Clara Zetkin

 

Der Parteitag zu Essen

Aus einem Artikel

(30. September 1907)


Die Gleichheit,Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 30. September 1907.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften,Band I, S. 371–375.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Die Verhandlungen des Parteitages zu Essen brachten klärende, befruchtende Auseinandersetzungen über wichtige strittige prinzipielle wie taktische Fragen. Manche Genossen wähnen die Einigkeit und Geschlossenheit der Partei durch jede solche Auseinandersetzung gefährdet. Besorgt bemühen sie sich, sie als „Wortklauberei“ abzuwehren und auch die sachlich tief begründeten Gegensätze der Meinungen mit begütigenden Redensarten und unklaren Begriffen zu überbrücken. Der Parteitag erwies sich unangekränkelt von dem ängstlichen Kleinmut der eigenen Kraft gegenüber, der sich zusammen mit einer gewissen Kurzsichtigkeit offenbart, die Ursachen und Folgen von sachlichen Unterschieden in der grundsätzlichen Auffassung nicht mit voller Schärfe zu werten, und der daher Gegensätze vertuschen und versöhnen will, die überwunden werden müssen.

Der Parteitag nahm kraftvoll und mit frischer Lebendigkeit den Kampf um die gegensätzlichen Meinungen auf die innerhalb der Partei betreffs ihrer Stellung zum Militarismus und zur Kolonialfrage zutage getreten sind. Und er hat ihn mit grundsätzlicher Schärfe und nicht ohne jene Leidenschaft durchgeführt, welche der natürliche Ausdruck durchdachter, starker Überzeugungen ist. Dass dabei auch mancher persönliche Pfeil hinüber und herüber geflogen ist, mögen die bejammern, welche übersehen, dass die Meinungen nicht als blutleere Abstraktionen durch die Geschichte geistern, sondern von Menschen getragen und verfochten werden, die um so fester mit den Ideen verwachsen, je tiefer die Glut ihrer Überzeugung ist, je hingebungsvoller sie sich in ihre Dienste stellen.

In der Debatte zur Frage des Militarismus kam es unzweideutig zum Ausdruck, dass die große Majorität des Parteitags die revolutionäre Auffassung rückhaltlos vertreten wissen will und jede Neigung zur Abschwächung und Trübung derselben zurückweist. Die Auseinandersetzungen über unsere Stellung zu ihm kreisten um die letzten sozialdemokratischen Reichstagsreden zum Militäretat, ganz besonders aber um Noskes bekannte Ausführungen. Nicht einmal Bebels Beredsamkeit gelang es, die Mehrzahl vom Standpunkt des „guten Geschmacks“ aus von der Harmlosigkeit dessen zu überzeugen, was diese Reden enthielten und nicht enthielten. Denn die Sozialdemokratie ist nicht ein Klub von Ästheten, deren Auftreten durch die Gesetze des „guten Geschmacks“ beherrscht wird, sie ist eine Partei von politischen Kämpfern, und grundsätzliche Auffassung wie politische Notwendigkeiten entscheiden über ihr Verhalten. Davon abgesehen, dass gerade auch bei Kraftlosigkeit und mangelnder Klarheit Ästhetik und guter Geschmack am allerletzten zu ihrem Rechte kommen und dass das kämpfende Proletariat statt „schön“ lächerlich wirkt, wenn es seine robusten Glieder in den Frack und die Schnallenschuhe der Diplomaten zwingt und es mit staatsmännelnden Gesten probiert. Dass der Klassengegensatz zwischen der herrschenden Minderheit und den beherrschten Massen einen Wesensunterschied in dem bedingt, was der einen wie den anderen als „patriotische“ Pflicht gilt, dass die Sozialdemokratie darum bei ihrer Beurteilung des Militarismus und internationaler Krisen nie Töne anschlagen darf; in denen bürgerliche „patriotische“ Klänge leise mitschwingen: das haben die Verhandlungen des Parteitags deutlichst gesagt und allen gesagt.

Gleich klar und entschieden scheint die Stellungnahme zur Frage der Kolonialpolitik. Denn es erhob sich nicht eine Stimme gegen den Beschluss des Internationalen Kongresses zu Stuttgart, welcher dem Imperialismus unserer Tage grundsätzlich den schärfsten Krieg kündet. Aber doch ist die Übereinstimmung nur eine scheinbare, und die Frage in ihrer weittragenden Totalität ist unseres Dafürhaltens noch nicht genügend aufgehellt. Die Verhandlungen erörterten hauptsächlich das Um und Auf des Zustandekommens der Stuttgarter Resolution. Sie rückten die Tatsache in helles Licht, dass der Entwurf der internationalen Kommissionsmehrheit, der zuerst die Zustimmung der Mehrzahl der deutschen Delegation gefunden hatte, in striktem Widerspruch steht zu der Resolution, welche der Parteitag von Mainz zur Frage der Weltpolitik gefasst hatte. Die deutsche Delegation des internationalen Kongresses ist mithin dem Standpunkt der Partei treu geblieben, als auch sie sich im Plenum in letzter Stunde für die Fassung entschied, welche die Minderheit den umkämpften Sätzen gegeben hatte. Jedoch mit dem allem ist nicht die Klärung der Frage gegeben, welche den wesentlichen Unterschied zwischen der Mehrheits- und Minderheitsresolution ausmachte, der Frage der „sozialistischen Kolonialpolitik“, die auch in David und anderen deutschen Genossen warme Befürworter gefunden hatte. Es geht nicht an, sie mit nonchalanter Handbewegung als „Zukunftsmusik“ abzuweisen. Entwicklungsgeschichtlich muss diese „Zukunftsmusik“ ein Gegenwartsvorspiel haben, und das heißt kapitalistische Kolonialpolitik. Geschichtliche Dinge haben ihre eigene Logik, die sich unbekümmert um das Wünschen und Wollen der Menschen durchsetzt. Welches sind die praktischen politischen Konsequenzen der Überzeugung, dass eine sozialistische Kolonialpolitik möglich, ja notwendig sei, und verträgt sich eine solche überhaupt mit unserer Grundauffassung von dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und Rassen und von der historischen Berechtigung aller Kulturstufen? Das sind die Fragen, die auf dem Grunde des Problems auftauchen und die der Antwort harren. Der Parteitag hat ihre Erörterung nur eingeleitet, die sich auswachsende Kolonialpolitik des krachenden Kapitalismus mit ihren Tendenzen und Anforderungen wird dafür sorgen, dass sie in Fluss bleibt. Die Partei besitzt bereits in Parvus’ Broschüre äußerst schätzenswertes Material zu ihrer Beurteilung, Kautskys angekündigte Schrift wird sicherlich ein weiterer wichtiger Beitrag zu ihr sein. An ein Abrüsten der Sozialdemokratie in ihrem Kampf gegen die preußisch-deutsche Weltmachtpolitik ist inzwischen nicht zu denken, einheitlich und geschlossen steht die Partei in diesem Kampfe zusammen. Das unterstrichen zu haben, ist einstweilen das positive Ergebnis der Essener Beratungen.

Jubelnde Zustimmung wird Bebels Referat über die Reichstagswahl und die politische Lage bei den Massen der sozialdemokratischen Parteigänger finden, wie es sie bereits auf dem Parteitag gefunden hat. Es war die Rede eines politischen Kämpfers, der auf dem festen Boden der materialistischen Geschichtsauffassung fußend, die Erscheinungen in ihrem Auf und Ab begreift und, seiner historischen Einsicht sicher, auch die Niederlage des Januar nicht höher einschätzt, als sie es verdient, weil er hinter ihr die treibenden Kräfte am Werke erblickt, die neue Kämpfe, aber auch neue Siege vorbereiten. Grundsätzlich scharf und bestimmt in der Tendenz, kampfesfroh und zukunftsgewiss in der Stimmung, wies sie die krittelnden Zweifler ab, die unter dem Eindruck des Wahlergebnisses zu einer Revision unserer Taktik drängten, brachte sie ein neuerliches starkes Bekenntnis zu den Grundsätzen der Dresdener Resolution ...

Die „Niedergerittenen“ leben, entschlossen, kraftgeschwellt wie je stehen sie auf dem Blachfelde der Geschichte, um im Kampfe gegen die ganze bürgerliche Gesellschaft dem Proletariat jene Welt zu erobern, in der es alles zu gewinnen und nichts zu verlieren hat als seine Ketten. Ihre erste große Musterung seit den Tagen der Niederlage hat es bewiesen.


Zuletzt aktualisiert am 17. November 2024