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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart. 25. September 1911.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 529–536.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Wenn wir den Blick rückschauend über die Erscheinungen und Eindrücke dieses Jenaer Parteitags gleiten lassen, so wird uns eins verständlich: die widerspruchsvolle Beurteilung seiner Ergebnisse in der Presse – die sozialdemokratische davon nicht ausgenommen –, das außerordentlich weitgehende Auslegungs- und Hoffnungsspiel, das jene mit ihnen treiben, deren Sehnen auf eine „Mauserung“ der revolutionären Sozialdemokratie zu einer reformlerisch-demokratischen Schutztruppe des bürgerlichen Liberalismus gerichtet ist. Allerhand Zufälligkeiten und nebensächliches Um und Auf haben sich um die großen Richtlinien gerankt, die er für Arbeit und Kampf der Partei in der nächsten Zeit gezogen hat. Und wenn diese auch trotzdem unverkennbar und unverwischbar sind, so treten sie doch in der Folge nicht auf den ersten Blick gleich scharf hervor wie die charakteristischen Züge manches vorausgegangenen sozialdemokratischen Parteitags. So ist ein gewisser Spielraum für Deutungen und Prophezeiungen offen geblieben.
Wer jedoch das Auge nicht an dem bewegten, wechselnden Bild der Momenterscheinungen, an den Formen und persönlichen Zwischenspielen des sozialdemokratischen Kriegsrates haften lässt, für den unterliegt es keinem Zweifel, dass der Jenaer Parteitag die feste Entschlossenheit der großen Mehrheit der Sozialdemokratie bekundet hat, von der alten unerschütterten grundsätzlichen Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung geleitet, auf dem Wege der bisherigen Taktik weiterzumarschieren. Der Parteitag selbst ist auf diesem Wege wieder ein Stück vorwärtsgeschritten, indem seine Verhandlungen die wachsende Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung proletarischer Massenaktionen zum Ausdruck brachten.
Was denn war der Kern der Kritik, die an dem Verhalten des Parteivorstandes angesichts des Marokkohandels geübt wurde? Nichts anderes als die von weiten Parteikreisen erkannte Notwendigkeit, den frivol-täppischen Vorstoß des deutschen Imperialismus rasch durch eine geschlossene, imposante Massenbewegung zurückzuweisen, nichts anderes als die Unzufriedenheit darüber, dass dies nicht frühzeitig und einheitlich genug geschehen war. Und war es nicht abermals das steigende Drängen nach dem Aktivmachen, Aktivwerden breiter proletarischer Massen, das den Verhandlungen über die Maifeier ihr Gepräge gab? Die so widerspruchsreichen Verhandlungen und Beschlüsse darüber – über die Maßregeln zur Unterstützung der Opfer, an denen das Ausbeutertum seine Rache dafür nimmt, schon vor der bloß demonstrativen, friedlichen Tagesmeuterei der ausgeplünderten Klasse zu zittern –, sie haben ihren festen Angelpunkt in der Frage nach der Zweckdienlichkeit und den Bedingungen einer Massenmanifestation. Und so sind es gerade die eifrigsten Befürworter von Massenaktionen, welche die Maifeier aus der lähmenden Verquickung mit der Unterstützungsfrage lösen wollen, der Auffassung entsprechend, dass bei einem Massenaufgebot der Proletarier jeder einzelne im vollen Bewusstsein seiner Verantwortlichkeit handeln und die Konsequenzen seines Tuns als persönliches Opfer auf sich nehmen müsse. Nur in diesem Zusammenhang gefasst, wird es verständlich, warum bei den verschiedenen Entscheidungen, die Maifeier betreffend, zum Teil „rechte Hand, linke Hand, alles vertauscht“ schien und dass, nachdem mit geringer Mehrheit die Aufhebung des Nürnberger Beschlusses abgelehnt worden war, mit erdrückender Majorität in namentlicher Abstimmung der Hamburger Antrag zur Annahme gelangte, der auf die Zuwiderhandlung gegen den nämlichen Beschluss den Ausschluss aus der Partei setzt.
Doch zurück zu unserem Ausgangspunkt! Eine Tatsache unterstreicht unsere Behauptung von dem fortschreitenden Verständnis für das unabweisbare Bedürfnis, den parlamentarischen Kampf der Sozialdemokratie unter bestimmten Umständen durch Massenaktionen außerhalb des Parlaments zu unterstützen. Die Teile der Parteitagsberatungen, wo es um das Aufgebot der Massen ging: Maifeier und Tätigkeitsbericht des Parteivorstandes, konzentrierten die höchste und leidenschaftlichste Aufmerksamkeit auf sich, entfesselten die ausgedehntesten und hitzigsten Debatten. Denn die Sozialdemokratie wäre nicht eine Partei von Kämpfern, welche die geschichtliche Stunde von auseinander liegenden Wegen und unter verschiedenen Bedingungen zusammenführt, wenn sie ihre Marschroute und ihre Waffen nicht unter heißem Ringen um Erkenntnisse wählen müsste. Wir sind unsererseits überzeugt, dass auch ohne das weithin sichtbare Signal formaler Beschlüsse die Truppen der Partei mit sicherem Blicke das Hervorgehobene als eines der wertvollsten Ergebnisse des Jenaer Parteitags für die Orientierung ihrer Arbeit und ihres Kampfes festhalten. Die Zukunft wird uns darin Recht geben, denn hinter der Erkenntnis der Menschen steht mit zwingender Gewalt die Logik der Dinge, die dem Proletariat seine geschichtlich gegebene Marschlinie und die ebenso historisch bedingten jeweiligen Kampfmittel vorschreibt.
Aber, so wendet man vielleicht ein, steht diese Beurteilung nicht im schroffen Gegensatz zu Bebels Referat über die Marokkofrage und die Reichstagswahlen, zu den in Verbindung damit gefassten Beschlüssen? Proletarische Massenaktionen sind Ausdruck des verschärften Klassengegensatzes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, sie stellen bei uns in Deutschland die Sozialdemokratie in schroffsten Gegensatz zu allen bürgerlichen Parteien. Ist die Sozialdemokratie aber nicht unter Bebels Führung in Jena von ihrer alten grundsätzlichen Auffassung und Taktik nach rechts abgerückt? Hören wir die bürgerliche Presse aller politischen Bekenntnisse! Sie jubiliert, dass der erste, der maßgebende Führer der Sozialdemokratie für das Deutsche Reich die Notwendigkeit zugegeben habe, auf friedlichem Wege Kolonialbesitz zu erwerben, dass er die Berechtigung anerkannt habe, die nationalen, wirtschaftlichen und politischen Interessen zu schützen. Sie sieht schon den Himmel voller Geigen einer gemauserten Sozialdemokratie hängen, die nicht länger grundsätzlich jede Kolonialpolitik ablehnt, sondern mit den „vernünftigen Liberalen“ zusammen eine „vernünftige“, „zahme“ Kolonialpolitik treibt. Diese bürgerliche Wertung von Bebels Referat ist nach ihrer Meinung noch durch den Parteitag selbst unzweideutig durch die Ablehnung der Zusätze zur Resolution in der Marokkosache bekräftigt worden.
Wir bedauern zwar, dass diese Zusätze nicht zur Annahme gelangt sind, weil damit jedes Drehen und Deuteln an der sozialdemokratischen Stellung zur Kolonialpolitik unmöglich gewesen wäre. Allein wir bestreiten nachdrücklich, dass dem Votum des Parteitags die Bedeutung innewohnt, die die bürgerliche Presse aus ihm herausdestilliert. Die Ablehnung des Amendements ist in der Hauptsache durch Zusammentreffen verschiedener äußerer, nebensächlicher Umstände verschuldet worden. Nicht zum mindesten dadurch, dass in der Folge die Zusätze zu spät eingebracht wurden und nicht gedruckt vorlagen. Übrigens sprach bei der Haltung vieler Delegierter die Abneigung gegen „lange“ Resolutionen mit und gegen die Bekräftigung dessen, was für einen Sozialdemokraten als selbstverständlich gilt. Wie wenig die erdrückende Mehrheit der Partei daran denkt, den grundsätzlichen Kampf gegen die kapitalistische Kolonialpolitik aufzugeben, bewies sinnenfällig die Behandlung des Antrags Hildenbrand-Maurenbrecher. Er wurde nicht einmal durch so viel Stimmen unterstützt, dass er zur Behandlung kommen konnte. Übrigens wird die Reife der kapitalistischen Gesellschaft selbst mit eiserner Faust die Bäume der wenigen sozialistischen Kolonialschwärmer knicken, lange ehe sie in den Himmel einer gewandelten Parteistellung wachsen. Sie bewirkt, dass die Kolonialpolitik der so genannten Kulturstaaten unmöglich ist ohne Beraubung, Ausbeutung und Knechtung barbarischer und halbbarbarischer Völker, ohne blindwütenden Rüstungswahnsinn und die Gefahr des Weltkrieges, ohne stärkere Ausplünderung und Fesselung der werktätigen Massen im Heimatland. So wird der Traum von der „sozialistischen Kolonialpolitik“ ein Traum bleiben und nicht einmal ein schöner.
Was aber Bebels Ausführungen über die Reichstagswahlen und die Resolution dazu anbelangt, so vergesse man Mehreres nicht. Wohl konzentrierte sich die Wucht des Angriffs zunächst auf das Zentrum als die Partei, die noch unaufgeklärte Arbeitermassen in ihrem Schlepptau führt, allein der Angriff erschöpfte sich nicht darin. Die nötige Abrechnung mit den Liberalen kam in den Debatten und bei Bebels Schlusswort zu ihrem Recht, und sie wird im Wahlkampf selbst gründlicher ausfallen, als den Herren der bürgerlichen Linken lieb ist. Die Stichwahlparole selbst aber besagt nichts Neues. Sie setzt nur fest, was auch bis jetzt schon im Allgemeinen die Regel gewesen ist: die Liberalen als das kleinere Übel zu behandeln. Die Wählermassen werden außerdem nicht einmal verpflichtet, unter allen Umständen sich mit diesem „kleineren Übel“ zu trösten. Die sozialdemokratischen Stimmen sollen bei der Stichwahl nur den liberalen Kandidaten zugeführt werden, die sich auf bestimmte, allerdings sehr bescheidene Forderungen verpflichten. Statt die Bescheidenheit dieser Forderungen als Annäherung der Sozialdemokratie an den bürgerlichen Liberalismus zu preisen, stünde es den liberalen Blättern besser an, sie als das zu kennzeichnen, was sie in Wirklichkeit sind: ein Dokument von dem Verfall, der Verkommenheit des deutschen Bürgertums und seiner politischen Parteien.
Überdies und vor allem lasse man sich nicht durch Wortspielereien eine Tatsache fortgaukeln, an der alle bürgerlichen Illusionen gleich Seifenblasen zerplatzen. In seinen Referaten wie in seiner prächtigen Eröffnungsrede stürmte Genosse Bebel mit wahrhaft jugendlicher Frische und Leidenschaft auf ein Ziel zu. Es war der Nachweis, dass die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft mit der Unabwendbarkeit eines Naturgeschehens einer Katastrophe entgegentreibt, die zum Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung führen muss. Gerade in diesem Zusammenhang auch hat er den Imperialismus und seine Rückwirkung auf die Heimatpolitik gewertet. Trotz der Gefahr eines Weltkrieges keine Aussicht auf ein Abrüsten durch die bürgerliche Gesellschaft, nur ein Aufrüsten und in Verbindung damit Teuerungspreise als chronische Erscheinung – das waren die beiden Entwicklungsreihen der Dinge, die Bebel wiederholt besonders scharf und eindringlich hervorhob. Sie führen zur Massenaktion, wir mögen sie wollen oder nicht. Von dem Zusammenhang der einschlägigen Ausführungen löst sich mithin greifbar die Mahnung ab: Bereit sein ist alles! Sammeln, organisieren und schulen wir die Massen zum Kampfe gegen Hungersnot, Rüstungswahnsinn und Weltkrieg, zum Kampfe für die sozialistische Ordnung. Sorgen wir dafür, dass die Sozialdemokratie in den aufziehenden Gewittern und Katastrophen die geistige und politische Führung der Massen behält. Rüsten wir das Proletariat zum Gebrauch seiner Machtmittel, und geben wir seinem Aufgebot Richtung und Ziel.
Aus dem Ernst und der Verantwortlichkeit der Situation heraus muss das Drängen großer Parteikreise nach einer stärkeren politischen Initiative des Parteivorstandes gewürdigt werden, das in einer lebhaften Kritik an dem Parteivorstand zum Ausdruck kam, wie sie seit langem nicht auf sozialdemokratischen Parteitagen gehört wurde. Der künstlich konstruierte „Fall Luxemburg“ konnte die sachliche Berechtigung dieser Kritik nicht verdunkeln. Sie fand ihre offizielle Anerkennung in der Vermehrung des Parteivorstandes um zwei Sekretäre und in der Einsetzung einer Kommission, welche die Reorganisation des Parteivorstandes und der Kontrollkommission vorbereiten soll. Dass die kraftvollere politische Betätigung der Parteileitung die Sozialdemokratie nicht nach rechts hin abschwenken lassen soll, das bezeugt die Wahl des Genossen, der an des sturmerprobten Singers Stelle mit dem Vorsitz im Parteivorstand betraut worden ist. Dieser Sinn der Wahl des Genossen Haase ist von dem revisionistischen Flügel der Partei selbst recht auffällig durch die Reden unterstrichen worden, in welchen die Genossen Legien und Ulrich die Wahl des Genossen Ebert empfahlen, ist unterstrichen worden durch die Aufrechterhaltung dieser Kandidatur trotz der ausdrücklichen Verwahrung des Genossen Ebert selbst dagegen.
Aller oft heftigen Auseinandersetzungen ungeachtet, hat der Jenaer Parteitag zahlreiche und sehr wertvolle Beschlüsse und Anregungen für die weitere Entwicklung und Betätigung der Sozialdemokratie gezeitigt. Zur rastlosen und wohl vorbereiteten Agitation unter den Frauen des werktätigen Volkes sollen hauptsächlich in nächster Zeit die wucherische Verteuerung des Lebensunterhaltes und die unberücksichtigten, dringenden Forderungen nach durchgreifendem Mutter- und Säuglingsschutz ausgenutzt werden. Die Jugendbewegung ist kräftig zu fördern; die Ausgestaltung der Parteisekretariate – wo es not tut auch durch Anstellung von Genossinnen – ist angeregt worden, ebenso eine energische Agitation unter dem ländlichen Proletariat und vieles andere noch. Es fehlte zu den verschiedensten Forderungen nicht an Reden von zündender, agitatorischer Wirkung und von großem sachlichem Werte. Sie werden ihren Einfluss auf die Erweckung und Schulung der Massen nicht verfehlen. Es sei in dieser Beziehung besonders auf die Reden der Genossin Zietz über Fürsorge für Mutter und Kind und die unseres Genossen Schub über die Jugendbewegung verwiesen. Die Genossinnen haben in größerer Zahl als je zuvor in die Debatten eingegriffen, und das mit einem Verständnis und einer Gewandtheit, die ihre fortschreitende Schulung bekunden. Sie werden nicht in den letzten Reihen stehen, wenn die Sozialdemokratie darangeht, die sachlich reichen Ergebnisse des Parteitags zu Jena aus der Theorie in die Praxis umzusetzen. Arbeiten wir, rüsten wir! Der Zeiger an der Uhr der Geschichte mahnt uns: Vorwärts!
Zuletzt aktualisiert am 16. November 2024