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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten zu Essen vom 15. bis 21. September 1907,Berlin 1907, S. 249–251.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften,Band I, S. 367–370.
Nicht identisch mit dem anderen Auszug im Marxist Internet Archive.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Ich möchte erst kurz die Auffassung des Genossen David zurückweisen, dass uns zwar das Recht der Kritik zusteht, dass wir aber den Reden unserer Reichstagsabgeordneten gegenüber nur in gemäßigtem Umfange von diesem Recht Gebrauch machen sollen. Bis jetzt hat gerade eine der hauptsächlichsten Aufgaben jedes Parteitags darin bestanden, auch an den Reden und Handlungen der Reichstagsfraktion ausgiebigste Kritik zu üben, und wenn wir von diesem Recht zur Kritik auch nur ein Titelchen preisgeben wollten, dann würden die Parteitage sehr bald auf das Niveau der Katholikentage herabgedrückt werden, die man in unserer Presse gerade wegen des Mangels jeder kritischen Diskussion als bloße agitatorische Schaustellungen bezeichnet. („Sehr richtig!“) Wenn es heißt, man solle nicht so unvorsichtig bei den Kritiken an der Reichstagsfraktion losschlagen, so können wir den guten Rat nur zurückgeben und die Mitglieder der Reichstagsfraktion auffordern, auch ihrerseits äußerst vorsichtig zu sein und keine Extratouren zu tanzen, bei denen nach der Meinung weiter Parteikreise weniger eine streng sozialistische als eine mild verbürgerlichte Melodie gegeigt wird. (Lebhafte Zustimmung) Die Missstimmung in weiten Kreisen richtet sich nicht bloß gegen das, was Noske gesagt hat. Sie ist viel mehr vor allem ausgelöst worden durch das, was bei der Behandlung der Militärangelegenheiten durch unsere Fraktion nicht gesagt oder wenigstens nicht stark genug betont worden ist. Große Parteikreise haben sich nicht der Empfindung entschlagen können, als ob die sozialdemokratische Kritik in der letzten Session weniger scharf und weniger frisch gewesen wäre als bei früheren Etatberatungen. Das wurde gerade unter den gegebenen Umständen besonders schmerzlich und peinlich empfunden. Warum denn? Die Januarwahlen lagen hinter uns, und in den Kreisen der Gegner wurde über die Niederlage der „Niedergerittenen“ triumphiert. Da hatten die Parteigenossen die Empfindung, es müsse besonders betont werden, dass wir nicht, dem Rate der bekannten guten Freunde in bürgerlichen Kreisen folgend, bürgerlich zivilisiert und bürgerlich verhöflicht zurückkämen, sondern dass wir unbeugsam und unversöhnlich an unseren grundsätzlichen Auffassungen festhielten, dass wir mit ganzer Schärfe unsere grundsätzlichen Auffassungen vertreten. („Sehr richtig!“) Die scharfe Betonung unserer grundsätzlichen Auffassung aber, das ist es, was wir in der Rede Noskes vermisst haben. Sie hat stark, allzu stark die nationale Solidarität betont. Sie hat dagegen mit keinem Worte ausgesprochen, dass es eine proletarische Klassenpartei gibt, die nicht vor den Grenzpfählen Halt macht. Wir wollen nichts verheimlichen, wir wollen keine Zweifel darüber lassen, dass zwischen unserem Patriotismus und dem Patriotismus der herrschenden Klassen nicht ein Unterschied des Grades, sondern ein Unterschied des Wesens besteht. (Lebhafte Zustimmung) Der Patriotismus der herrschenden Klassen ist konservativ, ist reaktionär; er hat nur ein Ziel: diesen Klassen das Vaterland als Domäne der Klassenausbeutung und Klassenherrschaft zu erhalten und diese Klassenausbeutung über die Landesgrenzen hinaus auf das Proletariat anderer Länder auszudehnen. Der Patriotismus des Proletariats ist dagegen revolutionär. Er geht von der Auffassung aus, dass das Vaterland erst im Kampfe gegen den inneren Feind, die bürgerliche Klassenherrschaft, erobert werden, dass es umgewälzt werden muss, um ein Vaterland für alle zu sein. Schauen wir dem ins Gesicht, was die bürgerliche Auffassung Vaterland nennt. Es ist der moderne bürgerliche Nationalstaat. Wir verkennen absolut nicht die wichtige historische Bedeutung, welche der moderne Nationalstaat auch für die Führung des proletarischen Klassenkampfes hat. Wir wissen ganz gut, dass der moderne Nationalstaat der Boden ist, auf dem das Proletariat seinen Klassenkampf führen muss. Wir vergessen aber auch nicht, dass der gegenwärtige Nationalstaat der kapitalistische Klassenstaat ist, der seine Vorteile und Segnungen in erster Linie den ausbeutenden, herrschenden Klassen vorbehält. (Beifall) Das Proletariat partizipiert an den materiellen und kulturellen Segnungen des nationalen Staates nicht, wie es ihm zukommt, aber sicherlich in steigendem Maße. Nur dürfen wir dabei das eine nicht übersehen: Das Proletariat erobert Zoll für Zoll, Schritt für Schritt das Vaterland im proletarischen Klassenkampfe. Es empfängt die nationalen Segnungen nicht kraft der mystischen Natur des Vaterlandes selbst und dank der vaterländischen Gesinnung der herrschenden Klassen, die ihre nationale Verwandtschaft mit dem Bruder Arbeiter entdecken, wenn sie seiner bedürfen. Nein, in dem Kampfe für das Vaterland, für den proletarischen Patriotismus gelten die Worte des alten Hildebrandsliedes: Mit dem Ger soll, muss das Proletariat die Gaben des Vaterlandes empfahlen, Spitze gen Spitze. Nur im Klassenkampf allein, wird ihm das Vaterland zuteil, das auch ihm teuer ist. (Beifall)
Von dieser Auffassung durchdrungen, bewerten wir auch die internationalen Krisen ganz anders als die bürgerlichen Klassen. Wir können gar nicht so blindlings als selbstverständlich die Versicherung abgeben, dass wir für den bürgerlichen Nationalstaat, für die Interessen der ausbeutenden Klassen die Flinte auf den Buckel nehmen und was wir im Falle eines Krieges unternehmen werden. Was wir tun und lassen, wird von den vorliegenden geschichtlichen Verhältnissen abhängen müssen. Der wichtigste Faktor aber, der für uns dabei ausschlaggebend ist, das ist die Kraft, die Reife des klassenbewussten, organisierten Proletariats. Sie werden wir mit aller Energie zur Geltung bringen, nicht wie es den Interessen der herrschenden Klassen angenehm und nützlich ist, nein, lediglich wie es den proletarischen Klasseninteressen dient. Wir werden uns auf kein Mittel als Alleinmittel einschwören, das wir einzig gebrauchen müssen, wir werden aber auch keinem einzigen abschwören, das wir gebrauchen können. Der internationale Kongress hat darüber keinen Zweifel gelassen. Er hat klar ausgesprochen, wie wir dem Militarismus gegenüber zu stehen haben. Wir haben ihn stets zu betrachten in seiner Zwiespältigkeit als Abwehrmittel gegen den äußeren Feind und als Herrschaftsmittel zur Bändigung und Knechtung des „inneren Feindes“. (Beifall) Wir haben ihm keine Konzession zu machen, sondern müssen beständig an seiner Überwindung arbeiten. Zwei Wege führen zu diesem Ziel, die wir beide gehen müssen. Der erste ist, dass wir unablässig an der Demokratisierung des stehenden Heeres arbeiten, in der Richtung zur allgemeinen Volksbewaffnung. Nicht, um das Vaterland wehrlos dem Feinde auszuliefern, nein, um das Vaterland wehrhaft zu machen. Der andere ist, dass wir den Militarismus von innen aushöhlen durch die Revolutionierung der Köpfe. Ein hoher Offizier soll gesagt haben, dass die Regierung keinen unpopulären, leichtfertigen Krieg mehr unternehmen könne, weil die Reserve durch und durch sozialistisch durchseucht sei. Wir müssen dafür sorgen, dass die proletarische Jungmannschaft so vom sozialistischen Geiste erfüllt in die Kaserne kommt, dass sie ihrerseits unbrauchbar wird zum Kampfe gegen den „äußeren Feind“. Zu diesem Zwecke müssen wir die Bestrebungen zur sozialistischen Bildung, zur Organisierung der proletarischen Jugend unterstützen, wir müssen darauf hinwirken, dass diese von zartester Kindheit an auch im Hause durch die Eltern im sozialistischen Geiste erzogen wird. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben aber sollen wir Frauen vorangehen. Wir müssen unseren ganzen Einfluss aufbieten, unsere Kinder als Klassenkämpfer, als Streiter für die Befreiung des Proletariats zu erziehen. Dann werden unsere Söhne auch im Waffenrock wissen, was sie zu tun haben. Und ich möchte den Staatsanwalt sehen, der Hunderttausenden von Frauen den Prozess wegen Hochverrats macht, wenn sie im Schatten des Heims ihre Kinder mit der heiligen Überzeugung erfüllen: Es gibt nur einen Feind, den wir alle hassen, und es gibt nur eure Freiheit, für die wir alle kämpfen und alle zu sterben bereit sind! (Stürmischer Beifall)
Zuletzt aktualisiert am 17. November 2024