenden Namens, ein Engländer und giebt das auch deutlich zu erkennen. Seine Arbeit ist nicht frei von Wiederholungen und bedenklichen Widersprüchen, aber sie bietet eine grosse Fülle beschreibenden und statistischen Materials über die landwirtschaftlichen Verhältnisse Englands. Wie die englischen Agrarclassen von der Concurrenz Americas, Australiens, Russlands etc. betroffen wurden und wie sie sich ohne die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Staates mit ihr abzufinden gesucht haben, das wird in anschaulicher Weise vom Verfasser geschildert. Ein Mangel ist, dass der Verfasser seine Massbegriffe nicht bestimmt abgrenzt, so dass wir, wenn er Ausdrücke wie grössere Güter, kleinere Güter braucht, manchmal aufs Raten angewiesen sind, ob es sich um grössere oder kleinere im Verhältnis zum allgemeinen Durchschnitt oder zur gerade zuletzt besprochenen Classe von Gütern handelt, wobei dann immer noch, selbst wenn wir über diesen Punct im Reinen sind, der falschen Schätzung ein zu grosser Raum gelassen bleibt. All das veranlasst unnötige Unterbrechungen beim Lesen des, wir wiederholen, an informierendem Material sehr reichen Buches. Da es seinen Gegenstand lediglich aus wirtschaftspolitischen Gesichtspuncten behandelt, so kommt das socialpolitische Moment nur sehr beiläufig zur Behandlung. Die „Landwirtschaft“ ist für Herrn König die Sache der Gutsbesitzer und Pächter, und der Landarbeiter kommt eigentlich nur insoweit in Betracht, als es sich um den Preis seiner Arbeit für den Unternehmer auf dem Lande handelt.

Es ist nun allerdings so viel richtig, dass sich im letzten Jahrzehnt die Agrarfrage in England nicht um den Landarbeitet gedreht hat. Die Leichtigkeit des Auswanderns und die Abgüsse in Städte oder ländliche Industriebezirke haben im ganzen die Wirkungen der verminderten Arbeitsgelegenheit für den Landarbeiter ausgeglichen, so dass zwar die Zahl der Landarbeiter – ihre Proportion zur Gesamtbevölkerung – erheblich gefallen ist [2], die Löhne und Arbeitsbedingungen der in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter aber im ganzen eher eine Verbesserung erfahren haben. Der Preisfall der Agrarproducte hat die Kaufkraft der Löhne erhöht, und diese selbst haben nur in vereinzelten, ganz besonders ungünstig situierten Grafschaften einen Rückgang erfahren. Vor allem in der vorwiegend agrarischen Grafschaft Norfolk, die von der Krisis am härtesten betroffen wurde. In Norfolk sind die Landarbeiter verhältnismässig gut organisiert, jedenfalls besser als irgendwo anders in England, aber gegen eine Krisis, die Tausende von Acres guten Weizenlandes brach gelegt und den Grund und Boden so entwertet hat, dass Grundstücke zu Preisen verkauft werden mussten, die nicht einmal den Taxwert der auf ihnen stehenden Gebäude deckten, vermag auch die beste Gewerkschaft nicht aufzukommen. Immerhin sind die Löhne nicht entfemt im Verhältnis der Preise gefallen; ehe der leistungsfähige Arbeiter heute unter einen bestimmten Satz der Lebenshaltung heruntergeht, wandert er aus, – sei es in die Stadt oder in irgendwelche überseeische Colonie, das ist bis auf weiteres das „eherne Lohngesetz“ der englischen Landwirtschaft. Trotz im ganzen verminderter Arbeitsgelegenheit herrschte auf dem Lande eher Arbeitsmangel, welcher Umstand vielfach die Grundbesitzer zur Verbesserung der Arbeiterhäuser genötigt hat. In manchen Districten noch jammervoll schlecht, sind die „Cottages“, wie auch die Red Van-Agitatoren anerkannt haben, heute vielfach solide Backsteinhäuser mit allerhand modernen Einrichtungen. Die Häuser mit entsprechendem Stück Garten werden dem Arbeiter meist umsonst oder zu einer nominellen Rente zur Verfügung gestellt, was bei Lohnvergleichen natürlich zu berücksichtigen ist. Zu dem Gartenstück pachten viele Arbeiter, wo die Bedingungen nicht allzu ungünstig sind, kleine Ackerstücke (Parcellen, Allotments) hinzu. Das neue Kirchspielvertretungsgesetz enthält bekanntlich Bestimmungen, die den Arbeitern die Erlangung guter Parcellen zu mässigen Pachtsätzen sichern sollen, doch sind diese Bestimmungen so verclausuliert, dass sie im ganzen noch wenig ausgenutzt werden konnten. Die Grundbesitzer und Pachtunternehmer sind aus begreiflichen Gründen keine Freunde des Gesetzes. Bewirtet der Arbeiter ein zu grosses Stück Land für eigene Rechnung, so beeinträchtigt das seine Arbeitsfähigkeit innerhalb der gekauften Arbeitszeit. Diese Arbeitszeit ist im allgemeinen geringer wie früher, dafür wird aber vielfach, so angängig, Accordarbeit eingeführt. So ziemlich alle Fachleute stimmen darin überein, dass der englische Landarbeiter im Durchschnitt heute entschieden besser daran ist als der Zwergbauer in England und anderwärts. Er ist geistig bedutend selbständiger, wie früher, und weiss sich sehr gut über die Lage des Marktes unterrichtet zu halten. Was natürlich nicht ausschliesst, dass nicht in zurückgebliebenen Districten und wo persönliche Rücksichten den Arbeiter an die Scholle binden, noch arge Knechtschaftsverhältnisse obwalten.

Interessant und zur Richtigstellung der auf dem Festland vorherrschenden Anschauungen über die englischen Agrarverhältnisse sehr geeignet sind folgende Zahlen der 1891er Volkszählung.

Es gab 1891 in England und Wales:

Selbständigc Landwirte aller Art (Pächter und Bauern)

223.610

Auf der Farm thätige Söhne, Neffen etc. von Landwirten, im Alter von über fünfzehn Jahren

67.287

Gutsinspectoren und Verwalter

18.205

Landarbeiter, Gutsknechte, Kutscher etc.

759.135

Schäfer

21.573

Gärtner, Baumschularbeiter, Saatgärtner

179.336

Mit der Behandlung von Tieren beschäftigte Personen (Melkknechte. Scherer etc.)

26.574

Sonst in der Landwirtschaft thätige Personen

16.001

Total

1.311.720

Darnach stehen also etwas über einer Million im Lohnverhältnis stehender Personen 300.000 für eigene Rechnung od. die ihrer Eltern etc. thätige Personen gegenüber – eine Proportion, die noch recht weit von der Vorstellung entfernt ist, die nur Grosscapitalisten und Landproletarier in der englische Landwirtschaft kennt.

In Schottland und Irland ist das Verhältnis der Zahl der Farmer und Farmerssöhne zur Zahl der gegen Lohn Arbeitenden noch sehr viel grösser (in Irland überwiegt sie im Verhältnis von mehr als zwei zu eins), so dass für das Vereinigte britische Königreich eine Million Farmer und Farmersöhne gegen ein und eine halbe Million im Lohnverhältnis Arbeitende stehen. Die Zahl der Farmer alle beträgt 694.945, so dass, wenn wir selbst sämtliche Farmersöhne zur Kategorie der um Lohn Arbeitenden schlagen, eine Proportion von 7 zu 18 herauskommt. Sieben selbständig Landwirte gegen achtzehn Angestellte!

Natürlich ist das „selbständig“ in den meisten Fälh nur nominell. Die Masse der irischen, sehr viele schottische und viele englische Kleinpächter sind thatsächlich nur ländliche Stücklohnarbeiter, stehen zum Grossgrundbesitzer in ähnliche Verhältnis wie die Masse der selbständigen Handwerker zu Fabrikanten oder Grosskaufmann. Aber daneben giebt doch noch immer einen Stamm wirklich selbständiger Pachter oder Kleingrundbesitzer, und selbst das Abhängigkeitsverhältnis thut man gut, sich nicht zu übertreiben.

Eine der Haupt Wirkungen der Agrarkrisis in England war die, dieses Abhängigkeitsverhältnis zu lockern oder gar zu verschieben. Das Buch des Herrn König bringt eine überwältigende Fülle von Beispielen, wo die Landlords lieber die grössten Opfer gebracht, auf jeden Reinertrag ihrer Güter verzichtet haben, als sich den Stamm ihrer Pächter entgehen zu lassen. Selbst wenn man annehmen wollte, dass er tendenziös übertreibt – und er sieht in der That die Dinge oft durch die Brille der Landlords – würde die politische Geschichte Englands von dieser Verschiebung erzählen. Einst war die Masse der englischen Pächter liberal, die liberale Partei vertrat ihr Interesse gegen die Grundbesitzer. Heute sind sie in ihr Masse conservativ, denn der Interessengegensatz ist zur Zeit so gut wie verschwunden. Die Liberalen stützen sich denn auch im wesentlichen immer mehr auf die Landarbeiter, schneiden ihre Agprarpolitik immer mehr auf diese Classe zu. Es ist erstaunlich, und ein Zeichen, wie conservativ in ihren Argumenten oft gerade die radicalsten Parteien sind, dass man selbst in England heute noch Socialisten findet, die ihre Kritik der liberalen Partei der Litteratur der vierziger Jahre entnehmen. In Übereinstimmung damit wird auch die wirtschaftliche Lage so dargestellt, als sei der Gang der Entwicklung genau derjenige gewesen, wie er zu jener Zeit sich ankündigte. Aber die Geschichte kennt keine Entwicklung nach der Schablone, sie kennt nur Tendenzen der Entwicklung, die deren Richtung bestimmen, ohne sich jedoch in voller Reinheit durchzusetzen. Um jedoch beim Thema zu bleiben – wo die Agrarkrisis die tiefsten Wunden geschlagen, hat sie die Interessengegensätze von Pächter und Landlord heute fast ganz neutralisiert, die von Pächter und Arbeiter sehr abgeschwächt. Die Landlords haben den Pächtern und diese den Arbeitern fast überall Concessionen einräumen, sozusagen gute Miene zum bösen Spiele machen müssen; eine Abwälzung der Kosten der Krisis auf die Arbeiter, wie sie vor einem Menschenalter noch möglich gewesen wäre, ist heute ausgeschlossen. Mit anderen Worten, der Grundbesitz hat in England keine Classe gefunden, auf die er die Kosten der Krisis abzuwälzen vermochte. Er hat seinen Anteil an derselben „voll und ganz“ selbst tragen müssen.

Wie steht es nun aber mit der Classe der „Grundbesitzer“? Ist die Verteilung des Grundbesitzes eine solche, wie sie der oft anzutreffenden Vorstellung: hier eine Handvoll Grossgrundbesitzer, dort Zwergeigentümer und Besitzlose, entspricht? Auch hier müssen wir uns vor Übertreibungen hüten, wollen wir nicht zu Folgerungen gelangen, die durch den Gang der Entwicklung Lügen gestraft werden.

Der englische Statistiker Mulhall giebt im Dictionary of Statistics an, dass zehn Elftel des Grund und Bodens des Vereinigten Königreichs 176.520 Eigentümern von 10 Acres Land und darüber gehörten. Das ist allerdings im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung eine kleine Zahl, wenn auch etwas mehr als eine „Handvoll“. Indes erschöpft sie keineswegs die Classe der an der Erhaltung des Bodeneigentums interessierten Personen. Wo das Gesetz und die Bodenstatistik nur einen Eigentümer erblicken, steht in Wirklichkeit oft eine ganze Gruppe von solchen. So beim Fideicommiss, beim Eigentum von Stiftungen, Actiengesellschaften, Genossenschaften und dergleichen. Und wenn auch nicht alle Beteiligten gleichmässiges Interesse an der betreffenden Liegenschaft haben, wird man doch kaum den Durchschnitt überschreiten, wenn man hinter jeden der obigen 176.000 Eigeitümer einen bewussten und interessierten Miteigentümer setzt, wozu dann noch das Heer der interessierten Hypothekengläubiger kommt. Und dann sind nicht alle Eigentümer von Boden unter 10 Acres Zwergbauern. Unter ihnen figuriere die grosse Masse der städtischen Grundeigentümer, der Eigentümer von Gartenland in der Umgebung grosser Städte und der Eigentümer von Gruben- etc. Land, die von einer einzigen Acre oft mehr Einkommen ziehen als mancher Mittelbauer von 100 und mehr Acres Ackerland. Alle diese vermehren die „Handvoll“ classenbewusster Interessenten de Bodeneigentums bis mindestens nahe an eine Million.

Selbst nur die Vergesellschaftung des Grund und Bodens würde, wie sie gewöhnlich aufgefasst wird, im classischen Lande des Grossgrundbesitzes daher mit einem weit grösseren Widerstand zu kämpfen haben, als man gemeinhin glaubt.

Auch ist es eine irrige Annahme, dass die wirtschaftliche Entwicklung „mit Riesenschritten“ zur Verengerung des Kreises der Bodeninteressenten treibt.

Zunächst schafft die wachsende Dichtigkeit der Bevölkerung in Städten und Industriebezirken immer neue capitalistische Bodeninteressenten. Das ist so bekannt, dass es keiner weiteren Erläuterung bedarf. Auf dem Land selbst dagegen heisst es: hier wird gefreit und dorten wird begraben. Hier findet Aufsaugung kleiner und dort Zerschlagung grosser Güter statt. Nicht für alle Productionszweige der Landwirtschaft ist bekanntlich der Grossbetrieb in gleicher Weise dem Kleinbetrieb überlegen, die Tendenz zur Grosswirtschaft wird durch vielerlei Gegenströmungen durchkreuzt resp. aufgehalten.

Vor allem hat man sich davor zu hüten, Grossgrundbesitz und landwirtschaftlichen Grossbetrieb zu identifcieren

Lincolnshire ist eine der wichtigsten landwirtschaftlichen Grafschaften Englands, wegen des ausserordentlich vorgeschrittenen Standes seiner Cultur weithin bekannt. Seine anderthalb Millionen Acres Land sind zur grösseren Hälfte in den Händen von Grossgrundbesitzern. Aber ganz anders wie die Verteilung des Besitzes stellt sich die der Betriebe. Nach Wilson Fox’ Report on the Agriculture of Lincolnshire, London 1895, stellt es sich damit, wie folgt:

Eigentümer von Boden

 

Betriebe (Güter)

Unter 1 Acre

13.768

 

 

Von 1 bis 10 Acres

8.168

von 50 Acres und darunter

20.261

Von 10 bis 50 Acres

5.212

 

Von 50 bis 100 Acres

1.293

 

von 50 bis 100 Acres

2.196

Von 100 bis 500 Acres

1.611

 

von 100 bis 300 Acres

2.826

von 300 bis 500 Acres

833

Von 500 bis 1000 Acres

208

 

von 500 bis 1000 Acres

388

Von 1000 bis 2000 Acres

116

 

1000 Acres und darüber

36

Von 2000 bis 5000 Acres

67

Von 5000 bis 10000 Acres

25

Von 10000 bis 100000 Acres

18

Während der Grundbesitz von 50 Acres und darüber sich auf nurr 3.340 Eigentümer verteilt, verteilen sich die 50 Äcker übersteigenden Betriebe auf 6.279 Personen. Und wenn wir nur die Grundstücke und Betriebe von 100 Acres an rechnen, die Proportion 2.047 zu 4.083. Mit anderen Worten: für Wirtschaftszwecke mussten die ganz grossen Güter zerschlagen werden, die Concentration des Besitzes von 1.000 Acres aufwärts hat in den meisten Fällen mit productionstechnischen Rücksichten gar nichts zu tun, ist nicht in Hinblick auf die grössere Ergiebigkeit zu erklären, nicht von der Rücksicht auf diese bedingt. Der Berichterstatter der Royal Commission of Labour über die Landarbeiterverhältnisse der Mittelgrafschaften, Ed. Wilkinson, behauptet in seinem Bericht, dass Lincolnshire auf den grossen Farmen vielfach im Verhältnis zu den kleinen Farmen eher mehr Arbeiter verwendet werden als weniger, und dass die Tendenz zur Verkleinerung der Betriebe überwiege. Letzteres als Folge der überseeischen Weizenconcurrenz. Die Farmer sehen in der intensiveren Cultur ihre einzige Rettung, wobei es scheint, dass die mittelgrossen Betriebe sich in der Regel am besten zu intensiver Cultur eignen (von der Spatencultur abgesehen, die aber nur die Ausnahme bilden kann). Immer mehr werde die Weizencultur eingeschränkt oder ganz aufgegeben und durch Zug von Edelvieh, Meiereiwirtschaft, Sämerei. Beerencultur etc. ersetzt.

Welch gewaltiger Preisfall in landwirtschaftlichen Producten auf dem englischen Markte seit zwanzig Jahren stattgefunden, ist bekannt. Dennoch mögen zur Veranschaulichung hier einige Zahlen folgen:

Der Scheffel Weizen kostete in Grossbritannien:

Im Jahre

1874

  

6 Shilling 11½ Pence

 

1879

5 Shilling   5¾ Pence

1884

4 Shilling   5½ Pence

1889

3 Shilling   8½ Pence

1894

2 Shilling 10½ Pence

Kein Wunder, dass die Anbaufläche für Weizen von 1874 auf 1894 fast um 50 Procent, von 3,6 Millionen auf 1,9 Millionen Acres, zurückgegangen ist, dass England in der Periode von 1889 bis 1893 nur noch 29,41 Procent seines Weizenverbrauchs selbst producierte, während es von 1869 bis 1874 noch 54,97 Procent desselben selbst baute. Nicht ganz so stark, aber auch bedeutend ist der Preis für Gerste gefallen, nämlich von 44 Shilling 11 Pence das Quarter im Jahre 1874 auf 24 Shilling 6 Pence das Quarter im Jahre 1894. Der Hafer fiel in der gleichen Periode von 28 Shilling 10 Pence auf 17 Shilling 1 Penny pro Quarter.

Es liegt auf der Hand, dass bei solchem Preisfall die Farmer schon längst nicht mehr hätten weiter wirtschaften können, wenn sie nicht nach irgend einer Seite hin sich hätten entschädigen können. Diese Möglichkeit gewährten ihnen die Landlords. Dass sie nicht die Eigentümer des von ihnen bewirteten Bodens waren, rettete die Farmer in Massen vor dem Bankerott. Als Eigentümer mit den unvermeidlichen Hypotheken würden sie zehnmal ihre Zahlungen haben einstellen müssen. Denn die Hypothekengläubiger pflegen nicht nachzulassen, können es oft nicht einmal. Die Landlords aber mussten nachlassen. Pachtherabsetzungen hiess für sie das kleinere Uebel. [3] Die Pachtsätze sind schrittweise bis auf 50 Procent des alten Satzes reduciert worden, in manchen Fällen selbst noch darüber hinaus, und dazu haben die Landlords noch viele Leistungen in Bezug auf Bauten, Meliorationen etc. übernehmen müssen, die früher den Pächtern zufielen, und hier und da sogar den Pächtern bar Geld zum Betrieb vorschiessen müssen. So hat der grösste Landlord von Lincolnshire, der Earl of Ancaster, der 53.993 Acres eignet, von 1872 bis 1893 för seinen Grundbesitz in runden Zahlen ausgeben müssen:

An Neubauten (Ökonomiegebäude etc.)

  

359.000

Pfund

Reparaturen, Ergänzungen, Versicherung

278.000

 

Drainage und Meliorationen

31.000

Drainageabgaben

21.000

Zehntenabgaben

63.000

Grundsteuer

48.000

Ortssteuer

21.000

Diverse Ausgaben

175.000

Verwaltungskosten

43.000
                      

Total

1.039.000

Pfund

Diesen Ausgaben steht eine Brutto Einnahme von 1.565.000 Pfund gegenüber, von der aber noch die Einkommensteuer abgeht, sowie Pensionen, Stiftungsgelder und ähnliche Pflichtgeschenke, die mit dem Grossgrundbesitz verbunden sind, sowie die Unterhaltungskosten für die Familienmitglieder bis ins xte Glied. Rechnet man dies alles ab, so bleibt für die zweiundzwanzig Jahre ein Einkommen zum „standesgemässen“ Leben, das den genannten Lord in die Rubrik der von der schönen Lady Warwick als „splendid Paupers“ bezeichneten Aristokraten einreiht. Im ganzen ist die Netto-Einnahme des Earl of Ancaster, von der aber, wie gesagt, noch alle möglichen Renten an Miterben und Verwandte zu zahlen sind, seit 1875 um 67½ Procent zurückgegangen.

Ähnlich in den anderen Grafschaften. Durch Deckung bei den Landlords haben sich die Farmer als Classe im grossen und ganzen gehalten und sich allmählich den veränderten Marktverhältnissen angepasst. Wo die Bodenverhältnisse und das Klima dies begünstigten, haben sie sich auf die Viehzucht geworfen, denn die Preise für gute englische Viehrassen und das Fleisch derselben haben sich noch am besten gehalten. In den sogenannten Weidegrafschaften („grazing-counties“) stehen sich denn auch die Farmer heute am besten. Nach Herrn König ist die Krisis in Cumberland, wo das Klima freilich der Weidewirtschaft am günstigsten ist, völlig überstanden. Die Farmer „verdienen wieder Geld“ und werden, wenn die Preise weiter anhalten, sogar das in früheren Jahren verlorene Geld zurückverdienen.

Natürlich braucht die Weidewirtschaft weniger Menschen als die Fruchtcultur. Man darf sich aber das Verhältnis nicht übertreiben, nicht annehmen, dass Weideland und Brachland etwa identisch seien. Das dauernd zur Weide bestimmte Land (permanent pasture) wird von dem englischen Viehzüchter sehr sorgfältig gepflegt imd mit den besten Futterkräutern ausgestattet. Der Pächter „scheut keine Kosten an Saat noch Arbeit“, er „weiss ganz gut, dass sich seine Anlagen reichlich bezahlt machen, und schätzt in der Regel seine Weide höher als seinen Acker“ (König). Ebenso braucht das Vieh aufmerksame Pflege. In den Weidegrafschaften stehen sich die Landarbeiter wesentlich besser, als in den Korn bauenden Districten; eine englische Weidewirtschaft ist keine Prairie- oder Pampawirtschaft. Eine Farm von 1.000 Acres gilt in vielen Grafschaften schon als sehr gross und erfordert bedeutendes Betriebscapital. Die grössten Weidewirtschaften für Grossvieh, von denen Herr König erzählt, belaufen sich auf wenig über 1.000 Acres Daneben mögen noch hier und da ausgedehnte Schaftriften bestehen, wo wirklich nur die Masse des Viehes und die Ausdehnung der Trift entscheidet, aber die Schafzucht geht zurück, während die viel intensivere Zucht von Grossvieh zunimmt. [4]

Und nun verstehen wir die eingangs vorgeführten Zahlen. Die Landbevölkerung ist im ganzen zurückgegangen, dieser Rückgang aber fällt fast ausschliesslich auf die Landarbeiter. Die Zahl der selbständigen Landwirte, d.h. der Betriebe, hat nicht abgenommen, ist vielmehr wahrscheinlich proportionell gestiegen. Die Cultur ist intensiver geworden, sowohl im Fruchtbau wie in der Weidewirtschaft. Die grössere Intensivität heisst nicht notwendig Rückkehr zum Kleinbetrieb – im Gegenteil, Herr König citiert viele Stimmen, dass der grössere Betrieb die intensivere Cultur vertrete [5] – aber sie bedeutet ebenso wenig die Herrschaft der Riesenareale umfassenden Betriebe, sondern verträgt sich mit der Beschränkung auf mässig grosse Landcomplexe. Räumliche Beschränkung wiederum heisst noch nicht Rückgang im capitalistischen Chaakter der Betriebe. Im Gegenteil, sie ist in vielen Fällen mit Steigerung ihres capitalistischen Charakters verbunden. Der constante Capitalteil wächst enorm im Verhältnis zum variablen, dem in Arbeitslöhnen auszulegenden Capital. 300.000 Farmer ind Farmerssöhne gegen eine Million Lohnangestellte sagen in letzterer Beziehung alles. Sie sagen aber auch noch etwas anderes. Nämlich, dass der Gedanke, die Landfrage werde sich dahin zuspitzen, dass sie eines Tages durch Expropriation einer „Handvoll“ Bodenmagnaten und capitalistischer Riesenfarmer quasi mit einem Schlage gelöst werden kann, bis auf weiteres aufgegeben werden muss. Abgesehen von der weiten räumlichen Zerstreuung der Million Lohnangestellter der Landwirtschaft stellen diese auch ein sehr viel weniger homogenes Betriebspersonal dar, wie die Lohnarbeiter der Industrie. Die socialistische Lösung der Landfrage scheint sich auf anderem Wege vollziehen zu wollen.

Die Wirkung der überseeischen Lebensmittelconcurrenz auf die englische Landwirtschaft ist in socialpolitischer Hinicht vor allem die einer bedeutenden Verringerung der Grundrenten gewesen. Insofern kann man wenigstens von einer partiellen „Expropriation der Expropriateurs“ sprechen. Man rechnet, dass im Durchschnitt die Pachtsätze seit 1880 um mindestens 30 Procent zurückgegangen sind. Nach den englischen Steuerlisten belief sich der jährliche Steuerwert des landwirtschaftlichen Bodens in England und Wales auf rund 52 Millionen Pfund im Jahre 1880, dagegen auf nur 40 Millionen Pfund im Jahre 1894. Das repräsentiert einen Rückgang von etwa 23 Procent, aber es ist darin sehr viel Boden einbegriffen, der unter andere Kategorieen fällt und keine oder geringere Entwertung erfahren hat. Halten wir uns jedoch an die angegebene Summe, so sehen wir den Grundbesitz um jährlich 12 Millionen Pfund Einkommen verkürzt, was bei Capitalisierung mit 3 Procent – und höher kann solch Reinertrag heute durchaus nicht angesetzt werden – eine Verminderung des Capitalwerts des Grundbesitzes um 400 Millionen Pfund oder 8 Milliarden Mark ausmacht. Womit jedoch, wie wir oben gesehen haben, die Verlustrechnung der Landlords bei weitem noch nicht erschöpft ist.

Die Herabsetzung der Renten hat jedoch an dem capitalistischen Charakter der Bodenbearbeitung nichts geändert, sie ist, wie wir gesehen haben, im Gegenteil erfolgt, um dem Boden den capitalkräftigen Pächterstamm zu erhalten. Und dies ist denn auch gelungen. Auf sehr vielen Gütern ist so gut wie gar kein Personenwechsel in den Reihen der Pächter eingetreten. Die capitalistischen Pächter sind den Landlords gegenüber die Herren der Situation. Einst waren lange Pachtverträge das Schutzmittel der Pächter gegen habgierige Landlords, noch Marx spricht im Capital auf Seite 213 des III. Bandes, 2. Teil, von ihnen in diesem Sinne. Heute aber wollen gerade die Pächter nur noch kurze Pachten eingehen. [6] Dabei werden die Pachtverträge von allen Vorschriften gereinigt, die dem commerciellen Betrieb der Wirtschaft im Wege stehen. Mehr als je ist der Landwirt Fabrikant, der nach rein kaufmännischen Grundsätzen produciert. Die überseeische Lebensmittelconcurrenz hat die Verhältnisse revolutioniert, wenn auch noch nicht im socialistischen Sinne. Der Capitalismus geht aus der Krisis als Sieger hervor, die Beweglichkeit der agricolen Capitals ist als das rettende Princip prociamiert.

Herr König ist der Ansicht, dass für England die Agrarkrisis in der Hauptsache überwunden sei. Was den Weizenmarkt anbetreffe, so können die schlimmsten bisherigen Concurrenten Englands entweder, wie die Vereinigten Staaten, nur noch bei Weltmarktspreisen concurrieren, bei denen auch der englische Farmer jetzt zur Not bestehen kann, oder sie haben, wie Argentinien, mit klimatischen Schwierigkeiten (Dürren, Heuschreckenplagen u.s.w.) zu rechnen, die den Weizenbau zu einem sehr unsicheren Geschäft machen und seiner Weiterausdehnung entgegenwirken. Auch die hochconservative British Review schrieb von einem unverkennbar sich ankündigenden „Wiederaufleben des britischen Ackerbaues“ und meinte, mindestens auf ein Jahr hinaus könne gesagt werden, dass der Weizenbau in England sich wieder zu bezahlen anfange. Das wäre denn freilich ein sehr bedingter Aufschwung, aber nachdem fast jedes Jahr neue Überraschungen auf dem Getreidemarkt gebracht hat, ist man überhaupt im Prophezeien vorsichtig geworden. So viel ist jedoch sicher, dass die englischen Landwirte, wenn ihnen das Wetter keinen Strich durch die Rechnung macht, eine ganze Reihe von Concurrenten, die ihnen im Laufe des letzten Jahrzehnts die Hölle heiss gemacht, nicht mehr zu fürchten haben. Die besseren englischen Viehzüchter Scheinen überhaupt noch auf Jahre hinaus vor gefährlicher Concurrenz geschützt zu sein.

Ob die Folgerungen, welche Herr König für die deutsche Landwirtschaft zieht, richtig sind, kann hier nicht untersucht werden. Nach seiner Ansicht wird dieselbe die Krisis viel schwerer überwinden als die englische. Die Güter seien viel zu hoch im Werte geschraubt, viel zu sehr mit Schulden überlastet, und dazu Deutschland nicht in der gleichen Lage, von Getreidebau zu intensiver Weidecultur überzugehen wie England. Letzteres ist richtig, aber Deutschlands Consumcentren liegen dafür dem Ausland nicht so offen wie die Englands. Die Übertreibung der Grundwerte mag stimmen, und sie wird durch die Agrarzölle sicher nicht abgeschwächt. Wenn Deutschland einmal gezwungen sein wird, diese aufzuheben – und das kann in absehbarer Zeit geschehen – wird die deutsche Landwirtschaft viel weniger gerüstet sein, den Kampf auf dem Weltmarkt zu bestehen, wie es die englische ist. Ihre Hauptpfeiler: die Brennerei und die Siederei, würden dann jedenfalls ihren Krach erleben – was wären sie heute ohne Ausfuhrvergütungen und ohne Staatshilfe?

Alles das ist nicht unsere Sorge. Was hier zu zeigei war, ist folgendes. Erstens die wirtschaftspolitischen Wege, die die englische Landwirtschaft, dank der Demokratie Englands, hat wandeln müssen. Die Demokratie hat die Pächter und Landlords genötigt, auf alle Versuche der Abwälzung der Kosten der Agrarkrisis auf die Volksmasse zu verzichten und die Heilung da zu suchen, wo in der That die Hauptursache der Schwäche Europas gegenüber den neuen Ländern liegt: bei der Grundrente. Die Demokratie ist es in letzter Instanz, der es zuzuschreiben ist, dass die Löhne der englischen Landarbeiter während der Agrarkrisis eher gestiegen statt gefallen sind, denn sie hat Pächter und Landlords genötigt, auf diejenigen wirtschaftlichen Mittel zu verzichten, die sonst versucht werden, die Auswanderung der Arbeiter aufzuhalten oder in ihren Wirkungen zu paralysieren. Mit dem Landarbeiter, der seit 1884 das Stimmrecht zu einem Parlament hat, das wirklich regiert, ist nicht zu spassen, das leuchtet bei jeder Gelegenheit im Buche des Herrn König durch. Und so musste die Rente daran glauben. Zweitens aber, und dies ist der Hauptzweck des Artikels, sollte gezeigt werden, dass selbst das ökonomisch vorgeschrittenste Land Europas in seinen Agrarverhältnissen noch ein gutes Stück weit von jenem Bilde entfernt ist, das wir uns gewöhnlich von ihnen machen. Manchem mag das in dieser Hinsicht Entwickelte eine herbe Enttäuschung sein, aber sie ist besser, die Aufrechterhaltung einer Täuschung, die die Hoffnungen nährt und uns falscheWege gehen macht. Die Wahrheit ist nicht immer erfreulich, aber sie ist immer nützlich. Sie lehrt uns, mit voller Kraft uns jenen Aufgaben zuzuwenden, die wir lösen können, und bewahrt uns davor, von bevorstehender Ausführung von Lösungen zu träumen, für welche die Voraussetzungen noch nicht erreicht sind. Die oben gegebenen Ziffern machen es uns verständlich, warum die Landnationalisierungs-, Landuurückerstattungs- etc. Verbände in England, statt zu wachsen, dahinschwinden, trotz der hingebenden Thätigkeit ihrer Mitglieder, trotz ihrer roten und gelben Agitationswägen, trotz ihrer so packend geschriebenen Pamphlete und trotz ihrer so oft wiederholten Zusammenstellungen über den phänomenalen Landbesitz der englischen Aristokratie.


Fussnoten

1. Verlag von Gustav Fischer in Jena, 1896. 446 Seiten gr.8°.

2. In der rein landwirtschaftlichen Grafschaft Wiltshire betrug die Zahl der Landarbeiter 1871 29.636, 1881 24.772 und 1891 20.893. Ein Rückgang von 1871 bis 1891 um rund 30 Procent. Da in derselben Zeit die Gesamtbevölkerung Englands um beinahe 30 Procent stieg, hätte bei gleicher Bewegung die Zahl der Landarbeiter von Wiltshire auf rund 38.000 steigen müssen. Man muss die letztere Zahl gegen die wirklich erreichte von 20.893 halten, um sich den proportionellen Rückgang voll zu vergegenwärtigen.

In der Grafschaft Lincoln ging die landwirtschaftliche Bevölkerung in den beiden Dekaden jedesmal um 6 Prozent zurück. Im ganzen ist seit 1881 die rein landwirtschaftliche Bevölkerung Englands stationär geblieben. Die Landdistricte von ganz England und Wales weisen zwar eine Bevölkerungszunahme von 3 Procent auf, doch ist da das nicht landwirtschaftlich thätige Element mit eingerechnet.

3. Insofern beruht also die Annahme von Parvus in seiner interessanten Studie: Der Weltmarkt und die Agrarkrisis (Die Neue Zeit, 1895 bis 1896, Bd.I), dass die Landlords mit zahlungsunfähigen Pächtern kurzen Process machten und sie fortjagten, auf Verkennung der englischen Verhältnisse. Desgleichen, wie man aus dem folgenden ersehen wird, eine früher von Paul Ernst gemachte Annahme, dass die englischen Landlords das Fallen der Renten leichter verschmerzen konnten, weil auf ihren Grundstücken keine Hypotheken lasteten.

4. Der Viehbestand von England und Schottland betrug in den Jahren:

 

 

1874

 

1884

 

1894

 

1900

Pferde

1.311.739

1.414.377

1.529.461

1.500.143

Rindvieh

6.125.491

6.269.141

6.347.113

6.805.170

Schafe

30.313.941

26.068.354

25.861.500

26.592.226

Schweine

3.422.832

2.584.391

2.390.026

2.881.922

Der Schafbestand ist nahezu um 5 Millionen zurückgegangen, der Schweinebestand stationär geblieben, der Rindvieh- und Pferdebestand gestiegen. Noch bedeutsamer ist die Zunahme der besseren Qualitäten. So vermehrte sich die Zahl der nur zur Zucht verwendeten Pferde gegen 1874 um nahezu 50 Procent. Kurz, die Umwandlung von Getreideland in Vieheide hat zu keiner wesentlichen Veränderung in der Grösse der Betriebe geführt.

5. Natürlich kann man in kleine Parcellen unendlich viel Arbeit stecken und so Erträge erzielen, die den Durchschnitt weit übersteigen. Aber wo es sich nicht um Specialculturen handelt, die nur bei solch potenzierter Bearbeitung des Bodens gedeihen, heisst dieselbe in neun oder zehn Fällen für die Gesamtwirtschaft Arbeitsverschwendung. Oder sie ist Liebhaberei, die für den Markt nicht in Betracht kommt.

Aber in unserer an Productivkräften so reichen Gesellschaft mit ihrer Tendenz zur Verbilligung und Überproduction aller in den Massenconsum eingehenden Verbrauchsartikel wächst auch der Umkreis der, besondere Intensivcultur erfordernden Artikel des Luxusconsums und bietet immer neue Möglichkeiten, auf verhältnismässig kleinen Flächen capitalistisch rationell zu wirtschaften. Das Areal kann ziemlich klein sein und doch einem durchaus capitalistischen Betrieb als Grundlage dienen.

Die auf der räumlichen Ausdehnung der Betriebe fussende Statistik sagt immer weniger über deren wirtschaftlichen Charakter.

6. König, a.a.O., pag.63, 108 etc.


Zuletzt aktualisiert am 27.1.2009