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Ursprünglich: Neue Zeit, IX. Jg 1. Bd, Nr.9, 1890-91, S.294-298.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.1, Berlin 1904, S.1-5.
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Die Wichtigkeit der Frage, ob es ein Lohngesetz giebt, und inwiefern dasselbe als ehern bezeichnet werden kann. bedarf keiner weitläufigen Auseinandersetzung. Sie ist nicht nur von hervorragender Bedeutung für die theoretische Erkenntnis der Grundlagen des Gesellschaftslebens, sie ist auch in hohem Grade eine Frage für die Praxis des täglichen Kampfes. Die Stellungnahme zu den verschiedenen Vorschlägen und Unternehmungen, die auf Hebung der Lage der Arbeiter ausgehen, ist, soweit nicht Classen- etc. -Interessen irgend welcher Art sich ihnen entgegenstellen, von der Beurteilung der Gesetze oder Regeln abhängig, nach denen sich unter bestimmten Gesellschaftszuständen die Einkommensverhältnisse der Arbeiter gestalten.
Es war demnach durchaus folgerichtig, dass mit der Frage, ob das Programm der deutschen Socialdemokratie reformbedürftig sei, der Satz in demselben, der vom ehernen Lohngesetz handelt, an erster Stelle zur Debatte gestellt wurde, und es ist ein erfreulicher Beweis von dem grossen Fortschritt und der inneren Kraft der Partei, dass die kritische Behandlung eines Satzes, der seinerzeit geradezu dogmatische Geltung hatte, in sachlichster und leidenschaftslosester Weise vor sich geht. Die Aufnahme, die die Ausführungen des Referenten auf dem Hallenser Parteitag imd die sich daran anschliessenden Erörterungen in der socialistischen Presse von selten der Parteigenossen gefunden, bekundet aufs deutlichste, dass das Interesse an der theoretischen Aufklärung unter den Parteigenossen stärker ist, als jede andere Rücksicht. Nicht in den Reihen der Socialisten, sondern in den Reihen der Gegner ist der Vorschlag, dem Satz, der vom Lohngesetz handelt, im revidierten Programm eine andere Fassung zu geben, mit lärmendem Geschrei aufgenommen werden.
Dies kommt in classischer Weise zum Ausdruck in einem Artikel des Herrn Prof. Brentano im Deutschen Wochenblatt vom 6. November [1890], überschrieben: Meine Polemik mit Karl Marx. Zugleich ein Beitrag zur Frage des Fortschritts der Arbeiterclasse und seiner Ursachen. Im ersten Teil dieses Artikels versucht Brentano, von Fr. Engels in der Vorrede zur 4. Auflage des Capital als Urheber eines seinerzeit anonym erschienenen Angriffsartikels gegen Karl Marx herausgefordert, sich um die Notwendigkeit herumzudrücken, eine, gelinde gesagt, falsche Beschuldigung zurückzunehmen. [1] Der zweite Teil dient als Appendix, um den Ökonomen Brentano gegenüber Marx als gründlichem Kenner der gesellschaftlichen Vorgänge im hellsten Lichte erstrahlen zu lassen.
„Möge die Veröffentlichung dieser Polemik dazu beitragen, die Autorität des vergötterten Marx wenigstens bei einigen des weiteren zu erschüttern, sie von Rückfällen, gleich den in jenen Protestationen liegenden, abzuhalten und zu noch weiteren Fortschritten und weiteren Einrichtungen auf dem Boden der heutigen Ordnung zu veranlassen.“
Die „Fortschritte etc.“, die Herr Brentano weiter entwickelt zu sehen wünscht, bestehen in den zu Halle gefassten Beschlüssen in Bezug auf die Arbeiterschutzgesetzgebung und die Gewerkschaften. Er schreibt, nachdem er von der Besserung gesprochen, welche Fabrikgesetzgebung und Gewerkvereinsorganisationen für einen grossen Teil der englischen Arbeiter zur Folge gehabt, wörtlich:
„Durch diese Organisationen wurde bewirkt, dass trotz des Sinkens der Lebensmittelpreise die Löhne hoch blieben und weitere Lohnerhöhungen erzielt wurden. Durch diese wurde das eherne Lohngesetz widerlegt, das nicht Lassalle und nicht Ricardo, sondern Turgot zuerst aufgestellt hatte und das, trotzdem es in Halle für nicht bestehend erklärt wurde, nach wie vor da seine Richtigkeit hat, wo nicht mehr das Herkommen den Lohnsatz bestimmt und noch nicht die Organisation der Arbeiter den Druck der Beschäftigungslosen abhält, wo also wirklich die Concurrenz der Arbeiter die Lohnhöhe regelt. Dieses eherne Lohngesetz war in der einen oder anderen Formulierung bisher der Angelpunct der gesamten socialrevolutionären Doctrin; Rodbertus und Marx haben gleichmässig gelehrt, dass innerhalb der capitalistischen Production der Lohn notwendig auf die zur Erhaltung und Fortpflanzung nötigen Subsistenzmittel beschränkt bleibe und bei zunehmender Productivität der Arbeit daher in einem immer kleineren Bruchteil des Wertes des Products bestehe; und es war deshalb von ebenso zweifelhafter Ehrlichkeit wie Klugheit, wenn – nach den Zeitungsberichten – Liebknecht in Halle die Vorstellung erwecken wollte, als hätten die Führer der Socialdemokratie an das eherne Lohngesetz überhaupt nie geglaubt und sich desselben nur als eines geschickten Agitationsmittels bedient. Man erinnere sich nur des Hohns, mit dem Lassalle eben mit Rücksicht auf dieses Lohngesetz die englischen Arbeiterorganisationen als den vergeblichen Versuch der Ware Arbeit bezeichnete, sich als Mensch zu geberden; wie diabolisch Schweitzer erklärte, er organisiere Gewerkschaften, nicht weil sie die Lage der Arbeiter verbessern könnten, sondern weil ihr notwendiges Scheitern den Classenhass mehre; und mit welchem Hass die deutsche Socialdemokratie jahrzehntelang die englischen Gewerkvereinsorganisationen verfolgt hat. Es ist vielmehr die Erfahrung, welche auch die Socialdemokraten belehrt hat, dass, wo die Arbeiter organisiert sind, von einem ehernen Lohngesetz keine Rede sei. Gerade die angefeindeten englischen Gewerkvereine haben der Socialdemokratie bewiesen, dass auch innerhalb der capitalistischen Productionsweise ihre den Principien der heutigen Wirtschaftsordnung völlig entsprechende Anpassung des Angebots von Arbeit an die Nachfrage die verhängnisvollen Wirkungen der ‚Reservearmee‘ zu paralysieren vermöge. Und es zeigt nur diesen Fortschritt in der Erkenntnis, wenn Bebel im vorigen Sommer in einer Berliner Volksversammlung erklärte, die deutsche Socialdemokratie sei davon abgegangen, einen schnellen Zusammenbruch der heutigen Wirtschaftsweise in Aussicht zu nehmen, und suche sich daher auf dem Boden der heutigen Ordnung einzurichten, und als ein anzustrebendes praktisches Ziel eine wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung bezeichnete, oder wenn der Congress von Halle so grosse Sorgfalt auf die wirksame Organisation von Gewerkschaften verwendet hat. Mit den Doctrinen der socialen Revolution stellt all’ dies freilich im crassesten Widerspruch.“
Es würde zu weit ab führen, alle Schiefheiten und Unrichtigkeiten in diesen Sätzen richtig zu stellen. Soweit sie in der bisherigen parlamentarischen und ausserparlamentarischen Thätigkeit der deutschen Socialdemokratie ihre Widerlegung finden, mögen sie hier auf sich beruhen. Was aber die auf das eherne Lohngesetz bezüglichen Sätze betrifft, so verdienen diese eine eingehendere Betrachtung. Nicht weil Brentano sie zuerst aufgestellt hat, sondern weil sie sich, wenige anerkennenswerte Ausnahmen abgerechnet, durch die ganze professorale und nichtprofessorale Litteratur über die sociale Frage hindurchziehen und für die sogenannte öffentliche Meinung geradezu zu Dogmen geworden sind. In Verbindung mit dieser Erörterung hoffe ich durch Hervorhebung einiger neuer oder bisher nicht genügend beachteter Gesichtspuncte in Bezug auf die Frage des Lohngesetzes einiges zum besseren Verständnis desselben beizutragen. Wie aus dem Prospect zur neuen Folge der Neuen Zeit ersichtlich, war das letztere von mir geplant, noch ehe durch den Congress von Halle die Frage zu einer actuellen wurde.
Vorher noch eine kurze Auseinandersetzung. Brentano erzählt uns, dass das eherne Lohngesetz, „das nicht Lassalle und nicht Ricardo, sondern Turgot zuerst aufgestellt hatte ... in der einen oder anderen Formulierung bisher der Angelpunct der gesamten socialrevolutionären Doctrin“ war; „Rodbertus und Marx haben gleichmässig gelehrt, dass innerhalb der capitalistischen Production etc. etc.“ Über den Rest später. Was immer Herrn Brentano veranlasst haben mag, Rodbertus unter die Socialrevolutionäre zu stecken, für unsere Auseinandersetzung kann der Verfasser der Socialen Briefe ausser Betracht kommen. Rodbertus hat nie behauptet, in Bezug auf das Lohngesetz neues vorgebracht zu haben. Er fusste auf demselben, wie er es von den früheren Ökonomen übernommen; seine eigenen Forschungen bewegten sich in einer anderen Richtung.
Noch weniger hat Lassalle je behauptet, neues in Bezug auf das ökonomische Lohngesetz gesagt zu haben. Von dem ersten Augenblick an, da er es in die Agitation warf, sagt er von ihm, dass es die „liberal-ökonomische Schule ist, welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen hat“. „Adam Smith wie Say, Ricardo wie Malthus, Bastiat wie John Stuart Mill sind einstimmig darin, es anzuerkennen.“ [2] Dagegen ist es Lassalle gewesen, der zuerst den Ausdruck ehern in Bezug auf dieses Gesetz gebraucht hat. Und nicht nur den Ausdruck. Für ihn verband sich mit demselben der Begriff des absolut Wirkenden. Er war, ob er mm recht oder unrecht hatte, wenigstens in seiner Auffassimg consequent. Er bekam es nicht fertig, in einem Atem von einem ehernen Lohngesetz zu sprechen und zugleich zu erklären, dass dasselbe durch die bloss gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter aufgehoben werden kann.
Dass das Lohngesetz in seiner einfachen Formel sich schon bei Turgot findet, ist allbekannt. Turgot ist aber keineswegs der erste, der es aufgestellt hat. Schon hundert Jahre vor ihm hatte W. Petty es formuliert, und mehr oder weniger ausgesprochen findet es sich bei noch einer ganzen Reihe Vorgänger des genialen Franzosen. Aber erst Ricardo hat es in allen seinen Consequenzen theoretisch zur Anwendung gebracht, es zum Eckstein eines streng logisch durchgearbeiteten nationalökonomischen Systems gemacht. Die Anführung Turgots ist hier ganz und gar gegenstandslos. Wohl ist es nicht gleichgiltig für die Beurteilung des Lohngesetzes, dass es, schon im XVIL Jahrhundert aufgestellt, bei allen bedeutenden Vertretern der politischen Ökonomie des XVIII. Jahrhunderts wiederkehrt, aber die Erklärung für diese Thatsache sucht man bei den heutigen Wortführern der politischen Ökonomie ebenso vergeblich wie die sich aus ihr ergebenden Folgerungen. Trotz ihres redlichen, aber wie Figura zeig^, nicht immer mit redlichen Mitteln ausgeübten Bestrebens, die „Autorität des vergötterten Marx zu erschüttern,“ lassen sie uns hier vollständig im Stich.
1. Es handelte sich um die Behauptung Brentanos, Marx habe in der Inauguraladresse und im Capital einen als von Gladstone herrührend bezeichneten Satz „ formell und materiell hinzugelogen“. Dass dies nicht der Fall, hat Marx überzeugend nachgewiesen. Richtig ist nur, dass der Satz, wie ihn Marx dem Times-Bericht entnommen und wie Gladstone ihn auch wahrscheinlich geäussert hat, vielfach missver standen worden ist.
2. Offenes Antwortschreiben, Gesamtausgabe, Bd.II, pag.422.
Zuletzt aktualisiert am 15.1.2009