Eduard Bernstein

 

Zur Frage des ehernen Lohngesetzes

VI. Folgerungen für die Praxis


Ursprünglich: Neue Zeit, IX. Jg 1. Bd, Nr.19, 1890-91, S.600-605.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.51-60.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Hören wir nun zunächst noch einmal, was uns Brentano über das „eherne Lohngesetz“ und die englischen Gewerkschaften mitgeteilt hat:

„Durch diese Organisation wurde bewirkt, dass trotz des Sinkens der Lebensmittelpreise die Löhne hoch blieben und weitere Lohnerhöhungen erzielt wurden. Durch sie wurde das eherne Lohngesetz widerlegt, das nicht Lassalle und nicht Ricardo, sondern Turgot zuerst aufgestellt hat, and das, trotzdem es in Halle für nicht bestehend erklärt wurde, nach wie vor da seine Richtigkeit hat, wo nicht mehr das Herkommen den Lohnsatz bestimmt und noch nicht die Organisation den Druck der Beschäftigungslosen abhält, wo also wirklich die Concurrenz der Arbeiter die Lohnhöhe regelt.“ [1]

Auf die merkwürdige Logik, die in einem Atemzug ein „ehernes“ Gesetz „widerlegt“ werden und „nach wie vor seine Richtigkeit haben“ lässt, wurde bereits im Eingang dieser Artikel aufmerksam gemacht. Sehen wir uns jetzt die einzelnen Sätze der Brentanoschen Definition näher an.

Das eherne Lohngesetz soll „nach wie vor“ da seine Richtigkeit haben, wo „nicht mehr – die Worte sind von Brentano selbst unterstrichen – das Herkommen den Lohnsatz bestimmt“.

Gerade das Umgekehrte ist der Fall. Wo „das Herkommen“ auf den Lohnsatz bestimmend einwirkt, da hat der Begriff ehernes Lohngesetz noch am ehesten eine Berechtigung. Spielt doch auch das Herkommen in allen Definitionen der Anhänger desselben eine hervorragende Rolle. Speciell bei Lassalle heisst es:

„Das eherne ökonomische Gesetz ... ist dieses, dass der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduciert bleibt, der in einem. Volke gewohnheitsmässig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist.“

Ebenso heisst es bei Ricardo vom natürlichen Preis der Arbeit: „It essentially depends on the habits und customs of the people“ – er wird wesentlich von den Sitten und Gebräuchen des betreffenden Volkes bestimmt. [2] Die „Sitten und Gebräuche“ spielten auch thatsächlich lange eine entscheidende Rolle bei der Lohnbestimmung. Zunächst geradezu die entscheidende Rolle im mittelalterlichen Handwerk, wofür zahlreiche Zunfturkunden Beweis ablegen. Dann aber auch lange noch in der Manufacturperiode, was um so begreiflicher, als die Manufactur, wie wir früher gesehen haben, in der Hauptsache noch auf dem Handwerk fusst. [3] Wo aber die Maschine gewerkschaftliche Bewegung eigentlich nur noch solche Industrien in Betracht, in denen entweder durch besondere Ansprüche mung sehr bald alle Rücksichten auf Sitten und Gebräuche auf. Diese sprechen nur noch da ein Wort nüt, wo jene Revolution noch nicht vor sich gegangen ist.

Das sind nun aber gerade diejenigen Industrieen, in denen die gewerkschaftlichen Organisationen verhältnismässig . am meisten auszurichten vermögen. Neben ihnen kommen für die gewerkschaftliche Bewegung eigentlich nur noch solche Industrieen in Betracht, in denen entweder durch besondere Ansprüche an physische Kraft oder technische Ausbildung der Kreis der Mitbewerbenden eine gewisse Einschränkung erleidet, oder wo eine eingreifende Fabrikgesetzgebung – „diese erste bewusste und planmässige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Productionsprocesses“ [4] – den Arbeitern gegenüber den masslosen Ansprüchen des Capitals nach Überarbeit zu Hilfe kommt. Der letztere Umstand ist z.B. einer der Hauptgründe, weshalb Englands Baumwollarbeiter im Stande gewesen sind, ihre Organisationen durch alle Krisen der Baumwollindustrie hindurch aufrecht zu erhalten und ihr Wirkungsgebiet immer weiter auszudehnen. Das Gesetz hatte erst wieder „Sitten und Gebräuche“ in der Industrie schaffen bezw. erzwingen müssen, die denen der Manufactur- und Handwerksperiode, in denen der Arbeiter noch als Mensch und nicht als blosses lebendiges Anhängsel der Maschine galt, annähernd gleich kamen, bevor es den Arbeitern möglich wurde, durch ihre Coalitionen der allzu elastischen Einschnürung des Begriffs der „notwendigen Lebensmittel“ einen Riegel vorzuschieben und sich Löhne zu erkämpfen, die sie ihr Dasein wenigstens bis zu einem gewissen Grade als ein menschenwürdiges gestalten Hessen.

Diese so wichtigen Momente werden jedoch gewöhnlich bei der Discussion über die Frage der Nützlichkeit des Gewerkschaftswesens übersehen, deren Zusammenhang nüt der Frage des Lohngesetzes nicht erst des eingehenden dargelegt zu werden braucht. Wenn Brentano wirklich nicht im stände war, aus der Leetüre des Capital die Grundverschiedenheit der Marxschen Auffassung von der Lassalles in Bezug auf das Lohngesetz zu erkennen, so hätte ihn die verschiedenartige Stellung des ersteren von der des letzteren zur Frage des Gewerkschaftswesens belehren müssen, dass es durchaus nicht angeht, über jene Verschiedenheit sich mit der Redensart „in der einen oder anderen Formulierung“ hinwegzusetzen. Dies nebenbei. Was das principielle Moment in der Discussion über die Nützlichkeit des Gewerkschaftswesens betrifft, so verfallen diejenigen, die die Frage absolut zu beantworten suchen, gleichviel ob verneinend oder bejahend, unrettbar in den Fehler, dass sie den Thatsachen Gewalt anthun und überall entweder die Zustände der Manufactur oder die der ungefesselten maschinenmässigen Industrie unterstellen. Andere sind sich zwar der Unmöglichkeit, überall den gleichen Masstab anzulegen, bewusst, aber der Mangel eines auf gründlicher Analyse des Productionsprocesses begründeten Kriteriums veranlasst sie, die massgebenden Unterschiede in Äusserlichkeiten zu suchen, die in Wirklichkeit wohl hier und da, aber keineswegs überall mit jenen Verschiedenheiten zusammentreffen.

Unzweifelhaft haben die Arbeiter vielfach durch das Mittel der Organisation Verbessenmgen ihrer Arbeitsbedindüngen erkämpft. Aber die Möglichkeit der Organisation ist keineswegs überall die gleiche, sie selbst ist oft nur Wirkung besonders günstiger Umstände, die lediglich durch den Charakter und die historische Entwicklung der betreffenden Industrien zu erklären sind. Wenn z.B. bis in die neueste Zeit hinein fast in allen Ländern die Schriftsetzer sich relativ gute Arbeitsbedingungen sichern konnten, so verdanken sie dies dem Anschein nach lediglich ihren guten Organisationen. Blicken wir aber genauer zu, so werden wir finden, dass die gute Organisation der Schriftsetzer wesentlich Folge ist – ihrer günstigen Arbeitsbedingungen. Die Schriftsetzerei wurde bis vor verhältnismässig kurzer Zeit noch ausschliesslich und wird noch heute in hervorragendem Grade als Cooperation auf handwerkmässiger – „kunstmässiger“ – Grundlage betrieben; da sie eine gewisse Schulbildung erfordert, hielt sich bei dem mangelhaften Stand des Unterrichtswesens der Kreis ihrer Bewerber in gewissen Schranken, während andererseits der stete Aufschwung des Buchhandels und Zeitungswesens den Arbeitsmarkt beständig erweiterte. Hinzu kommt noch, dass die Schriftsetzerei zum grossen Teil local gebunden ist. Nur die Herstellung von Werken und gewissen Accidenzarbeiten ist von dem Orte des Erscheinens unabhängig [5], die Zeitungen dagegen, die eine so grosse Rolle in der Schriftsetzerei spielen, müssen am Ort ihres Erscheinens hergestellt werden. Alle diese Umstände haben zusammengewirkt, es den Schriftsetzern zu ermöglichen, durch ihre Organisationen „den Druck der Beschäftigungslosen abzuwehren“ und ihren Lohn auf einer gewissen Höhe zu erhalten. Ähnlich, wenn auch nicht gleich, liegen vielfach die Verhältnisse im Baugewerbe, in dem ebenfalls die handwerkmässige Cooperation noch überwiegt und die Ausführung des erforderten Products local gebunden ist. Hier spielt das „Herkommen“ noch eine ziemlich grosse Rolle und giebt dem Lohn eine gewisse Stabilität, so dass er wirklich meist um die „gewohnheitsmässigen Bedürfnisse“ herum sich bewegt. Auch der Umstand, daß der willkürlichen Ausdehhimg der Arbeitszeit während mehrerer Monate der „Bausaison“ natürliche Grenzen gezogen sind, sei hier erwähnt. Je mehr jedoch die moderne Technik das Herkommen durchbricht, indem sie z.B. Hebevorrichtungen einführt, die den geübten Steinträger durch Frauen oder jugendliche Arbeiter bezw. einfache Handlanger ersetzen, und je mehr der erleichterte Verkehr die schnelle Heranziehung von Arbeitern aus zurückgebliebenen Ländern ermöglicht, um so elastischer wird auch hier die Grenze des „natürlichen Arbeitslohns“. Mit einem Wort, wenn bisher Maurer, Zimmerer und andere im Baufach thätige Arbeiter häufig durch ihre Organisationen günstige Lohnbedingungen errungen haben, während z.B. die deutschen Weber von Jahr zu Jahr ihren Schmachtriemen enger anziehen mussten, so liegt das nicht daran, dass die einen den Wert der Organisationen besser erkannt, die anderen ihn dagegen von vornherein unterschätzt haben, sondern daran, dass die Berufe der ersteren solche sind, in denen „der Mensch noch was wert“ ist, während die letzteren einer Industrie angehören, die die Maschine uneingeschränkt beherrscht. [6] Wie die Fabrikgesetzgebung die englischen Weber in die Lage versetzte, sich wieder einen besseren Lebenshalt zu erkämpfen, wurde bereits erwähnt. Wo aber die Fabrikgesetzgebung noch nicht eingegriffen hat, da ist auch in England in fast allen Industrieen, die nicht mehr manufacturmässig, und zwar manufacturmässig im Sinne der alten Manufactur, betrieben werden, die Lage der Arbeiter auch heute noch eine jämmerliche. Die Stärke der gewerkschaftlichen Organisationen steht in gar keinem Verhältnis zu der Zahl der Mitglieder des betreffenden Berufes, und ihr Einfluss auf die Lohnimd Arbeitsverhältnisse ist oft nur nominal oder auf eine bestinmite Anzahl von Etablissements beschränkt. Und wo die Organisation der Arbeiter nicht, oder, um mit Brentano zu reden, „noch nicht“ den „Druck der Beschäftigungslosen“ abhält, da ist wiederum – genau im Gegensatz zu seiner Behauptung – von keinem „ehernen Lohngesetz“ die Rede. In der modernen Hausindustrie z. B. giebt es keine „gewohnheitsmassigen Bedürfnisse“, nach denen der Lohn sich regelt, sondern da regelt der Lohn die „gewohnheitsmässigen Bedürfnisse“ und drückt sie auf das Mindestmass dessen herab, was der Mensch braucht, um nicht absolut und direct Hungers zu sterben, manchmal sogar noch tiefer. Alle Versuche, die Lage dieser Arbeiter durch das Mittel, der Coalition zu heben, sind noch fehlgeschlagen, höchstens ist es gelungen, unter besonders günstigen Umständen vorübergehende Milderungen durchzusetzen. Aber auf die Dauer ist die Coalition hier ohnmächtig, und die erste Krise stellt das ursprüngliche Elend wieder her, womöglich noch in erweitertem Umfange.

Noch einmal. Dass, wo die Arbeiter durch eine eingreifende Fabrikgesetzgebung vor Überarbeit geschützt sind, sie auch eher in der Lage sind, eine Besserung ihrer Löhne durchzusetzen, ist eine Thatsache, zu deren Ermittelimg es nicht erst Brentanos bedurfte. Das war bereits im Capital des um jeden Preis herunterzureissenden Marx zu lesen, noch ehe Brentano seine Entdeckungsreisen nach England angetreten, wie auch der Generalrat der Internationalen den Arbeitern des Festlandes die Schaffung gewerkschaftlicher Organisationen als Mittel des Widerstands gegen den Druck des Capitals empfahl, bevor die historisch-realistische Nationalökonomie in ihnen das sociale Allheilmittel erblickte.

„Von höheren Motiven abgesehen“, heisst es im Vorwort zum Capital, „gebietet also den jetzt herrschenden Classen ihr eigenstes Interesse die Wegräumung aller gesetzlich controlierbaren Hindernisse, welche die Entwicklung der Arbeit erclasse hemmen. Ich habe deswegen unter anderem der Geschichte, dem Inhalt und den Resultaten der englischen Fabrikgesetzgebung einen so ausführlichen Platz in diesem Bande eingeräumt. Eine Nation soll und muss von der anderen lernen.“

Und was bezeichnet Marx als die Resultate der Fabrikgesetzgebung? In der Note 110 [7] schreibt er:

„Zur Abwehr falscher Schlussfolgerungen aus dem Text muss ich hier noch bemerken, dass die englische Baumwollenindustrie seit ihrer Unterwerfung unter den Factory-Act von 1850 mit seiner Regelung der Arbeitszeit u.s.w. als die englische Musterindustrie bezeichnet werden muss. Der englische Baumwollarbeiter steht in jeder Hinsicht höher, als sein continentaler Schicksalsgenosse.“

Und Seite 299 heisst es im Text, am Schluss der Schilderung des Kampfes um den Normalarbeitstag: „Dennoch hatte das Princip gesiegt mit seinem Sieg in den grossen Industriezweigen, welche das eigenste Geschöpf der modernen Production. Ihre wundervolle Entwicklung von 1853-1860, Hand in Hand mit der physischen und moralischen Wiedergeburt der Fabrikarbeiter, schlug das blödeste Auge ...“ Die Pharisäer der „politischen Ökonomie“ proclamierten nun die Einsicht in die Notwendigkeit eines gesetzlich geregelten Arbeitstags als charakteristische Neuerrungenschaft ihrer „Wissenschaft“.

Die hier angeführten Sätze aus dem grossen Werke des Theoretikers des modernen Socialismus bedürfen keines weiteren Commentars. Den meisten Lesern längst bekannt, sollen sie vielmehr nur die abschliessende Illustrierung der vorhergegangenen Ausführungen bilden.

Was haben dieselben gezeigt?

Wir haben auf der einen Seite gesehen, dass unter der Herrschaft des capitalistischen Productionssystems zwar der Arbeitslohn seine Schranke nach oben in dem Verwertungsbedürfnis des Capitals findet, aber von einem „ehernen“ Lohngesetz nicht die Rede sein kann. Damit fallen auch alle Schlussfolgerungen, die Freunde imd Feinde der Arbeitersache aus jenem, von der classischen Ökonomie des Bürgertums aufgestellten Gesetz mit Bezug auf die socialpolitischen Interessen der Arbeiterclasse gezogen haben. Es ist nicht gleichgiltig, ob eine neue Steuer oder sonstige finanzpolitische Massregel (Monopol etc.) wichtige Lebensmittel des Arbeiters verteuert, denn es ist nicht wahr, dass der Lohn gemäss einem volkswirtschaftlichen „Gesetz“ notwendigerweise bald um den Satz dieser Steuer steigt. [8] Es ist nicht gleichgiltig, ob die Arbeiter organisiert oder nicht organisiert dem Capital gegenüber stehen, denn nicht organisiert sind sie um so mehr Lohnreductionen ausgesetzt, und kein volkswirtschafthches „Gesetz“ hebt von selbst den Lohn wieder auf seine ursprüngliche Höhe. Es ist aber ebenso wenig wahr, dass für alle Arbeiter diegleichen Aussichten bestehen, durch das blosse Mittel der Coalition ihre Lage erträglich zu gestalten. Diese Möglichkeit existiert nur für einen mit jedem Tage kleiner werdenden Bruchteil der Arbeiterschaft. Es ist nicht wahr, dass Arbeiterschutzgesetze von keinem Wert für die Arbeiterclasse sind, weil sie die Ausbeutung nicht aufheben. Abgesehen von dem Wert, den eine Beschränkung der Arbeitszeit an sich für die Arbeiter als Individuen und als Classe hat, steigert sie auch die Möglichkeit, erhöhtem Lohndruck entgegen zu wirken. Jede Lohnerhöhung ist ein wirklicher Gewinn, jede Lohnverkürzung, jede Verteuerung der Lebensmittel der Arbeiter ein wirklicher Verlust für dieselben.

Auf der anderen Seite haben wir aber auch gesehen, dass die capitalistische Entwicklung weder durch Arbeitercoalitionen, noch durch Arbeiterschutzgesetze aufgehalten werden kann. Wir haben gesehen, wie es ihre Tendenz ist, fortgesetzt Arbeiter überflüssig zu machen, indem die tote mechanische Kraft an Stelle des lebendigen Arbeiters gesetzt wird und indem weiter immer neue Schichten der Bevölkerung in die Production hineingezogen werden. Wir haben gesehen, wie infolge dessen ein stets vorhandenes und in Zeiten der Krisen riesenhaft anschwellendes Heer von Arbeitslosen geschaffen wird, das die Unternehmer in den Stand setzt, auf die jeweilig Beschäftigten einen Druck auszuüben, und das von Jahr zu Jahr die Möglichkeit, Lohnerhöhungen durchzusetzen, vermindert, die Möglichkeit, Lohnherabsetzungen durchzuführen, erhöht. Dies im Verein mit der wachsenden Concentrierung des Capitals, der Verdrängung der kleinen Producenten durch die grossen und der grossen durch die noch grösseren, lässt als endgiltige Befreiung der Arbeiterclasse nur eine Möglichkeit zu: die Socialisierung der Productionsmittel, die gesellschaftliche Regelung der Production. So sieht sich die Arbeiterclasse vor einer doppelten Aufgabe. Einmal ihre Interessen in der Gegenwart zu wahren, jeder Verschlechterung ihrer Lage entgegen zu wirken, jede mögliche Verbesserung mit aller Energie zu erkämpfen. Andererseits den Ereignissen der Zukunft vorzuarbeiten, und zwar indem sie erstens sich selbst physisch – durch Sicherung der bestmöglichen Existenzbedingungen – und geistig auf sie vorbereitet, und zweitens, indem sie ihren Einfluss in Staat und Gesellschaft darauf verwendet, Gesetze und Einrichtungen zu schaffen, die geeignet sind, jene notwendige Gesellschaftsreform, jene grosse sociale Revolution zu beschleunigen und zu erleichtern. Was hat da das Wort ehernes Lohngesetz für einen Sinnir Auf die Kämpfe der Gegenwart kann es nur verwirrend wirken, entweder Illusionen oder pessimistische Vorstellungen nähren, die einen so schädlich wie die anderen; den Kampf der Zukunft aber erschöpft es nicht. Selbst wenn man das ganze Lohnverhältnis, die Abhängigkeit des Arbeiters vom Capital unter dasselbe zusammenf asste, was aber nur durch Vergewaltigung seines ursprünglichen Sinnes möglich wäre, würde es nicht ausreichen, den grossen Kampf zu bezeichnen, den die Socialdemokratie führt. Wir erstreben nicht die Zerbrechung eines Lohngesetzes, nicht nur die Beseitigung des Lohnsystems, sondern die Aufhebung des ganzen capitalistischen Wirtschaftssystems, die Aufhebung sowohl der capitalistischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, als der mit dem capitalistischen Wirtschaftssystem verbundenen Productionsanarchie.


Fussnoten

1. L. Brentano: Meine Polemik mit Karl Marx, Deutsches Wochenblatt, III. Jahrgang, Nr.46, pag.537.

2. Ricardo, ed Mc Culloch, pag. 52.

3. „Noch während des grössten Teiles des XVIII. Jahrhunderts, bis zur Epoche der grossen Industrie, war es dem Capital in England nicht gelungen, durch Zahlung des wöchentlichen Werts der Arbeitskraft sich der ganzen Woche des Arbeiters, Ausnahmen bilden jedoch die Agriculturarbeiter, zu bemächtigen“ (Das Capital, I. Bd., pag.273). Als Beleg hierzu führt Marx die sehr charakteristische Polemik zwischen Postlethwaite, einem namhaften ökonomischen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, und dem anonymen Verfasser der 1770 erschienenen Schrift: An Essay on Trade and Commerce, containing Observations on Taxation, an. In letzterer Schrift, einem leidenschaftlichen Pamphlet für die Interessen des Ausbeutertums, heisst es u.a.:

„Dass die Menschheit im allgemeinen von der Natur zur Bequemlichkeit und Trägheit neigt, davon machen wir die fatale Erfahrung im Befragen unseres Manufacturpöbels. der durchschnittlich nicht mehr als vier Tage die Woche arbeitet, ausser im Fall einer Teuerung der Lebensmittel.“

4. Das Capital, I. Bd., pag.506.

5. Und dies wird denn auch in steigendem Masse Anlass, den Druck derselben von den Hauptstädten weg in die Provinz zu vergeben. So werden u.a. ein grosser Teil der Producte des Londoner Büchermarkts, der Londoner Revuen etc. in Schottland gesetzt und gedruckt. Was ein der Druckerei verwandtes Gewerbe, die Lithographie und ihre Nebenzweige, betrifft, so hält es bereits schwer, in England ein Erzeugnis derselben aufzutreiben, das nicht die ominöse Marke trägt; „Gezeichnet in England, gedruckt in Deutschland.“ Wäre die Verschiedenheit der Sprache nicht, so hätten wir wahrscheinlich längst im Buchdruck die gleiche Erscheinung.

6. Vergl. Note auf Seite 35-36.

7. 2. Aufl., pag.266-267.

8. Dies war aber lange die Auffassung der Socialisten, die von der Ricardoschen Lohntheorie ausgingen. So schreibt der sonst ausserordentlich geistreiche Hodgskin in der schon citierten Schrift von 1825:

„In der That, so schädlich sie – es ist von den Kornzöllen die Rede – fär die Capitalistcn sein mögen, so zweifelhaft ist es, ob sie es auch für den Arbeiter sind. Sie vermindern die Profitrate, aber sie senken nicht endgiltig die Arbeitslöhne. Ob Komgesetz oder nicht, der Capitalist mast dem Arbeiter den Unterhalt geben, und so lange, als seine Forderungen erfüllt und befolgt werden, wird er ihm nie mehr gewähren. Mit anderen Worten, der Arbeiter wird dem Capitalisten stets so ziemlich die gleiche Menge Arbeit für das Laib Brot zu geben haben, ob dieses Laib das Product von einer Stunde oder einem Tag Arbeit ist“ (a.a.O., pag.22-23.)

Diese Auffasung, die später von den Chartisten den Freihandelsagitatoren gegenüber verfochten wurde, spielt auch noch in Marx’ Elend der Philosophie and der, wie Engels im Vorwort dazu ausdrücklich hervorhebt, derselben Entwicklungsperiode von Marx angehörenden Rede desselben über den Freihandel eine ziemliche Rolle. Sie wird aber von Engels selbst nodi 1872 in der oben citierten Abhandlung über die Wohnungsfrage hinsichtlich der Rückwirkung der Consum vereine etc. auf die Löhne ebenso interpretiert, wie von Lassalle mit Bezug auf denselben Gegenstand im Offenen Antwortschreiben, und die betreffende Stelle in der Neuauflage von 1887 unverändert beibehalten. [Zusatznote]


Zuletzt aktualisiert am 16.1.2009