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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 19. Oktober 1904.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 272–279.
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Bei den Verhandlungen der Frauenkonferenz über die Frage der Agitation haben fast alle Rednerinnen sowohl auf die Notwendigkeit wie auf Mittel und Wege hingewiesen, die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen kräftig zu fördern. Außer dem Austausch von Erfahrungen und Anregungen, die sich besonders auf die Werkstubenagitation, auf andere gewerkschaftliche Kleinarbeit und den Ausbau der Beschwerdekommissionen bezogen, zeitigte die Konferenz zwei einschlägige Beschlüsse.
Die von den Genossinnen geforderten Ermittlungen darüber, wie viele erwerbstätige Frauen, deren Männer organisiert sind, einer gewerkschaftlichen Organisation angehören, bedeuten unseres Erachtens vor allem einen Appell an das Pflichtgefühl der klassenbewussten Proletarier. Sie sollen daran erinnert werden, dass zwischen Theorie und Praxis, zwischen Überzeugung und Tun kein Widerspruch klaffen darf.
Wer einen Einblick in das kapitalistische Wirtschaftsgetriebe erlangt hat, wer in der Folge die Notwendigkeit klar erkennt, dass die Ausgebeuteten fest zusammengeschlossen im wirtschaftlichen Klassenkampfe gegen das Ausbeutertum um bessere Arbeitsbedingungen, um die Hebung ihrer Lage ringen müssen: der ist auch verpflichtet, betreffs der Beteiligung der Arbeiterinnen an der gewerkschaftlichen Organisation die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Es muss als eine schwere Unterlassungssünde empfunden und vermieden werden, dass ein Arbeiter sich selbst der Segnungen der Gewerkschaft erfreut und bemüht ist, seine Kameraden von ihnen zu überzeugen, aber nicht mit dem gleichen Ernst dafür wirkt, auch seine erwerbenden weiblichen Angehörigen ihrer Berufsorganisation zuzuführen und zu einsichtsvollen, pflichttreuen Gewerkschafterinnen zu erziehen. Die weiblichen Familienmitglieder, welche als Arbeiterinnen, als Ausgebeutete die Lasten und Härten des Ringens ums tägliche Brot mit dem Familienvater teilen, dürfen so wenig wie er des Schutzes durch die Macht der gewerkschaftlichen Organisation entbehren. Sie sind seine Leidensgefährtinnen im Joche des Kapitals, sie müssen in der Folge auch die Gefährtinnen seines Kampfes zur Zügelung der kapitalistischen Profitgier sein, seine Mitarbeiterinnen am Werke, die Ausgebeuteten mit Kraft und Tüchtigkeit auszurüsten, die Ketten der kapitalistischen Ordnung zu sprengen und dem Proletariat eine Welt der Freiheit, edelsten Menschentums zu erobern. Wie dem englischen Sprichwort nach das Wohl tun, so müssen auch die Pflichten und Tugenden des guten Gewerkschafters, des guten Genossen zu Hause beginnen. In dieser Beziehung unablässig aufklärend zu wirken, die Erkenntnis der Arbeiter zu schärfen, auf die Umsetzung der Erkenntnis in die Tat zu dringen: das ist eine Verpflichtung, die den Genossinnen zufällt, welche für die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen tätig sind.
Daneben hat ihnen die Konferenz eine andere wichtige Aufgabe zugewiesen. Sie sollen überall, wo es möglich ist, in Verbindung mit dem Gewerkschaftskartell eine Kommission bilden, welche die Gewerkschaftsorganisation der Arbeiterinnen zu fördern hat. Was können, was müssen diese gewerkschaftlichen Agitationskommissionen der Genossinnen tun?
Es versteht sich am Rande, dass dieselben ihre Wirksamkeit nicht darin erschöpfen dürfen, hin und wieder die Veranstaltung einer Versammlung zu veranlassen, in der eine Referentin zu den Arbeiterinnen spricht, und die damit verknüpfte kleine praktische Arbeit zu leisten. Ihre Tätigkeit muss vielseitiger und tiefergehend sein. Den gewerkschaftlichen Agitationskommissionen der Genossinnen fällt es zu, sich durch Ermittlungen und Studium, durch regen und stetigen Verkehr mit den Arbeiterinnen, durch lebendige Anteilnahme an der Gewerkschaftsbewegung usw. genauen Einblick in die Arbeits- und Existenzbedingungen des weiblichen Lohnproletariats am Orte zu schaffen. Mittels des gesammelten und gesichteten einschlägigen Materials haben sie die Agitation jeder Art unter den Arbeiterinnen – sowohl diejenige durch öffentliche Versammlungen wie die Werkstuben- und Hausagitation – vorzubereiten und zu fördern. Sie müssen zu diesem Behuf das Material unter Umständen in Flugblättern oder kurzen Broschüren verarbeiten, müssen es, ebenso wie die Erfahrungen bei ihrem Wirken, in der Arbeiterpresse veröffentlichen. Sie bewirken damit, dass das aufklärende Wort, welches das Ohr, den Verstand der erwerbstätigen Proletarierin sucht, jederzeit voll aktuellen, persönlichen Lebens für diese ist, mit größerem Interesse vernommen, besser begriffen, williger beachtet wird als allgemeine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen.
Die Kommissionen haben ferner ihr Augenmerk darauf zu richten, dass die Agitation mit Ersparnis an Kräften und Mitteln, dass sie stetig und planmäßig betrieben wird. Wie oft wäre es nicht möglich, die vorübergehende Anwesenheit einer tüchtigen gewerkschaftlichen Agitatorin in einem Orte, in einem Bezirk der Aufklärung und Organisierung der verschiedenen Arbeiterinnenkategorien nutzbar zu machen. An Stelle einer Versammlung für die Arbeiterinnen eines Gewerbes allein kann eine allgemeine Arbeiterinnenversammlung treten, die Verlängerung des Aufenthaltes um einen Tag oder zwei vermag eine zweite Agitationsreise zu ersparen usw. Die Agitation darf vor allem unter einer Kategorie von Lohnsklavinnen nicht heute in Gestalt einer erfolgreichen öffentlichen Versammlung einsetzen, um vielleicht morgen schon wieder einzuschlafen. Was durch wohl vorbereitete öffentliche Agitation erreicht worden ist, das müssen die Genossinnen vielmehr geduldig und liebevoll in treuer Kleinarbeit hegen und pflegen. Es ist nicht damit allein schon getan, den Gewerkschaften weibliche Mitglieder zu gewinnen, es gilt, sie ihnen zu erhalten, sie zu guten Gewerkschafterinnen heranzubilden. Die Kommissionen müssen daher einen ununterbrochenen und lebendigen Verkehr mit den weiblichen Organisierten ihres Wohnorts unterhalten.
Zu diesem Zwecke haben sie sich besonders eifrig der Werkstuben- und Hausagitation zu widmen. Mehr noch als die Rückständigkeit im Denken und die Lebensgewohnheit hält die Überbürdung mit Arbeit die berufstätige Proletarierin vom regelmäßigen Besuch der Gewerkschaftsversammlungen ab. Die Genossinnen müssen in der Folge zumal die verheirateten Arbeiterinnen recht oft am häuslichen Herde aufsuchen, wenn die unter Mühen und Opfern geknüpften Verbindungsfäden zwischen ihnen und der Gewerkschaft nicht zerrissen, sondern gefestigt werden sollen. Sie haben die Gewerkschaftskartelle auf jeden Vorgang innerhalb der Arbeiterinnenkreise aufmerksam zu machen, welcher geeignet ist, als Ausgangs- und Stützpunkt der gewerkschaftlichen Agitation zu dienen, welcher das Eingreifen der Organisation in irgendeiner Beziehung fordert. Sie müssen die Kartelle veranlassen, sie in der gleichen Weise auf dem Laufenden zu halten, sie zu allen Werkstubenversammlungen heranzuziehen, bei denen die Beteiligung der Arbeiterinnen in Frage kommt. Empfehlenswert dürfte es sein, jedem Kommissionsmitglied einen festen Wirkungskreis unter den Arbeiterinnen eines bestimmten Gewerbes zuzuweisen und das auf Grund des Vertrautseins mit den betreffenden Arbeits- und Lebensbedingungen. Dadurch wird dreierlei erreicht: dass die gewerkschaftlich tätigen Genossinnen schneller und leichter das Vertrauen der Arbeiterinnen gewinnen, welche sie der Organisation zuführen wollen; dass sie in engere persönliche Fühlung zu ihnen treten und einen stärkeren, nachhaltigeren erzieherischen Einfluss auf sie auszuüben vermögen; endlich dass sie ihr Arbeitsgebiet immer besser bemeistern, es erweitern und zu größeren Aufgaben vorwärts schreiten können.
Bei ihrer Tätigkeit muss die Kommission besonders auch eines ins Auge fassen: die Heranbildung eines Stammes tüchtiger gewerkschaftlicher Agitatorinnen und Organisatorinnen aus der Arbeiterklasse. Die Umstände sind dem günstig. Einmal ist die Wirksamkeit der Kommission selbst ganz dazu angetan, ihren Mitgliedern als treffliche Schule zu dienen. Sie rüstet dieselben nicht bloß mit Sachkenntnis in Betreff der Arbeiterinnenlage und des Gewerkschaftslebens aus, verleiht ihnen nicht nur rednerische Gewandtheit und praktische Erfahrung, sondern erzieht sie auch zur richtigen Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, zum nüchternen Abwägen der Kräfte, zur zähen Geduld, zum stillen Opfermut, kurz, sie entwickelt all die Charaktereigenschaften, deren die gewerkschaftliche Agitatorin und Organisatorin in hervorragendem Maße neben der Fähigkeit bedarf, überzeugen, begeistern zu können. Dann aber bietet die Arbeit der Kommission reiche Gelegenheit, fähige und charaktervolle Arbeiterinnen kennen zu lernen, sie anzuspornen, ihre Entwicklung zu fördern, sie aus Lernenden zu Lehrenden heranzubilden, die ihrerseits für die gewerkschaftliche Organisierung ihrer Arbeitsschwestern wirken. Die Beschränkung der Kommissionstätigkeit auf einen bestimmten Ort, ihr steter, systematischer Charakter, das regelmäßige Zusammenarbeiten mit dem Kartell sind der agitatorischen und organisatorischen Schulung der Frauen sehr förderlich.
Die Genossinnen dürfen für die Gründung und das Werk der örtlichen Agitationskommissionen sicherlich auf tatkräftige Förderung seitens der Gewerkschaftskartelle rechnen. Das Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands richtet in Nr. 39 an dieselben eine eindringliche Mahnung, die sich mit dem Beschluss der Frauenkonferenz deckt. Die an statistischem Material und Anregungen reiche Arbeit über Die deutschen Gewerkschaftskartelle im Jahre 1903 stellt fest, dass nur in 15 Kartellorten gewerkschaftliche Frauenagitationskommissionen bestanden. und die Zahl der Bericht erstattenden Kartelle betrug 387! 15 und 387, diese beiden Zahlen zeigen zum Greifen deutlich den unendlich großen Abstand, der zwischen der Beteiligung der Arbeiter und der Arbeiterinnen an der Gewerkschaftsorganisation besteht, lassen aber auch scharf erkennen, von welchem geringen Umfange noch die gewerkschaftliche Mitarbeit der Genossinnen ist. Im Laufe des letzten Jahres wurden in sieben Orten Frauenagitationskommissionen gegründet, nämlich in Ansbach, Charlottenburg, Dresden, Hamburg, Offenbach am Main, Pinneberg und Solingen. Aber der Zahl der Neugründungen steht die gleiche Verlustzahl gegenüber, für Bremen, Emmendingen, Gießen, Mylau, Reichenbach, Schwabach und Unna ist keine solche Kommission mehr verzeichnet. Der genannte Artikel erklärt dann auch:
„Lässt die agitatorische Tätigkeit der Kartelle im Allgemeinen vieles zu wünschen übrig, so geschieht ganz besonders in Bezug auf die Agitation unter den Frauen viel zu wenig. In den Gewerkschaften wird der Frauenagitation immer mehr Aufmerksamkeit zugewendet, und die Gewerkschaftsstatistik weist für 1904 die erfreuliche Tatsache einer Zunahme von 12.448 weiblichen Mitgliedern nach. Die Gewerkschaftskartelle könnten aber nach dieser Richtung sehr wesentliche Dienste leisten, wenn sie sich die Einsetzung von weiblichen Agitationskommissionen mehr als bisher angelegen sein ließen.“
Wir sind überzeugt, dass diese begrüßenswerte Aufforderung nicht ungehört verhallt, vielmehr den Genossinnen beträchtlich erleichtert, den Beschluss der Frauenkonferenz zur Durchführung zu bringen. Es bedeutet für ihre einschlägigen Bestrebungen eine wertvolle moralische Unterstützung, die in praktische Förderung umschlagen muss, dass auf die vorliegende dringliche Aufgabe die Generalkommission hinweist, die jederzeit mit ebensoviel Eifer als Verständnis, durch Rat und Tat für die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen eingetreten ist.
Gewiss: Gewerkschaftliche Frauenagitationskommissionen lassen sich nicht überall nach Belieben aus dem Boden stampfen. Ihre Gründung und gesunde Entwicklung hat nicht nur die nötige Einsicht, das tatkräftige Wollen der Gewerkschaftskartelle zur Voraussetzung, sondern auch das Vorhandensein eines Stammes geschulter, eifriger Genossinnen, welche die Wichtigkeit und die Natur der vorliegenden Pflichten begreifen. Die Liste der Bericht erstattenden Gewerkschaftskartelle weist jedoch eine stattliche Anzahl von Orten auf, wo die Frauenbewegung über die ersten Anfänge hinaus ist und genügend Kräfte entfaltet hat, welche den Aufgaben der Agitationskommissionen gewachsen sind. Sicher, dass diese Körperschaften nicht von Anfang an als fertige Mustergebilde in Erscheinung treten und wirken werden. Auch für ihre Tätigkeit gilt, dass sie arbeitend, auf Grund der praktischen Erfahrungen sich entwickeln und zu reifer Leistungsfähigkeit gelangen müssen. Aber wenn zu dem Verständnis der Genossinnen für die Bedeutung und die Ziele der Kommissionen, wenn zu ihrer Arbeitsfreudigkeit die überlegene agitatorische und organisatorische Erfahrung der Gewerkschaften tritt, so kann eine kraftvolle, erfreuliche Entwicklung und Wirksamkeit der Frauenagitationskommissionen nicht ausbleiben. Ungesäumt und mit aller Energie darum ans Werk, Genossinnen, um auch diese Form der gewerkschaftlichen Mitarbeit eurerseits den Interessen der Arbeiterinnen, dem proletarischen Befreiungskampf dienstbar zu machen. Nicht ein einziger Weg darf unbeschritten bleiben, welcher dem Ziele zuführt, die Millionen lohnfrondender Proletarierinnen dem Heere des klassenbewusst vorwärts
Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024