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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
abgehalten in Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910, S. 443–445, 450.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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In der Frage, die uns beschäftigt, bin ich entgegengesetzter Meinung wie der Genosse Heine. Wenn wir wollen, dass eines Tages das Proletariat reif ist für den Gebrauch der Waffe des Massenstreiks, dann müssen wir in dem Bewusstsein der Masse selbst zuerst die geistigen Vorbedingungen dafür schaffen. Um nichts weiter, aber auch um nichts weniger handelt es sich in dem gegebenen Augenblick. (Sehr richtig!) Wir müssen die geistige Disposition der Ausgebeuteten und Entrechteten für den Massenstreik zum Leben rufen, müssen die Erkenntnis von der einstigen Möglichkeit, ja Notwendigkeit des Massenstreiks erwecken. Es fragt sich dabei, wann sind die Voraussetzungen da, um diese Erkenntnis den Massen zu vermitteln? Die besten Vorbedingungen für die Hebung des Machtbewusstseins der Masse – ohne die sich diese der Waffe des Massenstreiks nicht bedienen kann –, für die Schulung des Willens zur Tat, sind gerade in einer Zeit gegeben, wo eine gewaltige Bewegung die Massen selbst auf den Plan ruft.
Gerade dann ist in geistiger und sittlicher Beziehung eine Empfänglichkeit und Erregbarkeit der Massen vorhanden, die sie befähigt, unsere Anregungen rasch und entschlossen aufzunehmen. (Sehr richtig!) Die vorhandene Stimmung müssen wir ausnutzen, um den Massen das Verständnis für den komplizierten Komplex von Tatsachen zu verschaffen, welcher die Grundlage ihres Kampfes ist, der ihrem Kampfe die Richtung, das Ziel gibt. Solche Zeiten dieser politischen Gärung und Bewegung sind am besten geeignet, den Massen das Bewusstsein für ihre Rolle im gesellschaftlichen Produktionsprozess zu schärfen. Gerade in jenen Zeiten werden wir aber auch die besten Anknüpfungspunkte haben, um den Massen zur Erkenntnis zu bringen, wie opferreich und gefahrenvoll der Weg ist, den sie beschreiten, wenn sie die Idee eines Massenstreiks aufnehmen. Ich würde es für sehr frivol halten, wollten wir den Gedanken des Massenstreiks unter das kämpfende und vor allem auch unter das erwachende Proletariat hineintragen, ohne ihm die Tragweite, die Gefahren und Opfer dieses neuen gewaltigen Kampfmittels klar zu machen. (Sehr richtig!) Denn nur wenn es diese Gefahren und Opfer ganz würdigt und bereit ist, sie auf sich zu nehmen, dürfen wir unsererseits vor der Verantwortlichkeit nicht zurückschrecken, den Massen den neuen Weg zu zeigen. Zeiten, in denen wir vor der Verantwortlichkeit, die Massen vor der Entscheidung stehen, sind Zeiten der Aussaat sozialistischer Ideen, wie wir sie günstiger nicht wünschen können. Meines Erachtens kann man nämlich propagandistisch die Frage des Massenstreiks gar nicht aufrollen, ohne mit der sozialistischen Darstellung der Situation auch den ganzen Ideengehalt, die ganze Weltanschauung des Sozialismus den Massen zu bringen.
Aber eine andere Frage noch drängt sich auf. Wird uns nicht
in Zeiten hochgradiger, fieberhafter Erregung die geistige, die
politische Leitung der Massen aus den Händen gleiten? Ich muss
sagen, ich würde an all unserer Selbstzucht verzweifeln, welche
die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in jahrelanger Arbeit
unter die Massen hineingetragen haben, wenn ich eins befürchten
müsste: dass wir vor ihnen zur Zeit eines gesteigerten
politischen Lebens, in der Periode großer Volksbewegungen nicht
das Wort Streik aussprechen könnten, ohne zugleich die Macht zu
besitzen, dem Worte Gehör zu verschaffen. „Heut’
zornig Element, noch nicht!“, wenn in einer Situation die
gesamten historischen Voraussetzungen für den Massenstreik noch
nicht gegeben sind. Es handelt sich absolut nicht darum, es kann sich
nicht darum handeln, den Massenstreik für eine Eventualität
anzukündigen. Wer das glaubt, hat das Wesen des Massenstreiks
gar nicht verstanden. (Sehr richtig!) Es ist deshalb auch in
der Resolution, die Genossin Luxemburg Ihnen vorgelegt hat,
keineswegs die Rede davon, dass die Massen aufgefordert werden
sollen, gegenwärtig oder zu einem im Voraus bestimmten Termin
zur Waffe des Massenstreiks zu greifen. Der Zeitpunkt, an welchem ein
Massenstreik vielleicht zur Tat wird, die Verhältnisse, unter
denen er ausbrechen kann, lassen sich absolut nicht vorhersagen, nach
einem bestimmten Schema feststellen. Aber gerade weil wir mit der
Tatsache rechnen müssen, dass in dem Proletariat unter
bestimmten, historischen Umständen das Bewusstsein seiner
entscheidenden Macht erwacht, des Einflusses, den es durch die
gekreuzten Arme in die Waagschale werfen könnte, der feste Wille
zur Tat, gilt es gerüstet zu sein. Nur dadurch können wir
die Sicherheit erhalten, dass die Organisationen auch dann das
Rückgrat jeder künftigen Massenstreikbewegung sein werden.
Es ist von gewerkschaftlicher Seite die Sache so aufgefasst worden,
als solle die Resolution jetzt irgendwie eine Bindung zur
entscheidenden Tat bedeuten. Nichts irriger als diese Anschauung! Die
Resolution soll nur der Anreiz sein, nur die moralische Ermutigung,
den Gedanken des Massenstreiks nicht unter uns zu erörtern, die
wir ihn schon erfasst haben, nein, diesen Gedanken immer mehr dorthin
zu tragen, wo eines Tage die Entscheidung über diese Möglichkeit
und Notwendigkeit seiner Verwirklichung fallen wird: unter die Massen
selbst. Eine andere Auffassung und Losung würde im schroffsten
Widerspruch zu unserer Wertung des Massenstreiks stehen. Wenn wir die
Dinge so ansehen, dann geht selbstverständlich mit der Bekundung
dieses unseres Standpunktes eine andere Erkenntnis einher, nämlich
die, dass es notwendig ist, unsere politische und gewerkschaftliche
Organisation in unablässiger Arbeit immer besser auszubauen, sie
ihrem Gehalt nach auf ein immer höheres Niveau zu stellen. Je
entscheidender, aber auch je verantwortlicher die Rolle sein wird,
die sie eines Tages als Herz und Hirn der Massenstreikbewegung zu
erfüllen haben, um so unerlässlicher ist es, sie in Bezug
auf ihre Aktionsfähigkeit, ihre Zielklarheit und ihren
Idealismus auf die höchste Stufe zu heben. Ich bitte Sie deshalb
dringend, der Resolution Luxemburg in der veränderten Fassung
zuzustimmen, in der das vollkommen harmlose Wort „propagieren“
ausgemerzt worden ist. Im Gegensatz zum Genossen Heine bin ich
allerdings der Ansicht, dass die Propagierung unserer Auffassung über
den Massenstreik keineswegs die Konzentration unserer Kraft auf eine
Aktion bedeutet, die jetzt schon stattfinden soll. Propagieren
wir nicht den Sozialismus, die sozialistische Idee, ohne uns darüber
einer Täuschung hinzugeben, dass dieses Ziel noch nicht heute,
augenblicklich verwirklicht werden kann? Propagierung besagt nichts
als Verbreitung eines Gedankens, besagt nichts über die Zeit,
den Termin, wo er zur Tat werden soll und muss, ist deshalb keine
Bindung für eine bestimmte Eventualität. Wir sollten uns
hüten, durch gezwungene, durchaus künstliche Interpretation
einen bindenden Sinn in die Resolution hineinzutragen, den sie
keineswegs haben kann: wir empfehlen Ihnen die Resolution auch, um
den Wahnglauben zu zerstören, als ob der preußische
Wahlrechtskampf in einer einzigen glänzenden
Entscheidungsschlacht siegreich zu Ende geführt werden könnte.
Solcher Wahnglaube hängt übrigens eng mit einer ganz
irrtümlichen Vorstellung vom Wesen des Massenstreiks zusammen,
die diesen nicht bloß als eine Bewegungsform und Kampfesform
des Proletariats wertet, sondern noch immer als Wundermittel
betrachtet. Nein, der preußische Wahlrechtskampf wird infolge
seiner Bedeutung und Tragweite, infolge der Entscheidungen, deren
Mittelpunkt er je länger je mehr wird, ein Kampf von langer
Dauer sein. Wir müssen daher die Massen darüber aufklären,
dass er noch über viele Etappen führen wird, dass er
vielleicht auch Niederlagen mit sich bringt, aber Niederlagen jener
Art, von denen das trostreiche Wort des Kommunistischen Manifests
gilt, dass der eigentliche Erfolg der Kämpfe nicht das positive
Resultat ist, sondern vielmehr die immer größere
Vereinigung der Arbeitermassen, eine Vereinigung, die den künftigen
Sieg vorbereitet. (Lebhafter Beifall)
Im Namen der Unterzeichner der Resolution 100 habe ich zu erklären dass sie den zweiten Absatz zurückziehen, weil sie der Ansicht sind, dass durch die Annahme des ersten Absatzes in Verbindung mit der vorausgegangenen Diskussion das Ziel erreicht ist, was sie im gegenwärtigen Augenblick ins Auge gefasst haben.
Zuletzt aktualisiert am 20. Januar 2025