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Clara Zetkin, Die internationalen Frauentage zu Berlin, Die neue Zeit, 22. Jg., 2. Bd. (1904), H. 41, S. 452–459.
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Ein Rückblick auf die drei Tagungen bürgerlicher Frauenrechtlerinnen, welche vom 2. bis 18. Juni in Berlin stattgefunden haben, lassen vor allem eins hervortreten: den sehr starken äußeren Erfolg des Internationalen Frauenkongresses. [2] Dieser äußere Erfolg hat das Werk der Internationalen Frauenstimmrechtskonferenz und der Generalversammlung des Internationalen Frauenrats des Frauen-Welt wie vollständig in der öffentlichen Aufmerksamkeit verdunkelt. Und doch kann es sich an Bedeutung für die Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung kecklich neben die Leistungen des Internationalen Kongresses stellen, ja es dürfte in der und jener Hinsicht weittragender als diese sein.
Unbestritten, dass in dem geräusch- und glanzvollen Drum und Dran des Kongresses – in dem betäubenden Presstamtam; den Modewallfahrten von Priesterinnen und Sklavinnen der neuesten Sensation für Berlin nach den Sälen der Philharmonie; den offiziellen und privaten Empfängen frauenrechtlerischer Führerinnen seitens Gewaltiger von Gottes, Lukanus oder Kapitals Gnaden – zum Teil das größere Verständnis der bürgerlichen Welt für die Frauenfrage zum Ausdruck gelangt ist, die gestiegene Beachtung und Achtung, welche die frauenrechtlerischen Bestrebungen sich errungen haben. Aber doch nur zum Teil. In erster Linie ist es auf Rechnung der Art und Weise zu setzen, wie der Internationale Frauenkongress vorbereitet und in Szene gesetzt worden ist.
Von vornherein ist ihm von den frauenrechtlerischen Führerinnen der Charakter einer Schaustellung aufgeprägt worden, die offenbar bezweckte, den deutschen Philister in einen überwältigten Stauneknaben zu verwandeln. An Stelle tiefeindringender Beratungen über die verschiedenen Probleme der Frauenfrage wurde eine Revue von ca. 250 Vortragenden und offiziellen Diskussionsrednerinnen angesetzt, die an den sechs Sitzungstagen gleichsam im Eilmarsch redend und lesend an dem Publikum vorüberziehen sollten. Und auf diese Revue war die öffentliche Aufmerksamkeit seit Wochen durch eine marktschreierische Reklame gelenkt worden, welche weit weniger Interesse für die vertretenen Ideen, als die auftretenden und mitwirkenden Persönlichkeiten weckte. Was in dieser Beziehung von Seiten der Frauenrechtlerinnen begonnen wurde, das hat der kapitalistische Nachrichtengroßbetrieb mit seinem Heer zeilen- und photographiehungriger Schmocks vollendet. „Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!“
Bei dem allem die abstoßendste Spekulation mit dem Titel der Männer, mit der sozialen Position, kurz mit gesellschaftlichen Werten, welche nicht die Frucht persönlichen Verdienstes find, vielmehr im letzten Grunde die gesellschaftliche Quittung darüber, dass die Frau als 13 Persönlichkeit gleich Null gilt. Damen tauchten als Repräsentantinnen der deutschen Frauenbewegung auf, von deren Wirken für die frauenrechtlerischen Ziele weder die Sterne, noch die Heinzelmännchen zu erzählen wissen. Allerdings dürfen sie sich dafür des offenbar größeren Verdienstes rühmen, die Frauen ihrer betitelten Männer zu sein oder in Prunkräumen empfangen zu können, welche nicht vom Ertrag der eigenen Arbeit gebaut und ausgerüstet worden sind. Welch’ bittere Verhöhnung der frauenrechtlerischen Ideale!
Die Höflingsgänge zu den Empfängen der Kaiserin, des Reichskanzlers und Posadowskys haben die frauenrechtlerische Charakter- und Würdelosigkeit gekrönt. Die Führerinnen der nationalen Einzelverbände des Frauen-Weltbundes ließen sich von der Kaiserin in Audienz empfangen, obgleich männiglich bekannt, dass die auf dem Boden eng konfessioneller Orthodoxie stehende Fürstin jedem modernen geistigen Leben abhold ist und sich in der Geschichte der Frauenbewegung bis jetzt kein Plätzchen erworben hat. Sie verzichteten nicht auf den Empfang, obgleich dabei die bürgerliche Kanaille – die Präsidentinnen – hinter den edleren Nachfahren räubernder Ritterherrlichkeit – den adligen Vizepräsidentinnen – zurückstehen mussten. Sie dienerten in geziemender Ehrfurcht wohl auch vor dem Oberhofmeister der Kaiserin, Freiherrn von Mirbach, dem gottseligen und erfolgreichen Kirchenbaufondssammler bei Christen, Juden und Heiden, den gründlich versierten Geschäftsinteressenten der Pommernbank. Und das in den Tagen des Kontoskandals! Welch glänzende Probe auf das wieder und wieder vorgerechnete Exempel, dass die Frauenrechtlerinnen drauf und dran sind, mit echt demokratischer Gesinnung und unbeugsamer Charakterstärke das öffentliche, das politische Leben für die Herrschaft großer sittlicher Ideen zu erobern! Führerinnen der Bewegung, welche die staatsbürgerliche Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts erstrebt, ließen sich mit banalen Höflichkeitsphrasen von Trägern der Staatsgewalt bewirten, welche auch bescheidene Abschlagszahlungen auf das Ziel in schroffer Feindschaft abweist. In den Tagen des Kongresses fiel dank der Haltung der Regierung das Frauenwahlrecht zu den Kaufmannsgerichten. Aber nicht einmal dieser Faustschlag gegen das Recht des weiblichen Geschlechts und die Interessen vieler Zehntausende „ärmerer Schwestern“ peitschte das Bewusstsein der Pflicht wach, an Stelle des Protestes einzelner Weniger durch Worte den Protest des gesamten Kongresses durch die Tat zu Segen: durch die offizielle, scharf begründete Ablehnung der Ministereinladungen.
So gilt von dem äußeren Erfolg des Kongresses, dass ein Weniger mehr gewesen wäre. Von frauenrechtlerischer Seite mag man seine hässliche, unfeine Drum und Dran beklagen und die und jene führende Persönlichkeit als Sündenbock in die Wüste billiger Entrüstung jagen. Wir unsererseits dagegen verzeichnen es, gerade weil es nicht persönliches Verschulden und mehr als etwas Äußerliches und Zufälliges ist: der naturgemäße Ausdruck der Tatsache, dass die Frauenrechtlerinnen den Verfall der bürgerlichen Klassen, die Korruption der bürgerlichen Welt teilen. Was anderes denn hat sich in dem äußeren Kongressspektakel enthüllt, als charakteristische Züge der heutigen Bourgeoisie: ihr Sensations- und Reklamebedürfnis, ihre Anbetung äußerlicher Werte und Talmiwerte, ihre Protzenhaftigkeit des Parvenüs, ihre Bedientenhaftigkeit vor Königsthronen und Ministersesseln. Beweiskräftiger als theoretische Auseinandersetzungen haben Tatsachen gezeigt, dass – entgegen dem sentimentalen Gerede von dem geringeren Klassenegoismus der bürgerlichen Frauen – das Geschlecht und seine Rechtlosigkeit nicht gegen den Einfluss der Klassenlage sei. Die einzelne Frauenrechtlerin mag eine noch so vornehme Natur sein, sie mag vor der und jener Fäulniserscheinung unserer Tage ehrlich empört zurückschaudern und glühende Sehnsuchtswünsche für eine Ara sittlicher Reinheit und Größe gen Himmel senden: die bürgerliche Frauenrechtelei heult trotzdem mit den Wölfen der kapitalistischen Ordnung, weil ihre Trägerinnen Privilegierte dieser Ordnung sind und nicht grundsätzlich den Kampf gegen sie führen können.
Das bedeutsamste Ergebnis der drei internationalen frauenrechtlerischen Veranstaltungen ist sicherlich die Stellungnahme zur Frage des Frauenstimmrechtes. Sie ist ein erfreulicher Fortschritt. Aber freilich wird ihn die Frauenrechtelei mit dem Zerrinnen des künstlich genährten Traumes von der einen, ungeteilten Frauenbewegung bezahlen müssen. Das hat schon das Um und Auf der Tagungen in Erscheinung treten lassen, das hat die Behandlung der Stimmrechtsfrage auf ihnen klärlich erwiesen.
Ist es nicht auffällig, dass die nationalen Frauenstimmrechtsvereine eine besondere Frauenstimmrechtskonferenz einberiefen, deren Zweck die Gründung eines Weltbundes für Erringung des Frauenstimmrechtes war? Gewiss! Die genannten Organisationen sind nämlich dem Frauen-Weltbund angegliedert, und dieser hatte sowohl für die Generalversammlung seines leitenden Ausschusses wie für den allgemeinen Internationalen Kongress die Behandlung der Frauenstimmrechtsfrage vorgesehen. Um das Ob und Wie der Sonderveranstaltung entbrannte denn auch zwischen den „gemäßigten“ Vertreterinnen des Bundes in Deutschland und den „radikalen“ Führerinnen des deutschen Frauenstimmrechtsvereins ein erbaulicher Froschmäusekrieg. Im Verlauf desselben haben hüben wie drüben auch kleinliche Personenfragen eine verbitternde Rolle gespielt. Es sei nur an den Bann erinnert, den die Kongressleitung – zusammengesetzt aus Damen, welche gegen Bevormundung und für geistige Freiheit streiten! – über die Nummer der Zeitschriften Frauenbewegung und Frauenleben verhängte, welche über die Vorgeschichte der Frauenstimmrechtskonferenz berichtete, ein Bann, der auch die Broschüre von Else Lüders ereilte: Der linke Flügel.
Aber trotz allem haben doch die Auseinandersetzungen im frauenrechtlerischen Lager eine ernstere Grundlage als persönliches Gezänk. Es sind Meinungsunterschiede über die Taktik, die nicht willkürlich von Persönlichkeiten geschaffen werden, die vielmehr aus der Tatsache hervorwachsen, dass die bürgerliche Frauenwelt nicht nur durch eine unüberbrückbare Kluft von den Proletarierinnen geschieden ist, sondern in sich selbst tiefgehende wirtschaftliche und soziale Interessengegensätze aufweist. Nicht einmal die Frauen der bürgerlichen Intelligenz bilden eine homogene Masse mit gleichartigen Lebensinteressen, je nach den Umständen nähert sich ihre ökonomische und soziale Lage mehr derjenigen der oberen Zehntausend oder der des Kleinbürgertums, ja des Proletariats. Die praktische Bedeutung des Frauenstimmrechtes steht aber im umgekehrten Verhältnis zu der Größe des Besitzes und des sozialen Einflusses, den er verleiht. Sie ist am größten für die Frauen der besitzlosen Klasse, am geringsten für die Damenwelt der oberen Zehntausend. Daher die Gleichgültigkeit, welche diese fine fleur der kapitalistischen Ordnung im Allgemeinen für das Ringen um das politische Bürgerrecht des weiblichen Geschlechtes bekundet. Die angedeuteten Gegensätze der Interessen werden aber durch eins gesteigert. In den Zeitläuften des verschärften Klassenkampfes zwischen Proletariat und ausbeutenden Klassen bewerten auch die verschiedenen Frauenschichten – wie die politischen Parteien und die Regierungen – das Frauenstimmrecht mehr und mehr unter dem Gesichtswinkel seiner Einwirkung auf diesen Klassenkampf. Die gesamte bürgerliche Frauenbewegung mag in der grundsätzlichen Würdigung des Frauenstimmrechtes noch so einig sein: die aufgezeigte Sachlage muss in ihre tiefen taktischen Gegensätze zeitigen und vor allem bedingen, dass nicht die vielbesungene eine und einheitliche Frauenbewegung geschlossen in den Kampf für das Frauenwahlrecht eintritt, geschweige denn in den Kampf um seine vollkommenste Art: das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Frauenwahlrecht.
Die Geschichte des Frauen-Weltbundes, der 1893 in Chicago ins Leben trat, ist die Bestätigung der vorstehenden Auffassung. Für den Kampf um Frauenrechte hat diese Organisation – von deren 7 Millionen Mitgliedern soviel Aufhebens gemacht wurde – bis jetzt wenig mehr bedeutet als ein Potemkinsches Dorf. Ihre Gründung hatte eine Voraussetzung: den Verzicht auf frauenrechtlerische Ziele, damit Frauenvereine jeglicher Art „von Herzen“ für ihr anschließen und ihre Bestrebungen fördern konnten. Das Aktionsprogramm des Frauen-Weltbundes verpflichtete nicht zum Kampfe für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes, es rief lediglich zur Unterstützung der wolkenwandelnden bürgerlichen Friedensbewegung. Bescheidener und nichtssagender konnte es nicht sein. Aber freilich: bescheiden und nichtssagend musste es sein, sollte es in dem Weltbund die gesamten Organisationen zusammenschweißen, in denen Frauen zum Teil ernsten Lebensinhalt, die Befriedigung sozialen Pflichtbewusstseins suchen, zum Teil auch nichts weiter als eine modische Form des geschäftigen Müßigganges. Nach und nach sollten sie für die frauenrechtlerischen Bestrebungen gewonnen und mobilisiert werden. Bis zu einem gewissen Grad ist es den frauenrechtlerischen Führerinnen des Weltbundes auch gelungen, neuen Wein in die alten Schläuche zu füllen. Das bezeugen die Generalversammlung des Internationalen Frauenrats und der Internationale Frauenkongress. Beide Tagungen deuten jedoch schon darauf hin, dass früher oder später der neue Wein die alten Schläuche sprengen muss.
Die Generalversammlung des leitenden Ausschusses wies dem Weltbund zwei neue Aufgaben zu: die Bekämpfung des Mädchenhandels und das Eintreten für die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes. Die Organisation ist damit auf den Boden des frauenrechtlerischen Programms gestellt worden. Dass sie nicht untätig dort stehen bleibt, dafür soll eine Kommission sorgen, welche sich mit der Stimmrechtsfrage zu beschäftigen hat. Die einschlägigen Beschlüsse bedeuten einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung des Frauen-Weltbundes. Jedoch die feste Grundlage für die einheitliche, geschlossene Aktion der einen, ungeteilten Frauenbewegung schaffen sie nicht. Umgekehrt: sie tragen die Keime zur Zersplitterung der mühsam und notdürftig zusammengefassten Kräfte in sich. Sobald die dem Weltbund angegliederten Organisationen sich anschicken, für die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes auf den Plan zu treten: müssen den oben hervorgehobenen Interessengegensätzen entsprechend auch die schroffsten Meinungsunterschiede über Tempo, Umfang und Energie des Kampfes hervorbrechen, muss sich vor allem breit, das frauenrechtlerische Lager zerklüftend, die Frage nach der Art des Wahlrechtes in den Vordergrund schieben.
Der leitende Ausschuss des Bundes hat sich denn auch darauf beschränkt – beschränken müssen –, zur Frage des Stimmrechtes eine ganz allgemein gehaltene Prinzipienerklärung zu beschließen und nicht ein klipp und klar formuliertes Aktionsprogramm. Das Bemerkenswerteste aber an dieser Prinzipienerklärung ist, dass sie sich über die wichtigste Seite der Wahlrechtsfrage ausschweigt, nämlich darüber, ob das Wahlrecht beschränkt oder allgemein sein soll, ein Vorrecht für Damen oder ein Gemeingut für die Gesamtheit des weiblichen Geschlechtes. Zu dieser Seite der Frage musste aber vor allem Stellung genommen werden. Sie entscheidet darüber, ob das Frauenwahlrecht – unbeschadet seiner grundsätzlichen Bedeutung – reaktionär oder fortschrittlich wirkt, ob es lediglich die Herrschaftsstellung der Besitzenden stärkt und befestigt oder auch die Macht der Besitzlosen steigert. Der Bund tritt nicht für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für Frauen und Männer ein, sondern er fordert nur, dass „unter allen Regierungen, seien sie republikanisch oder monarchisch, alle politischen Rechte und Privilegien, welche den Männern zugebilligt werden, auch den Frauen zugebilligt werden.“ Er ruft also zum Kampfe gegen die Privilegien des männlichen Geschlechtes, wendet sich jedoch nicht gegen die politischen Privilegien der besitzenden Klassen. Das Bürgerrecht breiter Schichten proletarischer Frauen gibt er damit preis.
Gewiss: Frau Stritt, eine der Vizepräsidentinnen des Weltbundes, hat nachdrücklich erklärt, dass für sie nur ein Wahlrecht in Betracht kommen könne: das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für Männer und Frauen. In den Zeiten, wo sich das deutsche liberale Bürgertum in Hass und Kampf gegen das allgemeine Wahlrecht immer inniger dem Junkertum gesellt, ist diese Erklärung gewiss aller Ehren wert. Allein sie ist eine individuelle Meinungsäußerung, ohne bindende Kraft für die Arbeit des Weltbundes, ja sogar ohne kräftige Resonanz im frauenrechtlerischen Lager. Die Debatten des Internationalen Kongresses haben das bekräftigt. Sie schlossen nicht mit einer unzweideutigen Stellungnahme; die meisten Rednerinnen forderten das Frauenwahlrecht innerhalb der Grenzen des geltenden Männerwahlrechtes; besonders nachdrücklich wurde die Berechtigung des Wahlrechtes der steuerzahlenden Frauen betont; das allgemeine Wahlrecht fand nur wenige und noch weniger kraftvolle Verteidigerinnen. Dass die Sympathie der Frauenrechtlerinnen für das allgemeine Wahlrecht so ziemlich auf dem Gefrierpunkt steht, bekundete eine charakteristische Episode. Während der letzten Reichstagswahlen hatte Dr. Käte Schirmacher – eine „radikale“ Frauenrechtlerin, s’il vous plait! – in München auf das allgemeine Wahlrecht mit den Gründen der Manteuffel, Oldenburg und anderer Möchtegern-Rechtsräuber losgepaukt. Trotz wiederholter Aufforderung auf dem Kongress, ihre Stellung zur Wahlrechtsfrage zu präzisieren, hat die Dame es vermieden, sich unzweideutig für das allgemeine Wahlrecht zu erklären. Ihre schielenden Ausführungen fanden aber bei einem Teil des Kongresspublikums lebhafte Zustimmung.
Wie die Dinge geschichtlich für die bürgerliche Frauenbewegung liegen, war es bedingt, dass die Internationale Frauenstimmrechtskonferenz – das Kind der „radikalen“ Frauenrechtlerinnen – zur Wahlrechtsfrage genau die gleiche Stellung eingenommen hat, wie der „gemäßigte“ Weltbund. Auch sie hat es mit einer allgemein gehaltenen Prinzipienerklärung bewenden lassen, auch sie hat sich ängstlich davor gehütet, einen Beschluss über die Art des Wahlrechtes herbeizuführen und sich für das allgemeine Wahlrecht zu erklären. Ja mehr noch: nach den vorliegenden Berichten hat auch nicht eine „radikale“ Frauenrechtlerin ihre Stimme für das allgemeine Wahlrecht erhoben. Das ist besonders beachtenswert, weil gerade der „linke Flügel“ der deutschen Frauenrechtelei die Backen mit Sympathieversicherungen für die Arbeiterinnen gewaltig aufbläst. Nebenbei sei verzeichnet, dass die Prinzipienerklärung der Internationalen Frauenstimmrechtskonferenz von beschämender theoretischer Rückständigkeit ist. Sie trägt ebenso wenig den wichtigsten Erscheinungen des sozialen Lebens als den Fortschritten der Gesellschaftswissenschaften Rechnung. Zur Begründung des Frauenwahlrechtes lässt sie das alte ehrliche „Naturrecht“ an erster Stelle aufmarschieren. Wenn sie aus Urgrossmutters Schatzkästlein hervorgekramt wäre, sie könnte nicht anders lauten, als dies der Fall ist. Wie eigentümlich das im Jahre 1904 anmuten mag: es hat auch seinen inneren Grund. Die bürgerliche Frauenbewegung ist ihrem ganzen Wesen nach dem letzten Ausklang des bürgerlichen Emanzipationskampfes, und so greift sie lieber zu dem verrosteten Rüstzeug der Ideologien zurück, auf welche sich die Bourgeoisie vor mehr als hundert Jahren im Namen der spekulativen Philosophie berief, denn nach den neuen, scharfen Waffen, welche Nationalökonomie und Geschichte für den Klassenkampf des modernen Proletariats geschmiedet haben.
Die Internationale Frauenstimmrechtskonferenz hat zur Konstituierung eines internationalen Bundes der nationalen Stimmrechtsvereine geführt. Kein Zweifel wohl, dass die neue Organisation der bürgerlichen Frauenbewegung den Kampf um das Frauenwahlrecht wesentlich beeinflussen wird. Weniger vielleicht durch ihre eigenen Aktionen, als dadurch, dass sie innerhalb der gesamten Frauenrechtelei die Rolle des Gärungsbazillus spielt und die überklug zaudernden Elemente zu kräftigerem Aussehreiten antreibt. Der Weltbund für das Frauenstimmrecht erscheint geradezu als Bürgschaft und vorzügliches Vollzugsorgan für die Durchführung der einschlägigen Beschlüsse des weiterspannenden, aber bunt zusammengewürfelten allgemeinen Frauen-Weltbundes. Sicherlich ein Vollzugsorgan, das nicht ohne Reibungen mit den leitenden Instanzen der größeren Organisation funktionieren wird, dessen Tätigkeit aber ebenso gewiss Tempo und Kraft des frauenrechtlerischen Kampfes steigert. Je mehr aber die bürgerliche Frauenbewegung in diesem Kampfe aus dem Reich allgemeiner Prinzipienerklärungen auf den Boden positiver Forderungen tritt; je mehr es ihr gelingt, die bürgerlichen Frauen zur Anteilnahme am politischen Leben zu schulen; je erfolgreicher sie in ihrem Ringen um Recht und Macht ist: umso unvermeidlicher müssen auch die in der bürgerlichen Frauenwelt vorhandenen Interessengegensätze das Band der ideologischen Einheit sprengen. Von ihnen beherrscht, werden die verschiedenen bürgerlichen Frauenschichten nicht zu der einen geschlossenen Frauenbewegung zusammenschwenken, sondern Anschluss an die politischen Parteien gewinnen, welche ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen am wirksamsten vertreten. Dieser Entwicklungsgang fegt auch den letzten verhüllenden Nebel von der „Geschichte ewigen Muss“, dass das volle politische Bürgerrecht der Proletarierin nicht im gemeinsamen Kampfe der Frauen aller Klassen gegen die Männer aller Klassen errungen werden kann, dass es vielmehr die Frucht des gemeinsamen Kampfes der Frauen und Männer der ausgebeuteten Klassen gegen die Angehörigen der ausbeutenden Klassen ohne Unterschied des Geschlechtes ist.
Der Internationale Frauenkongress hat sich in seinen vier Sektionen – sie tagten nebeneinander und behandelten folgende Gebiete: Frauenbildung; Erwerbs⸗ und Berufstätigkeit der Frau; soziale Einrichtungen und Bestrebungen; die rechtliche Stellung des weiblichen Geschlechtes – und seinen öffentlichen Versammlungen mit einer erdrückenden Fülle von Einzelfragen befasst. Es ist buchstäblich „über alles und jedes und etliches mehr“ gesprochen und gelesen worden, von dem schwierigsten Problem, dem tiefsten Kern der Frauenfrage – dem Verhältnis zwischen Mutterschaft und geistiger Berufsarbeit – bis zu der belanglosesten Wohlfahrtseinrichtung, in deren Schilderung sich kleinliche Eitelkeit spreizte. Der Kongress sollte jedem etwas bringen, deshalb brachte er vieles und ließ die Beschränkung vermissen, in der sich der Meister zeigt. So konnten nicht einmal die weittragendsten, grundlegenden Fragen ihrer Bedeutung angemessen behandelt werden. Dies aber umso weniger, als die Kongressleitung von vornherein eine Diskussion unmöglich gemacht hatte, welche diesen Namen verdiente. Nicht genug damit, dass in den Sektionen jeder Punkt der Tagesordnung mit Referaten und Referatchen überladen war, erhielten offiziell angesetzte Diskussionsrednerinnen das Wort, welche nur in seltenen Fällen auf die Gedankengänge der Vorträge eingingen, vielmehr meist fix und fertige Ausführungen vorlasen. Um eine Diskussion in den öffentlichen Abendversammlungen fernzuhalten – wo sie besonders am Platze gewesen wäre, weil ihnen mehr ernste Zuhörerinnen als Sensationslüsterne beiwohnten –, hatte sich zur rechten Zeit ein Wort eingestellt: Gesundheitsrücksichten! Aus Gesundheitsrücksichten durfte laut Beschluss der Leitung hier nicht debattiert werden. Resolutionen und Anträge waren nirgends zur Beschlussfassung zugelassen.
Die Kongressverhandlungen haben infolgedessen nicht zu einer Vertiefung und Klärung umstrittener Probleme geführt, nicht zu einheitlicher Stellungnahme gegenüber dringenden Zeitaufgaben, die zum Ausgangspunkt einer in sich geschlossenen frauenrechtlerischen Aktion werden müsste. Es ist dies der hohe Preis, der für das krampfhafte Festhalten am Dogma von der einen Frauenbewegung gezahlt werden musste. Was weiter oben betreffs der Wahlrechtsfrage nachgewiesen wurde, das setzt sich auch für andere wichtige Reformforderungen durch, und zwar umso zwingender, je unmittelbarer und enger ihr Zusammenhang mit der sozialen Frage ist; je entscheidender sie in den Klassenkampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten eingreifen; je größer die Interessengegensätze sind, welche sie damit in der bürgerlichen Welt auslösen. Jeder Versuch, ihnen gegenüber zu einer scharf umgrenzten Stellungnahme zu gelangen, hätte den Kongress in Gruppen und Grüppchen spalten müssen.
In der Frage der gewerkschaftlichen Organisierung und des gesetzlichen Schutzes der Arbeiterinnen wie in der Sittlichkeitsfrage wurden so die gegensätzlichsten Auffassungen entwickelt. Die Vertreterinnen aller frauenrechtlerischen Richtungen hatten ihr Herz für die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterinnen entdeckt, im letzten Grunde aus dem bewussten oder unbewussten Wunsche heraus, die Gewerkschaftsbewegung werde den proletarischen Klassenkampf abschwächen oder gar ausschalten. Die einen aber werteten die Berufsorganisation als Mittel der Selbsthilfe der Arbeiterinnen zur Erzielung vorteilhafter Arbeitsbedingungen und kultureller Hebung; die anderen dagegen – und unter ihnen befanden sich die Delegierten des christlich-kapitalistisch geleiteten Heimarbeiterinnenvereins – priesen sie als Wohlfahrtseinrichtung, die zum sozialen Frieden führen solle. Die Forderung eines gesetzlichen Sonderschutzes der Arbeiterinnen fand zumal an Fräulein Simon und Fräulein van der Mey sachkundige und warme Verteidigerinnen. Allein es mangelte andererseits nicht an hartnäckigen Gegnerinnen, welche die alten Gemeinplätze des Manchestertums gegen den gesetzlichen Arbeiterschutz überhaupt ins beschränkte Frauenrechtlerische übertrugen. Für die Unmöglichkeit, die verschieden schillernden Meinungen in der Sittlichkeitsfrage unter einen Hut zu bringen, ist es bezeichnend, dass der Internationale Frauenrat nur die Frage des Mädchenhandels auf das Arbeitsprogramm des Weltbundes setzte. Im Verhältnis zu dem gesamten Problem ist das gleichbedeutend mit dem klugen Beginnen, den Ozean mit einem Löffel ausschöpfen zu wollen.
Jedennoch: man mag dem Verlauf und den Ergebnissen des Internationalen Frauentags noch so kritisch gegenüberstehen, als bedeutsames Zeitereignis muss man sie werten. Sie haben sinnenfällig auf den Umfang und die Tiefe der Revolution hingewiesen, welche sich dank gewandelter Produktionsverhältnisse in der wirtschaftlichen Tätigkeit, dem geistig-sittlichen Sein der Frau, in ihrer sozialen und rechtlichen Stellung vollzogen hat und unaufhaltsam weiter vollzieht. Zahlreiche und wertvolle Kräfte sind es – darüber kann kein Zweifel jein –, welche der veränderten Lebensbedingungen äußere und innere Not aus der früheren Gebundenheit löst und zur Mitarbeit, zum Mitkampf auf allen Gebieten ruft. Spurlos wird das Werk der drei frauenrechtlerischen Veranstaltungen nicht verwehen. Die innigere Fühlung, welche sie zwischen den frauenrechtlerischen Kämpferinnen, den organisierten bürgerlichen Frauen geschaffen haben; der reiche Schatz an Anregungen, den sie ihnen spendeten; die aufrüttelnde, propagandistische Wirkung, welche sie unstreitig auf weitere Kreise der bürgerlichen Welt ausübten; die fruchtbare, den Blick weitende Wirkung des internationalen Ideenaustausches: werden zu einem rascheren und kraftvolleren Vorwärts der bürgerlichen Frauenbewegung das ihre beitragen.
Diese Aussicht begrüßen auch wir. Nicht etwa, dass wir die „Vorarbeit“ über Gebühr schätzen, welche die bürgerliche Frauenbewegung durch ihren Kampf gegen manches böse soziale Vorurteil und für manche wertvolle soziale Reform für die Sozialdemokratie leistet. Neben diesem Verdienst – das niemand bestreiten wird – fällt die Tatsache schwer ins Gewicht, dass die Frauenrechtelei fast an Stelle jedes ausgerotteten Vorurteils ein neues sät, gegen welches das klassenbewusste Proletariat sich wehren muss. Denn sie will die kapitalistische Ordnung ja stützen, nicht stürzen, wie es das Ziel der sozialistischen Bewegung ist. Aber in anderer Beziehung wird dafür ihr Wirken für den proletarischen Klassenkampf umso bedeutsamer. Es zeigt Probleme auf, welche die kapitalistische Gesellschaft schafft, aber nicht zu lösen vermag. Es erweist die Ohnmacht der bürgerlichen Frauenbewegung und der gesamten bürgerlichen Welt, auch nur die soziale Befreiung des weiblichen Proletariats herbeizuführen, geschweige denn die volle menschliche Emanzipation der Frau überhaupt. Last not least: es beunruhigt, spaltet und schwächt die bürgerlichen Klassen, stärkt damit die Kraft des kämpfenden Proletariats und beschleunigt die Stunde seines Sieges.
1. Wegen Raummangels zurückgestellt.
2 Marie Stritt (Hrsg.), Der Internationale Frauen-Kongress in Berlin 1904. Bericht und ausgewählte Referate, Berlin: Verlag von Carl Habel, 1905, 619 S.
Zuletzt aktualisiert am 18. Januar 2025