Clara Zetkin

 

Budgetfrage – keine akademische Doktorfrage!

Rede auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Magdeburg

(21. September 1910)


Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten in Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910,
Berlin 1910, S. 317–322.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 482–489.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Wenn der Parteitag in der uns beschäftigenden wichtigen Frage eine Entscheidung herbeiführen will, welche dem Interesse der Partei dient, so muss er sich vor einem hüten: nämlich der Auffassung jener Genossen beizutreten, welche die Budgetfrage als eine abstrakte Harmlosigkeit behandelt wissen wollen, als eine akademische Doktorfrage, gleichsam losgelöst von Raum und Zeit. Wir müssen die Frage ins Auge fassen in der konkreten Realität, in der sie wieder und wieder vor die Partei gestellt worden ist. Das Lied, dass wir die Frage an und für sich zu behandeln haben, haben wir auch jetzt wieder gehört. Wir kennen die Weise, wir kennen den Text, und wir haben gestern auch ihren klassischen Barden gehört in der Person des Genossen Keil, der uns den Rat gegeben hat, die Frage weder durch die radikale noch durch die revisionistische Brille zu betrachten. Vielleicht sagt uns Genosse Keil, durch welche eigentümliche Brille er die Sache betrachtet. (Frank: „Mit offenen gesunden Augen!“) Er sieht die Sache offenbar durch einen Nebel, in welchem alle Katzen grau sind. (Heiterkeit) Die Budgetfrage ist neuerlich vor den Parteitag gekommen, nicht als abstrakte Frage, nicht als Frage „an und für sich“, sondern als der Ausdruck, als die reife Frucht einer konsequent und bewusst verfolgten Richtung, die eine Änderung unserer bisherigen Taktik erstrebt. („Sehr richtig!“ bei der Mehrheit) Das hat Genosse Keil gestern selbst indirekt zugegeben. Er hat es bedauert, dass das Eingreifen der „Sozialistischen Monatshefte“ es so sehr erschwere, „neue Wege“ zu wandeln. Er hat nicht bedauert, dass diese Zeitschrift – das ist meine persönliche Ansicht über sie – die Meinung der Genossen im Lande in Verwirrung zu bringen geeignet ist. Er hat lediglich beklagt, dass durch die Sozialistischen Monatshefte gewissermaßen der Punkt auf das I gesetzt werde, dass ihr Inhalt den Massen der Parteigenossen zeige, woher der Wind kommt und wohin er weht. Es wäre gut, wenn Genosse Keil offen aussprechen wollte, was seinerzeit Genosse Auer in prägnanter Form zum Ausdruck brachte und was ja doch der Sinn von Keils Ausführungen war: So etwas tut man, so etwas sagt man nicht. („Sehr gut!“ bei der Mehrheit) Ich wollte, er hätte so offen gesprochen wie sein Parteifreund Hildenbrand, der nach einem Bericht der Tagwacht in einer Versammlung am 17. September in Stuttgart erklärt haben soll: „Ihr könnt beschließen, was Ihr wollt, wir tun, was wir wollen.“ („Hört! Hört!“) Ich zitiere, wie gesagt, nach der Tagwacht, wenn die Äußerung nicht so stimmt, hat Genosse Hildenbrand ja volle Möglichkeit, hier den Bericht zu korrigieren. Jedenfalls meine ich, dass, wenn ein Parteiblatt eine derartige Äußerung bringt, auch die Masse der Parteigenossen ein Recht darauf hat, darüber informiert zu werden, ob dies zutreffend ist.

Was die umstrittene Frage selbst anbetrifft, so hat Genosse Frank sich von den Flügeln der Dichtkunst mit Rückert nach Indien tragen lassen, um uns die poetische Weisheit des Brahmanen zu zitieren. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte uns die ganze prosaische Weisheit seines Freundes Kolb aus Karlsruhe zitiert. („Sehr gut!“) Denn diese Weisheit hat uns seit Monaten wieder und wieder in Rede und Schrift versichert, was wir schon früher bei der gleichen Diskussion gehört haben: dass es sich bei der Budgetzustimmung nicht um eine ausnahmsweise Maßregel handeln kann, sondern um eine regelmäßige Erscheinung, die als Unterpfand, als Besiegelung der Tatsache dienen soll, dass wir in die Wege einer neuen Taktik einlenken müssen und im Begriffe sind, in sie einzulenken. Mehr noch, Genosse Kolb betont stark, dass diese Taktik nicht bloß für die Einzelstaaten gelten muss, vielmehr auf das ganze Reich auszudehnen ist.

Angesichts dieser Sachlage möchte ich entschieden davon abraten, dem Antrag des Genossen Braun beziehungsweise München zuzustimmen. Was würde die Einsetzung der geforderten Studienkommission bedeuten? Sie würde sachlich auf die Erklärung hinauslaufen: Ihr habt zwar formell gesündigt, indem ihr in Baden dem Parteitagsbeschluss zuwidergehandelt habt, aber wir haben im letzten Grunde gar nicht das Recht, euch eine Missbilligung dafür auszusprechen, denn wir haben euch voreilig gebunden. Seit fast 16 Jahren haben wir die Frage der Budgetbewilligung behandelt, haben zu ihr Beschlüsse gefasst, ohne überhaupt sachlich genügend in der Materie unterrichtet gewesen zu sein. Die Partei würde sich damit ein Armutszeichen ohnegleichen ausstellen. („Sehr wahr!“) Wir haben einen Berg von Literatur zu dieser Frage, wir haben ausgiebige Diskussionen auf Parteitagen und in Versammlungen gehabt, und da sollten wir nachträglich erklären: Wir wissen noch immer nicht, was ein Budget ist und wie wir die Verhältnisse werten müssen? Aber noch eins: Worauf würde es praktisch hinauslaufen, wenn wir eine Studienkommission einsetzten? Wenn wir davon absehen wollten, die Frage im Zusammenhang mit einer prinzipiellen Auffassung zu entscheiden, wenn wir unsere Stellungnahme zu ihr lediglich von den jeweiligen Umständen abhängig machen würden? Wir müssten dann die Kommission in Permanenz tagen lassen, denn es könnte immer und immer die Erforschung ganz neuer Verhältnisse in Frage kommen („Sehr richtig!“ bei den Süddeutschen), nach deren Prüfung wir erst imstande wären, ein Urteil abzugeben. (Frank: „Da haben Sie sehr recht!“) Steht man auf diesem Standpunkt, dann seien wir doch konsequent, dann schaffen wir schon heute den Nürnberger Beschluss und die vorher gefassten Resolutionen in Sachen der Budgetfrage ab. („Sehr richtig!“ bei den Süddeutschen) Ich persönlich bin immer für Konsequenz und für klare unzweideutige Entscheidungen, an denen nicht mehr zu rütteln ist, die zeigen und aussprechen, was ist.

Dass es sich im letzten Grunde bei der Budgetfrage um den Versuch handelt, die Partei in eine veränderte Richtung, zu einer neuen Taktik zu drängen, zeigt die Armseligkeit der Gründe, mit welchen das Verhalten der badischen Genossen bis jetzt zu rechtfertigen versucht worden ist. („Sehr richtig!“) Was hat da für die Entscheidung nicht alles eine Rolle gespielt! Reden für oder gegen die Sozialdemokratie, die ein Minister gelegentlich gehalten hat, Hinweis auf die komplizierte Natur dieses Mannes. Mich erinnert das sehr bedenklich verzeihen Sie das harte Wort – an das feuilletonistische Gerede bürgerlicher Zeitungen von dem modernen Menschen Bülow und von dem Philosophen Bethmann Hollweg. („Sehr gut!“) Wir haben nicht mit der „komplizierten“ Natur und der Persönlichkeit derjenigen zu rechnen, die sich Staatsmänner nennen, sondern vielmehr mit den klaren, realen Verhältnissen des kapitalistischen Klassenstaates, deren Diener, deren Lakaien die Staatsmänner sind. (Lebhafte Zustimmung) Und da liegen die Dinge wirklich einfach genug! Frank hat uns gesagt, wir dürften die letzte Erklärung des Ministers von Bodmann über den berechtigten Kern der Arbeiterbewegung nicht unterschätzen, wir dürfen uns nicht an ihren Wortlaut halten, sondern müssten ihren Geist werten. Jawohl, Genosse Frank, tun wir das! Die Sozialdemokratie antwortet dem Herrn von Bodmann auf seine Äußerung: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!“ Von einem Begreifen der Sozialdemokratie, ihres geschichtlichen Wesens ist nicht die Spur in der Äußerung zu finden. Sie ist ein ganz trivialer Ausspruch, wie ihn jeder beliebige „Aucharbeiterfreund“ schon hundertmal getan hat. („Sehr richtig!“) Wie sieht es nun mit der Behauptung aus, dass die Budgetabstimmung notwendig gewesen sei, um die Arbeitsgemeinschaft im badischen Parlament aufrechtzuerhalten? Wenn tatsächlich die Liberalen sich als arme Teufel in einer solchen Notlage befinden, wie es uns gezeigt worden ist – und sie befinden sich in ihr –‚ dann müssen sie aus politischem Selbsterhaltungstrieb unter dem Zwange der Situation im Lande und im Parlamente die Arbeitsgemeinschaft aufrechterhalten, ganz gleich, wie die Sozialdemokratie sich in der Budgetfrage stellt. („Sehr gut!“)

Ich gehöre zu den letzten, welche die Konzessionen und Reformen – auch der kleinsten Art – unterschätzen, wie sie unsere badischen Freunde errungen haben. Ich würdige sie hoch, und ich sage: Nur noch mehr davon, ihr könnt uns gar nicht genug bringen. Wir freuen uns des Eifers, den ihr bewiesen habt, um sie zu erzielen; wir begrüßen eure Erfolge, weil sie – so klein sie auch sein mögen – doch Tropfen sind, die das Elend des Proletariats lindern. Aber gerade darum fragt es sich: Welches ist der beste Weg, Konzessionen, Reformen zu erlangen? Sollen wir Reformen erschmeicheln durch parlamentarische Kompromisse, durch Bescheidenheit im Fordern, oder sollen wir sie erzwingen durch den Druck der Massen von außen? (Lebhaftes „Sehr gut!“) Mir scheint es, als ob unsere Parteifreunde in Baden über die Arbeitsgemeinschaft mit dem liberalen Block zu sehr die Kampfgemeinschaft mit der Gesamtheit der Partei und mit den Massen außerhalb des Landtags aus dem Auge verloren haben. („Sehr richtig!“) Genosse Frank hat gestern gesagt, dass wir Konzessionen erringen können, weil doch eine ganze Reihe von Übeln, unter denen das Proletariat leidet, nicht zum Wesen des Klassenstaats gehören; der Klassenstaat könne bestehen ohne Wucherzölle und ohne die Verweigerung der politischen Gleichberechtigung. Ganz recht! Aber wir haben auch diese Dinge nicht zu messen an einem abstrakten Begriff vom Wesen des Klassenstaats. Unser Maßstab ist die historische Situation, in der wir gegenwärtig stehen. Bei der gesamten geschichtlichen Entwicklung unserer wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse gehören heute in Deutschland Wucherzölle, gehört der hartnäckige Widerstand gegen die Forderungen nach Demokratie, gehört die ganze arbeiterfeindliche Politik untrennbar zu den Bestrebungen der herrschenden Klassen, ist sie der historisch bedingte Ausdruck ihres Wesens. Die reaktionären Erscheinungen sind zu unvermeidlichen Lebensäußerungen der Jetztzeit geworden. („Sehr richtig!“) Die Entwicklung der Parteien bestätigt das. Alle Parteien, die sich liberal und demokratisch nennen – ich begreife auch das Zentrum darunter –‚ steigern ja ihren Kampf gegen Wucherzölle, gegen indirekte Steuern, gegen die Verweigerung der politischen Rechtsgleichheit nicht, sondern wir sehen umgekehrt, dass auch die bürgerlichen liberalen Parteien immer mehr zu Trägern der gesamten reaktionären Wirtschaftspolitik, der reaktionären Allgemeinpolitik im Reich und in den Einzelstaaten werden. („Sehr richtig!“) Die Politik der Einzelstaaten vermag sich dieser Entwicklung nicht zu entziehen. Sie bestimmt nicht in entscheidenden Fragen die Politik des Reichs, sondern wird mit der fortschreitenden Entfaltung des Kapitalismus immer abhängiger von ihr.

Genosse Frank hat zum Schluss gemeint, wir sollten den „monarchischen Kundgebungen“ der Genossen keine zu große Wichtigkeit beimessen, denn die Monarchie habe eine verhältnismäßig untergeordnete Bedeutung für den Klassenkampf des Proletariats. Nicht die Institution hätten wir besonders zu bekämpfen, sondern der Persönlichkeit entgegenzutreten, die als Träger der Institution gelegentlich persönlich scharf, verhängnisvoll in das politische Getriebe eingreift. (Frank: „Gerade das Gegenteil habe ich gesagt!“) Nein, Sie haben wörtlich gesagt, was ich anführe. Wenn man dieser Ansicht ist, dann begreife ich allerdings nicht, wie man beim Leichenbegängnis gerade einem Monarchen eine Huldigung bringen konnte, der sich jederzeit als besonderer persönlicher Feind der Sozialdemokratie mit Ehrlichkeit bekannt hat. („Sehr gut!“) Wir bekämpfen in erster Linie die Institution der Monarchie, diese Institution ist in Deutschland keineswegs für den proletarischen Klassenkampf eine so belanglose mittelalterliche Festung, an der wir vorüberziehen können, ungehindert im Weitermarsch, wie Genosse Frank es dargestellt hat. Diese mittelalterliche Festung feiert im Rücken des vorüber ziehenden Proletariats nicht fröhliche, harmlose Feste; sie ist das stärkste Bollwerk, der stärkste Rückhalt der proletarierfeindlichen, reaktionären Politik aller herrschenden Klassen ohne Unterschied. (Lebhafte Zustimmung) Da sage man uns doch nicht, dass wir nicht nötig hätten, diese Institution mit aller Energie zu bekämpfen. In Deutschland fordern die Verhältnisse zu diesem Kampfe heraus, das aber mehr als je, wo die bürgerlichen Klassen auf die feigenblattlose Proklamation des Gottesgnadentums mit dem Rufe zur Sammlung gegen die Sozialdemokratie geantwortet haben. (Lebhafte Zustimmung) Die Monarchie in Deutschland hat sich noch immer offen als persönlicher Feind der Arbeiterklasse bekannt. („Sehr richtig“) Wie die Dinge liegen, wird, je länger, je mehr, auch der entschiedenste Kampf gegen diese „mittelalterliche Festung“ ein immer wichtigerer Teil des proletarischen Klassenkampfes überhaupt.

Es ist gesagt worden, dass es gilt, die Einheit der Partei aufrechtzuerhalten. („Sehr wahr“) Es gibt für die Sozialdemokratie in diesen ernsten Zeitläuften nichts Wichtigeres als die Aufrechterhaltung der organisatorischen Einheit und Geschlossenheit. („Bravo!“) Aber zur Entscheidung steht die Frage: Um welchen Preis, auf welchem Boden wollen wir die Geschlossenheit? Wollen wir sie durch einen Schritt nach rechts, auf dem Flugsand der Konzessionspolitik, der Konjunkturalpolitik mit Wenn und Aber, oder wollen wir sie auf dem festen Granit der prinzipiellen Auffassung, auf dem die Sozialdemokratie bis jetzt gestanden hat, auf dem sie noch steht und auf dem sie stehen muss, wenn sie bleiben will, was sie ist: der politische Ausdruck, die politische Organisation der kämpfenden, revolutionären Arbeiterklasse. (Stürmischer Beifall)

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Persönliche Bemerkung in der Budgetdebatte
(21. September 1910)


Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
abgehalten in Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910,
S. 333.


Ich habe nicht behauptet, dass die württembergische Landtagsfraktion diese Erklärung abgegeben hat; ich habe ausdrücklich gesagt, in der Tagwacht stehe, Genosse Hildenbrand habe erklärt: „Ihr könnt beschließen, was Ihr wollt, wir tun, was wir wollen.“ Hildenbrand muss sich also gegen die Tagwacht wenden und nicht gegen mich. Das Wort Landtagsfraktion habe ich überhaupt nicht in den Mund genommen.


Zuletzt aktualisiert am 20. Januar 2025