Eduard Bernstein

 

Zur Frage des ehernen Lohngesetzes

VII. Nachtrag:
Einige Mängel der marxistischen Behandlung des Lohnproblems


Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.60-78.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In den zehn Jahren, die seit der Abfassung des vorstehenden Aufsatzes verstrichen sind, haben sich die Anschauungen des Verfassers in Bezug auf verschiedene Puncte, die für die hier behandelte Frage von Bedeutung sind, wesentlich geändert. Soweit sich dies und seine Rückwirkung auf die in diesem Aufsatz gezogenen Folgerungen nicht in der Form kurzer Noten zum Text feststellen Hess, soll es hier in möglichst knapper Form dargelegt werden.

Der Grundgedanke, dass die ursprünglichen Formulierungen des Lohngesetzes Verhältnisse der Manufacturperiode – vorwiegend handwerksmässige Arbeit unter der Leitung mässig grosser Capitalisten oder für solche – entweder, wie bei den Ökonomen des XVIII. Jahrhunderts, bewusst unterstellen oder, wie bei den Ökonomen der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, unbewusst auf die moderne Grossindustrie mit ihrer Übermacht der grossen Capitalisten über die der Maschine und dem ganzen Productionsprocess untergeordneten Arbeiter übertragen, – dieser Gedanke, wonach das sogenannte Lohngesetz der vor der Epoche der Grossindustrie liegenden Periode entspricht, wird noch heute von mir aufrecht erhalten und hat sich höchstens noch mehr in mir befestigt.

Nun hat aber die grosse Industrie bisher immer nur eine mehr oder minder grosse Zahl von Productionszweigen beherrscht. Bis weit in das XIX. Jahrhundert hinein gehörte ihr selbst in England nur eine Minderheit der Arbeiterclasse an, und von dieser Minderheit waren wieder ein grosser Teil (die Masse der Textilarbeiter) expropriierte Hausindustrielle und Landproletarier oder deren Kinder. Für diese, meist sehr hilflose Arbeiterschaft schuf die Maschine bald wahrhaft höllische Zustände, während zu ganz derselben Zeit in anderen, direct aus dem Handwerkertum hervorgegangenen und noch mit seinen Eierschalen behafteten Industrieen passable – hier und da sogar hohe – Löhne gezahlt wurden und auch die Arbeitszeit sich wenigstens innerhalb menschlicher Grenzen hielt, die Arbeiter viele Sitten aus der Handwerksepoche sich zu bewahren vormochten. Je nachdem der Ökonom sein Auge auf das eine oder andere Extrem richtete, erhielt das Lohngesetz bei ihm eine pessimistische oder optimistische, je nachdem er der Verschiedenheit der gewerblichen Verhältnisse Rechnung trug oder vereinzelte Erscheinungen für den massgebenden Typus betrachtete, eine bedingtere oder absolutere („eherne“) Fassung. Und „oft kommt gar noch eines zu dem andern“: die Formel selbst wird so absolut wie nur möglich gefasst, aber hinterher in dehnbarster oder, um mit Marx zu reden, schwammigster Weise erklärt. Von diesem inneren Widerspruch ist kaum einer der Ökonomen, ob bürgerUch oder socialistbch, die nach Ricardo geschrieben haben, frei. Er ist das Gegenstück eines zweiten, ebenfalls bei fast sämtlichen Auslegern dieses unglückseligen „Gesetzes“ zu findenden Widerspruchs: Leute, die Malthus verdammen, erklären es für „ehern“, Leute, die Malthus hochhalten, für biegsam.

Solche Widersprüche nun sind unvermeidlich, wenn man Erscheinungen, die das Resultat einer Vielheit von Factoren sind und je nach dem Überwiegen einzelner dieser Factoren ein verschiedenes Gesicht tragen, unter dem Begriff eines bestinmiten „Gesetzes“ zusammenzufassen sucht. Man ist genötigft, zu abstrahieren, wobei es nie ohne Willkür abgeht, für die hinterher in der Gestalt von Einschränkungen und Vorbehalten Busse geleistet werden muss. Je gewissenhafter abstrahiert wird, um so banaler fällt schliesslich das „Gesetz“ aus; es wird zu einer Formel, die auf alles mögliche passt und wenig, wenn überhaupt irgend etwas, erklärt, – oft nur, wie schon bemerkt mirde, eine Umschreibung der vier Species ist. Wird aber, aus wissenschaftlicher oder sonstiger Voreingenommenheit, tendenziös abstrahiert, irgend ein Typus als massgebend herausgegriffen und auf Grund seiner weiter deduciert, so kommt die Wirklichkeit hinterdrein und dictiert – diesmal als „ehernes“ Gebot – unzählige Wenns und Abers.

Das „Capital“, als Personificierung der ausbeuterischen Tendenzen der modernen Capitalistenclasse, hat niemals als unimischränkter Gebieter die Gesellschaft beherrscht. In seiner ersten Epoche musste es mit allerhand überlebenden Kräften, Einrichtungen und Gewohnheiten aus der vorcapitalistischen Ära sich abfinden^ und deren Zähigkeit ist keine geringe. So hat z. 6. selbst in der Zeit seiner üppigsten Blüte das den Feiertagen so abgeneigte „Capital“ den Arbeitern Lancashire's die Feier der Kirchweihwoche nicht abgewöhnen können. Später stellte sich ihm die Gesetzgebung entgegen und setzte dem freien Walten von Angebot und Nachfrage Schranken verschiedenster Art. Dies, sowie die Einwanderung von Arbeitern aus zurückgebliebenen Ländern neben wachsender Auswanderungsgelegenheit in noch nicht besetzte Länder und ein sich mit kurzen Unterbrechungen immer wieder ausbreitender Markt für Ausfuhren haben es im „Musterlande des Capitalismus“ niemals dazu kommen lassen, dass der Arbeitsmarkt als Product capitalistischer Reincultur hätte betrachtet werden können. Und ebenso in anderen Ländern. Es lassen sich nur gewisse Tendenzen der capitalistischen Wirtschaft feststellen, durchkreuzt von anderen Tendenzen, und was vom Sociologen, der der bürgerlichen Ökonomie feindselig gegenübersteht, sarkastisch als echte Frucht vom Baum des Capitalismus bezeichnet wird, erklärt ihr Verteidiger begütigend für blossen Auswuchs, hervorgerufen durch irgend welche störenden Einflüsse von aussen, – Kinderkrankheiten oder Rückfälle in solche.

Ein classisches Beispiel dafür ist die verschiedenartige Erklärung und Beurteilung der Wirtschaftskrisen, deren Zusammenhang mit der Frage des Lohngesetzes in dem vorliegenden Aufsatz drastisch genug zum Ausdruck kommt. Ich habe die betreffenden Stellen in Abschnitt V und VI mit einer gewissen grausamen Wollust unverändert gelassen. Erinnern sie mich, im Hinblick auf gewisse temperamentvolle Kritiker meiner Voraussetzungen des Socialismus, versöhnend daran, dass auch ich in Arkadien geboren war, so sind sie zugleich eine nützliche Warnungstafel für alle diejenigen, die da glauben, dass der Fortschritt gegenüber Marx im – man verzeihe den Kunstausdruck – Übermarxen zu suchen ist. Mit welcher Sicherheit wird dort, in Anlehnung an Marx, das Krisenthema abgehandelt und eine continuierliche Verkürzung des „industriellen Cyclus“ mit obligater Verschärfung und Verallgemeinerung der Krisen kategorisch festgestellt. Mit fast mathematischer Gewissheit konnte danach der berühmte Kladderadatsch vorausberechnet werden.

Fuimus Troes! Ende 1884 schon hatte Fr. Engels im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Elend der Philosophie ein besseres Beispiel dafür gegeben, wie Marx gegebenenfalls zu corrigieren ist. In gar nicht sehr apodiktischer Weise hatte der Mitarbeiter von Marx dort die Vermutung ausgesprochen, dass unter den geänderten Verhältnissen des Weltmarktes sich eine neue Ausgleichsform der Productionsanarchie geltend mache : chronische Stagnation mit nur geringen Schwankungen bei Ausbleiben der eigentlichen Prosperität. Zehn Jahre darauf aber sehen wir Engels – in einer Note zum dritten Band Capital [1] – eine neue Hypothese aufstellen, nämlich, dass der industrielle Cyclus, der in der Kindheit des Welthandels fünf Jahre, dann zehn Jahre umspannt habe, nun eine neue Ausdehnung erfahren habe, und der geschilderte Zustand nur die Vorbereitungsperiode eines neuen Weltkrachs von ungeheurer Vehemenz bilde. Engels constatiert daselbst, dass die grosse Ausdehnung der Verkehrsmittel und der Märkte die alten Krisenheerde teils abgeschwächt und teils beseitigt, die Überwindung localer Überspeculation erleichtert habe, erblickt aber in jedem der Elemente, die einer Wiederholung der alten Krisen entgegenstreben, den „Keim einer weit gewaltigeren künftigen Krise“.

Wohlgemerkt: den Keim. Ob aber Keime zur vollen Entfaltung gelangen, oder durch Gegenkräfte daran verhindert werden, ist eine Frage der Umstände, die niemand a priori beantworten kann. Engels drückt sich denn auch hierüber so vorsichtig wie nur möglich aus („Sollten wir etc.?“) Und in den sechs Jahren, die seit Niederschrift jener Bemerkung verstrichen sind, ist denn auch von einem Weltkrach von unerhörter Vehemenz nichts zu verspüren gewesen. Mehr oder minder starke Gewitterwolken sind gelegentlich heraufgezogen, haben sich aber wieder verteilt, ohne nachhaltige Spuren zurückzulassen. Diese Erscheinung und Nachdenken über die von Engels vorgeführte Gedankenreihe haben mich zmn Aufwerfen einer dritten Frage bewogen, nänüich, ob nicht die von Engels constatierte Entwicklung im Verein mit anderen Thatsachen des modernen Wirtschaftslebens die Rückwirkungskraft örtlicher oder particulärer Störungen auf die allgemeine Geschäftslage so verringert, die Möglichkeiten des Ausgleichs von Störungen so vermehrt haben, dass allgemeine Geschäftskrisen nach Art der früheren überhaupt für längere Zeit nicht zu gewärtigen sind.

Die Antwort auf diese Fragen ist noch nicht erfolgte Wohl hat es nicht an Einwänden gegen die von mir aufgeworfene Frage bezw. auf die Wertung der Thatsachen gefehlt„ auf welche die Frage sich gründet. Aber sie ujiterstellen meist Dinge, die ich gar nicht behauptet habe, und sind im übrigen rein speculativer Natur, stellen der Sache, wenn auch nicht immer der Form nach – wo es im Gegenteil oft apodiktisch genug zugeht – Vermutung gegen Vermutung. Indes, die apodiktischsten dieser Behauptungen stossen die Thatsache nicht um, dass die Krisenfrage ein Problem ist, das kein einigermassen unterrichteter Mensch heute noch versuchen wird, „mit ein paar altbewährten Schlagworten beantworten zu wollen. Wir können nur feststellen, welche Elemente der modernen Wirtschaft auf Krisen hinwirken und welche Kräfte ihnen entgegenwirken. Über das schliessliche Verhältnis dieser Kräfte gegen einander oder seine Entwicklungen aprioristisch abzuurteilen, ist unmöglich.“ [2] Wenn z.B. einige Leute, um die alte Lesart zu retten, das Ausbleiben der fälligen Krise – oder Krisen – mit dem Hinweis auf gewisse, vorher nicht berechnete Zwischenfälle oder Ausnahmerscheinungen (Bau von Eisenbahnen nach und in Ostasien, in Africa etc., Vermehrung der Kriegsflotten etc.) zu erklären versucht haben, so vergessen sie, dass wir in einer Gesellschaft leben, wo die Bildung solcher neuen Abzugscanäle für die Industrie fast continuierlich vor sich geht. Die militairischen Rüstungen, die ohne Zweifel den Waren- und Arbeitsmarkt „erleichtern“ helfen, spielen da keineswegs die entscheidende Rolle, noch kann dies von den Erweiterungen der auswärtigen Märkte gesagt werden, deren Wichtigkeit im übrigen sicher nicht bestritten werden soll. Eine immer grössere Bedeutung dagegen erlangt in allen grossen Industriestaaten der wachsende Inlandsconsum. Wie Prof. W. Sombart vor einiger Zeit in der Socialen Praxis berechnet hat, ist die Ausfuhr Deutschlands an gewerblichen Erzeugnissen in den letzten beiden Jahrzehnten um mindestens 50 Procent hinter der Steigerung der gewerblichen Production zurückgeblieben. Nicht die Ausfuhrmasse, wohl aber die Ausfuhrquote geht zurück – mit anderen Worten, von der Productionssteigerung entfällt ein immer geringerer Anteil auf die Ausfuhr, wird ein immer grösserer Anteil im Inlande selbst verbraucht. Von welchen Classen, kann zuächst dahingestellt bleiben. [3]

Soviel ist aber aus dem Vorhergehenden schon klar, dass die ursprüngliche Marxsche Berichtigung der alten Lohntheorie auf die heutigen Verhältnisse nicht mehr passt, und damit auch der auf sie gestützte Teil meiner Lesart als hinfällig betrachtet werden muss. Unzweifelhaft haben Krisen, wenn sie eintreten, und in dem Masse ihrer Ausdehnung und Intensität die Tendenz, die Arbeitslöhne nach dem Mindestsatz hin zu drücken. Aber wir haben keine Thatsache vor uns, die mit Sicherheit auf eine Zunahme der Krisen schliessen lässt, und selbst, wenn Engels’ Vermutung sich bewahrheitete, dass der industrielle Kreislauf sich zwar ausdehnt, aber nur, um zu desto heftigeren Krisen zu führen, so würde das ebenfalls eine Verschiebung der ganzen Frage bedeuten. Denn je länger die Zeitdauer des Kreislaufs, um so mehr fallen seine Termine mit den Terminen einer etwaigen Erneuerung der Arbeiterbevölkerung zusammen und wüchse so die Möglichkeit einer Anpassung nach der Vorstellung der Malthusianer. Und ferner würde die Ausdehnung des Kreislaufs jedenfalls als eine Wendung zum Besseren betrachtet werden müssen. Wir hätten nämlich dann zugleich mit der Verkürzung der Productionsperioden, wie sie die fortschreitende Vervollkommnung der Technik mit sich bringt, eine Ausdehnung der Absatzperioden – unzweifelhaft ein grosser socialer Fortschritt. Man könnte einwenden: ja, aber dafür um so zerstörendere Krisen. Indes kommen wir damit auf einen geradezu unlösbaren Widerspruch. Wie ist beschleunigte Production und Verkürzung der Absatzwege mit verlangsamtem Kreislauf so zusammen zureimen, dass das Resultat eine unerhört heftige Krisis sein muss? Eine Preisaufgabe, die wir bei einer andern Gelegenheit genauer analysieren wollen.

Stehen wir somit in der Krisenfrage heute vor einem Non liquet, so nicht minder in der mit ihr eng verbundenen Frage der industriellen Reservearmee. Das Vorhandensein einer solchen, d.h. einer industriellen Überschussbevölkerung, braucht dabei nicht bestritten zu werden. Aber wenn sich, wie in den Hauptindustriestaaten, die industrielle Bevölkerung stärker vermehrt wie die Gesamtbevölkerung, ohne dass die Procentzahl der Arbeitslosen steigt, so lässt sich die bisherige Erklärung jener Thatsache, nämlich, dass es das „Capital“ ist, das die industrielle Reservearmee beständig von neuem schafft, nicht aufrechterhalten. In dieser Hinsicht ist nun freilich das statistische Material noch sehr mangelhaft. Wir haben für frühere Perioden keinerlei Spur einer brauchbaren Arbeitslosenstatistik und auch heute nur erst die Anfänge einer solchen, während die allgemeinen Gewerbezählungen erst in der neuesten Zeit nach Grundsätzen vorgenommen werden, die genaue Vergleiche gestatten. Aber die vorerwähnte Thatsache, dass die industrielle Bevölkerung in England, Deutschland etc. schneller wächst, als die Gesamtbevölkerung, ist über jeden Zweifel hinaus festgestellt, und was an vergleichender Arbeitslosenstatistik existiert, weist keinerlei Zimahme der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit auf. [4]

Für das Thema der industriellen Reservearmee kommt noch ein Umstand in Betracht, der schon in der Note auf Seite 35-36 berührt wurde, nämlich die Frage der örtlichen und beruflichen Beweglichkeit der Arbeiterclasse. Dass in den einzelnen Berufen periodische Stockungen eintreten oder Arbeiter durch neue Erfindungen so lange überzählig gemacht werden, bis sie entweder durch Ausdehnung und Vermehrung ler Unternehmungen in diesen, oder durch Aufnahme in anderen Productionszweigen Unterkunft finden, steht ausser Frage. Diese Fälle von Arbeitslosigkeit in einzelnen Berufen hat Marx ledoch, wie aus Abschnitt 3 des 23. Capitels des I. Bandes ersichtlich, bei der Theorie von der wachsenden industriellen Reservearmee nicht im Auge, er behandelt sie dort als untergeordnetes Phänomen. Er wirft den bürgeriichen Ökonomen Verwechslung der „Gesetze“ vor, welche die allgemeine Bewegung des Arbeitslohns oder das Verhältnis zwischen Arbeiterclasse, d.h. Gesamtarbeitskraft, und gesellschaftlichem Gesamtcapital regeln, mit den Gesetzen, welche die Arbeiterbevölkerung unter die besonderen Productionssphären verteilen.“ [5] Von Marx’ Standpunct aus ist diese strenge Unterscheidung da am Platze. Örtlich-berufliche Arbeitslosigkeit hat es auch schon in der vorcapitalistischen Epoche gegeben, sie bildet keine charakteristische Erscheinung der capitalistischen Ära, wenn auch ihre Ursachen teilweise andere geworden sind. Nun ist aber heute der Arbeiter nur begrifflich nichts als ein Bruchteil der „Gesamtarbeitskraft“. Factisch ist er immer noch im hohen Grade Berufsarbeiter, dem der Übergang in einen andern Beruf keineswegs inuner leicht wird, auch, wie in vielen Fällen der Ortswechsel, nur erst nach längerer Arbeitslosigkeit von ihm versucht wird. Arbeitslosigkeit in gewissen Berufen geht neben Arbeitermangel in anderen meist ziemlich lange ohne Ausgleich einher. Die Statistik der Arbeitslosigkeit giebt daher keineswegs ein zutreffendes Bild von dem Verhältnisse zwischen „Gesamtarbeitskraft“ und „gesellschaftlichem Gesamtcapital“, zumal, wenn man die Saisonarbeiter (Bauarbeiter, Landarbeiter etc.) in jene mit einbezieht.

Wollen wir uns ein richtiges Bild des wirklichen Verhältnisses machen, so müssen wir uns vor allem von der unwirklichen Vorstellung befreien, dass der Arbeiter in der modernen Industrie bloss einen vermenschlichten Bruchteil variablen Capitals darstellt. Wie schon bemerkt wurde, ist seine Rolle in ihr von der im Handwerk und in der Manufactxuverschieden, aber keineswegs im Sinne der Vemichtung jeder Besonderheit. Im Gegenteil, gerade in den höchstentwickelten Zweigen der modernen Industrie stossen wir, wie schon bemerkt wurde, auf eine ausserordentlich weit durchgeführte Specialisierung der menschlichen Arbeiten, von blosser Muskeloder Überwachungsarbeit gröberer Art bis zu ^lochqualificierten Verrichtungen, welche die grössten Ansprüche an Schärfe des Blicks, Sicherheit und Feinheit der Hand, Nervenkraft und geistige Ausbildung stellen. Und was die Arbeitsmaschinen betrifft, so variieren sie von solchen, deren Bedienung man jeder normalen jungen Person anvertrauen kann, und solchen, die bloss einen kräftigen Handlanger erfordern, bis zu solchen, die nur ein ausgebildeter, geschickter Arbeiter meistern kann. Noch ist die Zahl der Gewerbe und Beschäftigungen sehr gross, wo die geübte Hand, das Auge und die Intelligenz des Arbeiters eine ausserordentlich wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle spielen. Ferner ist gerade in denjenigen Industrien, welche bei der elementarsten Bedürfnisse des Menschen – Nahrung und Wohnung – versorgen, die menschliche Arbeit noch wenig von der Maschine ersetzt. Die Ertragsziffern der Landwirtschaft und anderer extractiver Gewerbe steigen nur in mässiger Progression, während auf der andern Seite die fabelhaften Zalilen von der Productionssteigerung in der Verarbeitung der Faser (Textilgewerbe etc.) erheblich an blendender Kraft verlieren, wenn man die Kosten der dabei erforderten Maschinen und Anlagen mit in Rechnung stellt. Kurz, die Elasticität der Productionsfactoren ist zwar in einer Reihe von Industrieen ausserordentlich entwickelt, im ganzen Productionsorganismus der Gesellschaft aber noch weit hinter dem Bilde zurück, das sich ergiebt, wenn man diese Extreme als Typen zu Grunde legt.

Welches Lohngesetz sich ergeben würde, wenn die Arbeiterclasse jene amorphe, leichtflüssige Masse wäre, wie sie die vorerwähnten Begriffe Gesamtarbeitskraft etc. und alle auf Grund ihrer gezogene Schlüsse unterstellen, soll hier nicht weiter untersucht werden, zumal selbst der Veranschaulichungswert einer solchen, auf luftiger Hypothese aufgebauten Hypothese als höchst zweifelhaft bezeichnet werden muss. In der Wirklichkeit konunt der Berufswechsel erwachsener Arbeiter zwar in gewissen, leicht zu erlernenden Berufen häufig genug vor, spielt aber ak Massenerscheinung keine sehr grosse Rolle. Die wechselnde Anziehungskraft der verschiedenen Berufe übt ihre Hauptwirkung vielmehr immer noch durch das Medium der Neulinge und der Lernenden aus. Die „Ware Arbeitskraft“ ist noch nicht ganz entmenschlicht, was je nachiem für ihren Käufer, häufig aber auch für ihren Träger eine iehr unangenehme Thatsache ist.

Jedenfalls gilt auch in dieser Hinsicht der von mir bei inderer Gelegenheit ausgesprochene Satz : „Die moderne Lohnarbeiterschaft ist nicht die gleichgeartete, in Bezug auf Eigentum und Familie etc. gleich ungebundene Masse, die im [Communistischen] Manifest vorausgesehen wird.“ Und weil sie das nicht ist, weil neben der Aufhebung oder Reducierung von Unterschieden sich immer neue Differenzierungen und Specialisierungen der Arbeit ausbilden, ist der Begriff Reservearmee des Capitals in eben dem Sinne ein übertragener, wie die Begriffe gesellschaftliches Gesamtcapital und Gesamtarbeitskraft – Abstractionen, denen wohl reale Erscheinungen zu Grunde liegen, bei denen aber von soviel Zwischengliedern und Unterschieden abgesehen wird, dass sie die Wirklichkeit nur verschwommen wiedergeben. Es giebt kein gesellschaftliches Gesamtcapital im Unterschied zu, oder getrennt von der Gesamtarbeitskraft, mit so grossem Recht man im Einzelfall mag Capital und Arbeitskraft trennen oder gegenüberstellen können. Die Addition der Einzelcapitale einerseits und der Arbeiter andrerseits gäbe, bei der Fülle der Wechselbeziehungen und Functionsunterschiede, das irreführendste Bild von der Welt. Gesellschaftlich ist das Capital nur als functionierende Potenz zu begreifen, und da gehört die Arbeitskraft als integrierender Factor mit hinzu. [6]

Analog steht es mit der Reservearmee des Capitals. Concrete Fälle, die diesem Begriff entsprechen, giebt es genug, – ja, in der Regel herrscht in der Mehrheit der Industrieen grösseres Angebot als Nachfrage von Arbeitskräften. Trotzdem jedoch ist eine, „dem“ Capital beliebig zur Disposition stehende und den Lohn auf einem bestimmten Niveau haltende, bezw. die „allgemeine Bewegung des Arbeitslohns regelnde“ industrielle Reservearmee eine der Wirklichkeit nicht entsprechende Verallgemeinerung. Die grosse Verschiedenheit der Arbeitslöhne und Arbeitsbedingungen steht mit ihr im Widerspruch.

Damit soll keineswegs die Abhängigkeit des modernen Arbeiters vom Capitalbesitzer geleugnet werden. Wie schon vorher angedeutet, ist z.B. die Thatsache, dass der Arbeiter auch in der modernen Industrie eine gewisse Individualität behält, keineswegs immer ein Segen für ihn. Denn diese Individualität heisst nur zu oft Beschränkung auf eine Specialfimction, die ihn, gerade je feiner die Arbeit ist, in um so grössere Abhängigkeit von einer bestimmten Unternehmung oder wenig zahlreichen Unternehmerschaft bringt, d.h. seinen Arbeitsmarkt verengert. Solche Specialarbeiter sind oft viel länger arbeitslos, als der Verkäufer unqualificierter Arbeitskraft. [7]

Um es zusammenzufassen: Lohnfondstheorie, Bevölkerungstheorie, Krisentheorie, Lehre von der Reservearmee haben sämtlich reale Verhältnisse zur Grundlage, sie alle stellen Teilwahrheiten dar, die innerhalb bestimmter Grenzen bei der Erklärung der Erscheinungen des Lohnproblems heranzuziehen sind, es aber nicht erschöpfend klarlegen. Dasselbe gilt von dem Hinweis auf Bodenmonopol und Feudalrechte, sowie – dies sei gleich hinzugefügt – von der etwaigen Berufung auf Arbeitswerttheorie und Grenznutzenlehre, welch letztere auch dabei ein Wort mitzureden hat.

Das Lohnproblem ist ein sociologisches Problem, das sich niemals rein ökonomisch wird erklären lassen. Mehr oder minder deutlich erkennen dies auch alle Ökonomen an, solange sie sich abquälen, den Wert der Arbeit, bezw. Arbeitskraft, zu definieren. Aber es geht mit dieser Definition wie mit anderen Definitionen der Socialwissenschaften: Die Fülle ihres Inhalts wird meist hinterher vergessen und bei den Anwendungen nur eine Seite berücksichtigt oder über Gebühr betont.

Davon ist auch Marx nicht frei, der im Capital im Abschnitt: Kauf und Verkauf der Arbeitskraft das Problem selbst sehr schön damit kennzeichnet, dass er sagt: „Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element“, nachdem er vorher von den „notwendigen Bedürfnissen“, die nach der Doctrin den besagten Wert bestimmen, gesagt hatte, ihr Umfang bestimme sich „grossenteils von der Culturstufe eines Landes“, unter anderm auch wesentlich dadurch, „unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Classe der freien Arbeiter sich gebildet hat.“ [8]

„Historisch“, „moralisch“, „Culturstufe“, „Lebensansprüche“ – man kann den umfassend söciologischen Charakter des Problems nicht besser anzeigen, als es in dieser, nur zu oft vergessenen Definition geschieht. [9]

Marx fährt an der angegebenen Stelle fort: „Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der „ Durchschnittsumkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.“

Dieser Satz bedarf einer erheblichen Einschränkung, wie denn überhaupt der Begriff Durchschnitt einer der verräterischsten Kunden ist, dem man nicht scharf genug auf die Finger sehen kann. Nach dem Bericht des englischen Statistikers Giffen vor der Royal Commission of Labour von 1892 belief sich der Wochenlohn der erwachsenen männlichen Arbeiter des Vereinigten Königreichs im Jahre 1889 auf durchschnittlich 24 Sh. 7 Pence. Die Specialtabelle, auf Grund deren diese Durchschnittszahl gewonnen wurde, zeigt aber folgende Unterschiede :

Es erzielten von insgesamt 7.300.000 erwachsenen männlichen Arbeitern wöchentlich [10]:

unter 10 Sh.

 

     14.600

Arbeiter oder

    0,2 %

von 10 – 15 Sh.

   182.500

 

    2,6 %

von 15 – 20 Sh.

1.525.700

  20,9 %

von 20 – 25 Sh.

2.584.200

  36,4 %

von 26 – 30 Sh.

1.722.600

  23,6 %

von 30 – 35 Sh.

   817.600

  11,2 %

von 36 – 40 Sh.

   321.400

    4,4 %

über 40 Sh.

   131.400

    1,8 %

 

7.300.000 

100,0 %

Man kann die Extreme der Tafel ruhig bei Seite lassen und braucht nur die MittelgÜder zu betrachten, um zu erkennen, wie irreführend hier der Begriff Durchschnittsumkreis der notwendigen Lebensmittel ist. Dieser Durchschnittsumkreis ist für die verschiedenen Schichten der arbeitenden Classe sehr verschieden. Selbst innerhalb der einzelnen Länder finden da noch grosse Unterschiede von Beruf zu Beruf und von Landesteil zu Landesteil statt. Gewiss täuschen die Geldlöhne insofern, als die Preise der Lebensmittel nach Ortschaften varieren, so dass ein geringeres Geldeinkommen an dem einen Ort die gleiche Summe von Genussgütern repräsentiert, wie ein höheres an einem andern Ort. Aber ein Blick in die Tarife national organisierter Gewerkschaften, die diesen Preisdifferenzen Rechnung tragen, zeigt, dass sie im grossen und ganzen hete nur geringe Abweichungen darstellen und selten mehr als eine Lohndifferenz von 10% bedeuten. Die Tafel zeigt uns aber selbst in den grossen Mittelgliedern Lohndifferenzen von 20, 30, 40, 50 Procent und darüber an.

Die Sache ist die, dass Unterschiede, die auf der verschiedenen Natur der Arbeiten von Beruf zu Beruf beruhen, neben Unterschieden, die ihre Erklärung in der Geschichte der einzelnen Berufe finden, verschiedenartige Lebensansprüche der betreffenden Arbeiter zur Folge haben, und dass diese Ansprüche oder Gewohnheiten sich oft noch forterhalten, wenn die Bedingungen, unter denen sie sich ausgebildet hatten, längst verschwunden sind. Was Marx in dem ersten der oben citierten Sätze sagt, ist danach durch den Hinweis auf die Zusammensetzung der Arbeiterclasse aus verschiedenen, zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen ausgebildeten und ihre Gewohnheiten traditionell fortpflanzenden Schichten zu ergänzen. [11]

Es erhebt sich hier nun die Frage, ob in Bezug auf diese Lohnunterschiede nicht eine Tendenz zur Ausgleichung besteht, die, wenn auch langsam, doch mit einer feststellbaren Wirkungskraft sich durchsetzt. Kräfte, die auf eine solche Ausgleichung hinwirken, sind unzweifelhaft vorhanden. Die Verallgemeinerung des Unterrichts und die Erhöhung des Unterrichtsminimums, die steigende Vermehrung und Verbilligung der Verkehrsmittel, die Ausbildung des Gewerkschaftswesens und die zunehmende Kraft der Gewerkschaften, die stärkere Beschützung der Frauen und Minderjährigen durch Fabrikgesetze – alles dies sind Ausgleichsfactoren oder enthält Keime von solchen. Aber ihnen stehen Kräfte gegenüber, die inmier neue Differenzierungen zur Folge haben. Das Gewerkschaftswesen ist z.B. doppelschichtig. Wie die Gewerkschaft, gleichviel, was auf ihrer Firmentafel steht, eine conservative und eine revolutionäre Seele in der Brust trägt, so auch eine nivellierende und eine differenzierende. Sie strebt nach Ausgleichung und doch zugleich nach Ausnutzung der Möglichkeiten sich darbietender Vorzugsstellung. Dasselbe kann, wie oben gezeigt wurde, von der Entwicklung der Technik gesagt werden. Sie nivelliert hier und differenziert dort. Diese Durchkreuzung bestimmter Strömungen durch andere ist vorläufig noch so stark, dass es schwer hält, ein bestimmtes Urteil darüber abzugeben, in welcher Richtung zur Zeit der stärkere Strom geht. Ohne sehr sorgfältige und umfassende Untersuchungen lassen sich da wenig mehr als Vermutungen anstellen.

Soweit die Bewegung der Geldlöhne als Anzeiger dienen kann, stehen wir heute im Zeichen eines langsamen allgemeinen Aufstiegs der Arbeitslöhne. Für England leugnet ihn heute niemand mehr, er lässt sich aber auch auf dem Festland constatieren. Die neueren Einkommenstabellen zeigen in Preussen, Sachsen und andern deutschen Staaten eine Abnahme der auf der untersten Stufe stehenden und eine Zimahme der übrigen Einkommensclassen. Nicht überall in gleichem Verhältnis, sondern hier langsamer und dort etwas schneller, als die Geldiöhne, steigen die Reallöhne, hebt sich der Consum. Es erweitert sich der Umkreis der für notwendig erachteten Lebensmittel fast aller Schichten der Arbeiterclasse. Da der Ausgangspunct ein sehr niedriger war, heisst das noch lange nicht allgemeiner Wohlstand, sondern ein Schritt auf dem Wege zu ihm.

Wird die Bewegung in dieser Richtung anhalten? Wird sie Unterbrechungen erleiden, die sie zurückwerfen, das Errungene wieder verloren gehen lassen? Diese Fragen lassen sich nicht kategorisch, sondern nur bedingt, hypothetisch beantworten. Die Unterbrechung kann bewirkt werden durch grosse Krisen oder durch die repressive Gewalt – sei es der Unternehmerverbände oder der für die Unternehmerciasse agierenden Staatsgewalt. Jede Beeinträchtigung der Gewerkschaftsaction, jeder längere Stillstand der Production, jede Reaction auf dem Gebiet der Fabrikgesetzgebung und der mit ihr in Verbindung stehenden Soqialpolitik, sowie jede Verteuerung der Nahrungsund Genussmittel heisst Stillstand oder Rückgang der Reallöhne. In dem Masse, als sie verhindert werden können, mindert sich die Gefahr eines allgemeinen Rückschlags der Arbeitslöhne ; in dem Masse, als die Bewegungsfreiheit der Arbeiter gegenüber der Capitalmacht gestärkt und die Stetigkeit des Geschäftsganges erhalten wird, mehren sich die Möglichkeiten weiteren Aufstiegs der Löhne.

Solange die Productivität der Arbeit in Industrie und Landwirtschaft sich hebt, die Transportmittel sich vervielfältigen und noch Boden der Bearbeitung offen steht, giebt es kein Naturgesetz der Wirtschaft, das eine bestimmte Lohnhöhe dictiert. Allerhand gesetzgeberische Massregeln und Unterlassungen (die Duldung wucherischer Monopole etc.), allerhand privatwirtschaftliche Manöver können ihre Hebung aufhalten, aber es sind dann keine Naturgesetze, die den Stillstand dictieren. Die Masse der jährlich erzeugten Genussgüter ist in steter Zunahme begriffen, es giebt kein wirtschaftliches Naturgesetz, das vorschreibt, wie viel davon den producierenden und Dienste leistenden Schichten der Gesellschaft und wieviel dem Besitz als Tribut zufallen soll. Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums war zu allen Zeiten eine Frage der Macht und der Organisation. Je stabiler die Machtverhältnisse, je unbeweglicher die Organisationen, um so „eherner“ die Principien der Verteilung und damit des jeweiligen Lohngesetzes. Die Machtverhältnisse sind heute in Verschiebung begriffen und die Organisationsformen m einem Umwandlungsprocess, die Neugestaltungen in der einen Sphäre wirken zurück auf die in der anderen, und die Resultante aus beiden bildet den bestimmenden Factor der Verteilung der Güter.

Die moderne Gesellschaft stellt sich hinsichtlich der Einkommensverhältnisse als eine grosse Fläche nicht ganz ebenen Bodens dar, aus dem an bestimmten Stellen kleinere und grössere Hügel hervorragen. Dass diese Hügel im Verhältnis zum ganzen Areal nur eine geringe Fläche bedecken, ist keine specifische Erscheinung der Gegenwart. Im Gegenteil. Ehedem war die Zahl der Hügel – der Procentsatz der Reichen – im Verhältnis zum Ganzen noch geringer. Bezeichnend für die Gegenwart ist die relative Zunahme dieser Hügel an Zahl und Grösse, die Vermehrung der Zahl der Reichen und ihres Reichtums. Diese Zunahme ist oder war auch nicht notwendigerweise ein wirtschaftlich bedrückendes Übel, solange sie zusammenfällt mit einer noch grösseren Steigerung des allgemeinen Reichtums der Gesellschaft, und sie war notwendig oder vorteilhaft für die Gesellschaft, solange der Fortschritt der Production abhing, und ist notwendig, solange oder insoweit er abhängt von der Anhäufung von Productions- und Betriebsmitteln in einzelnen Händen. Mit der Vermehrung und dem Ausbau collectivistischer Einrichtungen nimmt daher die Notwendigkeit der Anhäufung von Betriebsmitteln in Einzelhänden wieder ab, eine gleichmässigere Verteilung wird vereinbar mit dem ökonomischen Fortschritt. Dies zeigt sich uns heute schon in allen möglichen Ansätzen: Staat und Gemeinden, privatwirtschaftliche und körperschaftliche Collectivinstitute werden in immer stärkerem Masse Capitalmächte. Das Fallen der Profitrate wird von Steigerung und nicht Abnahme der socialen Accumulation begleitet.

Die Beseitigung der Lohnform der Arbeit hängt ab von der Ausbildung und Vermehrung der unentgeltlich geleisteten öffentlichen Dienste. Ob es jemals dahin kommen wird, dass alle Güter unentgeltlich geliefert, alle Arbeiten freiwillig oder in Form von socialen Dienstpflichten geleistet werden, kaim hier unerörtert bleiben, da ein solcher Zustand jedenfalls noch in unabsehbarer Feme liegt. Wo er nicht besteht, wird aber für jede Dienstleistung, die nicht sociale Dienstpflicht oder freiwillige Liebesarbeit ist, eine feste Bezahlung – Lohn oder Gehalt – die Regel sein, vermehrt vielleicht durch Prämien irgend welcher Art (Anteile an Ertragsüberschüssen etc.) und ergänzt durch unentgeltliche Leistungen der Gesamtheit. Insofern ist daher das Schlagwort Beseitigung des Lohnsystems irreführend. Die thatsächliche Entwicklung vollzieht sich vielmehr in Industrie, Handel und Verkehrsdienst umgekehrt in der Richtung zu steigernder Verallgemeinerung des Lohnverhältnisses, und während die Forderung des vollen Arbeitsertrags für den Arbeiter als wirtschaftlich und social gleich widersinnig heute allgemein aufgegeben ist, bekämpfen sogar die wirtschaftlichen Kampf Organisationen der Arbeiter – die Gewerkschaften – selbst die partielle Gewiimbeteiligung als antisocial oder particularistisch und verwerfen sie die Bezahlung in Naturalgütern als „Truck“. Sie legen im Gegenteil Wert darauf, die Lohnform der Arbeit hervorzuheben und zu erhalten! Der Kampf der Arbeiterclasse richtet heute sich nicht gegen die Form der bestinmiten Entlohnung der Arbeit, sondern gegen Formen und Abhängigkeitsverhältnisse in der Wirtschaft, die auf den Lohn niederdrückend wirken und ihn verhindern, im Verhältnis der Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums zu steigen. Die Lohnform ist nur ein Glied in einem Wirtschaftssystem, einer Wirtschaftsordnung, um deren Änderung durch Ausbildung eines demokratischen oder genossenschaftlichen Collectivismus es sich handelt, und es hat nur eine symbolische Bedeutung, wenn das Streben nach Änderung dieses Wirtschaftssystems als ein Kampf gegen das Lohnsystem bezeichnet wird. Factisch ist es ein Kampf um das System der Lohnbestimmung.


Fussnoten

1. 2. Teil, pag. 27, vgl. auch die Note auf Seite 97 im 1. Teil des III. Bandes.

2. Voraussetzungen, pag. 82. Ich citiere diesen Satz, weil mir von einigen Seiten unterstellt worden ist, ich hätte gesagt, es werde überhaupt keine grossen Krisen mehr geben. Das zu behaupten ist mir jedoch nicht eingefallen. Ich habe nur bestritten, dass die in Aussicht gestellten grossen, mit allgemeinem Stillstand verbundenen Krisen unvermeidlich eintreffen müssen (a.a.O.), und halte dies durchaus aufrecht. [Zusatznote]

3. Vgl. über diesen Punct die sehr bemerkenswerten Zusammenstellungen von R.E. May im Capitel über Einkommen und Consum der soeben erschienenen Schrift: Die Wirtschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Berlin 1901; Akademischer Verlag für sociale Wissenschaften) insbesondere die Seiten 39 bis 50 dieses Werkes. Nach May ist der Consum der Artikel des Massenverbrauches in Deutschland von 1882 bis 1897 um 29 % gestiegen. Sein Werk ging mir erst zu, als das obige Capitel schon im Druck war.

4. Was Marx im Capitel: Die Compensationstheorie bezfiglich der durch Maschinerie verdrängten Arbeiter (Das Capital, I. Bd. Cap.13, § 6) gegen Mill, Vater und Sohn, McCulloch etc. vorbringt, trifft nur die formale Begründung der sog. Compensationstheorie durch die Genannten und ist selbst darin nicht immer gerecht. Marx verschiebt z.B. die ökonomische Frage durch Betrachtungen über die Art, wie der Ausgleich vor sich geht – ein für die betreffenden Arbeiter sicher sehr wichtiger und für die Kennzeichnung der Abhängigkeitsverhältnisse in der modernen Gesellschaft sehr wesentlicher, aber für das in Frage kommende ökonomische Problem thatsächlich untergeordneter Punct. Diese Verquickung ganz heterogener Gesichtspuncte wird am besten illustriert durch einen Satz im darauf folgenden Paragraphen (Repulsion und Attraction von Arbeitern etc.), wo Marx die politische Ökonomie sich in dem „abscheulichen Theorem ausjubeln“ lässt, dass die bereits auf Maschinenbetrieb gegründete Fabrik nach bestimmter Periode des Wachstums „mehr Arbeiter abplackt, als sie ursprünglich aufs Pflaster warf“. (Das Capital, I. Bd., 4. Aufl., pag.413.) Aber hier handelt es sich nicht um die Frage, ob die Beschäftigung Plackerei ist oder nicht, sondern ob die Beschäftigungsmöglichkeit abnimmt oder nicht. In dieser Hinsicht nun drückt sich Marx in dem neuen Paragraphen sehr reserviert aus. Er giebt die Möglichkeit der Zunahme der beschäftigten Arbeiter zu (pag.415) und sal viert sein wissenschaftliches Gewissen dadurch, dass er in den oben citierten Satz den Zwischensatz einschiebt, das besagte Theorem sei „abscheulich für jeden Philantropen, der an die ewige Naturnotwendigkeit der capitalistischen Productionsweise glaubt“ (pag.413). Eine hier ganz sinnlose Redefloskel.

Beiläufig bezeichnet Marx im citierten Capitel als „nächstes Resultat“ der Maschinerie: „mit der Substanz, wovon die capitalistische Classe samt Anhang zehrt, diese Gesellschaftsschichten selbst zu vergrössern“ (pag.410). Ein Beitrag zu der berühmten Frage von der Ab- und Zunahme der Capitalistenclasse.

5. 4. Aufl., pag. 603.

6. Man denke sich eine Addition: x Spinnmaschinen, y Drehbänke, z Schneiderscheeren + α Kohlenminen + β Schriftlettern etc., und man wird das Obengesagte und das ihm Folgende verstehen.

7. Nichts veranschaulicht die fortschreitende Specialisierung der Arbeiter mehr als eine Vergleichung der Arbeits marktspalte heutiger Leitungen mit der von Zeitungen aus den Jahren 1890, 1880, 1870 etc. Giebt oder gäbe aber eine Addition der Angebote und der Nachfragen des Arbeitsmarktes ein zutreffendes Bild vom Status der Reservearmee „des“ Capitals? Sicherlich nicht. Wenn x Feinmechaniker, y Schriftsetzer und z Weber Beschäftigung suchen und x Feinmechaniker, y Weber und z Schriftsetzer gesucht werden, so stehen zwar auf beiden Seiten x + y + z, aber von Ausgleichung ist darum noch nicht die Rede. In Deutschland wurden 1882 in der Industrie 2.661, 1895 aber 5.506 Berufsbenennungen gezählt!

8. Das Capital, I. Bd., 4. Aufl., pag.134.

9. Zugleich aber zeigen diese Worte, in welch sehr bedingtem Sinne die menschliche Arbeitskraft Ware genannt werden kann. Weder ist sie Product gewerblicher Arbeit, noch ist sie fähig, den Besitzer zu wechseln. Sie ist de facto an die Person des Arbeiters ebenso gebunden, wie fideicommissarisches Eigentum de jure an die Person des Erben. Und thatsächlich ist der Arbeitsvertrag einem Pachtvertrag viel ähnlicher, als einem Kaufvertrag. Die Bezeichnung der Arbeitskraft als Ware ist mehr rhetorische Figur, wie wissenschaftlich genaue Definition. Als erstere ist sie dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Abhängigkeit des Arbeiters vom Arbeitsmarkt leicht fasslich veranschaulicht, denn diese Abhängigkeit ist bekanntlich dadurch dass die Arbeitskraft von der Person des Arbeiters nicht getrennt werden kann, nicht geringer, sondern im Gegenteil nur noch grösser.

Ich werde zu dieser Bemerkung durch den Brief eines jungen Hamburger Socialisten veranlasst, der mir unmittelbar vor Drucklegung dieses Buches zugeht, und worin der Verfasser mich um ein Gutachten über die Frage angeht, ob die Arbeitskraft Ware oder nicht sei. Für die genaue Begriffsbestimmung ist sie es nicht.

10. Vgl. die Digesten der Protokolle der Vereinigten Commission, pag.42-43 (citiert aus den Beiträgen zur Geschichte der gewerblichen Arbeit in England von Dr. C.A. Schmidt, Jena 1896, Gustav Fischer).

11. Dass die verschiedenartige Bewertung der Arbeiten als höhere und einfache Arbeit zum Teil auf Herkommen, zum Teil auf der besonders hilflosen Lage gewisser Schichten der Arbeiterclasse beruht, hebt Marx auf der 18. Note zum 5. Capitel des I. Bandes hervor (4. Aufl. pag.160). In der Feststellung dieser Thatsache liegt schon eingeschlossen, wie irreführend es ist, bei Behandlung des vorliegenden Problems von der Arbeiterclasse kurzerhand als von einer homogenen Einheit auszugehen. Will man ein richtiges Bild gewinnen, so hat man die zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Arbeiterclasse bestehenden Unterschiede der Lage und Bedingungen ebenso sehr ins Auge zu fassen, wie das allen Lohnarbeitern in letzter Hinsicht Gemeinsame. Bei Marx wird auf beides verwiesen, aber nur das Moment des Gremeinsamen festgehalten und weiter entwickelt Das heisst, mit Bezug auf die Frage der realen Lohnbildung betont Marx wiederholt die Thatsache jener Verschiedenheiten und deutet er auf ihre Ursachen hin, in der Werttheorie aber figurieren „Capital“ und „ Arbeit“ als aller Besonderheiten entäusserte Abstractionen. Innerhalb bestimmter Grenzen, nämlich gerade so lange es sich um die Analyse des aller Lohnarbeiterschaft heute principiell Gemeinsamen handelt, ist diese Abstraction natürlich zulässig, ja unvermeidlich. Aber die Grenze der Zulässigkeit der Abstraction zeigt auch die Grenze für die Anwendung der auf Grund dieser gefundenen Resultate an.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2009